Ressourcenorientierte Sprachförderung

Für Kinder mit Flucht- und Migrationshintergrund

Inhalt: Der Erwerb einer neuen Sprache gelingt umso besser, je mehr dies an bedeutsame Situationen geknüpft ist, je mehr die Sprachlernsituationen in motivierende Kontexte eingebunden sind. Dies gilt insbesondere für Kinder mit Flucht- und Migrationshintergrund. Über Bewegung fällt es ihnen leichter, mit anderen Kindern zu kommunizieren und sich mitzuteilen. So üben sie sich im Spiel im Kontakt mit den anderen und können Erfahrungen von Dazugehörigkeit und Anerkennung machen.


Hasim ist ein fünfjähriger Junge, der nach der Flucht mit seiner Familie seit zwei Wochen in der Kita ist. Er beteiligt sich kaum am Spiel der anderen, steht oft am Rande und schaut den anderen zu. Beim freien Spiel darf sich jeder ein Spielgerät aussuchen. Hasim will immer einen Ball, einen ganz bestimmten, immer denselben, den er aus mehreren Bällen heraussucht. Manchmal hält er den Ball nur fest an den Körper gepresst, dann beginnt er aber damit zu spielen, dribbelt ihn und rollt ihn mit einem Fuß über den Boden, wirft ihn hoch und fängt ihn rückwärts wieder auf. Hasim spricht nicht, nicht mit den anderen Kindern, auch nicht mit der Erzieherin. Aber als sie ihn fragt, welches Spielgerät er denn gerne haben will sagt er leise „Ball“. Einmal fragt ihn die Erzieherin, wie denn Ball auf Arabisch heißt. „Kurat“ antwortet Hasim und sein Gesicht hellt sich auf, als sie „Kurat“ wiederholt. „Ball heißt Kurat, stimmt das?“ fragt sie und seine Augen leuchten, als sie sich einen Ball nimmt und ihm zurollt. Er kickt ihn mit dem Fuß zurück und es entwickelt sich ein Bewegungsdialog zwischen beiden. Sie werfen sich den Ball zu, dabei bezieht die Erzieherin immer wieder Sprache ein: „Jetzt hast Du aber hoch geworfen“.


Doppelte Sprachlosigkeit?!

Kinder, die ihre Heimat, ihr vertrautes Umfeld verlassen müssen und sich eine neue Umgebung ein-gewöhnen, in der die Menschen nicht ihre Sprache sprechen, reagieren oft mit „Sprachlosigkeit“ (1). Bei Kindern mit Fluchthintergrund scheint es eine „doppelte Sprachlosigkeit“ zu sein. Die Erlebnisse und belastenden Fluchterfahrungen haben sie sprachlos gemacht. Sie können nicht in Worten ausdrücken, was sie bedrückt. Sprachlos erscheinen sie auch, weil sie die deutsche Sprache (noch) nicht beherrschen und sich nicht an verbalen Gesprächen beteiligen.

Zugänge zum Kind und zur Sprache finden

Wichtig ist es zunächst einmal, zu diesen Kindern einen Zugang zu finden, Situationen zu schaffen, in denen sie sich angenommen fühlen und sich zumindest zeitweise öffnen. Oft hilft ein Objekt, welches das Interesse der Kinder weckt, mit dem sie sich ggf. auch zunächst alleine beschäftigen können. So kann ein Ball aktivierend und integrierend wirken und dazu beitragen, Sprachbarrieren abzubauen. Er gibt der pädagogischen Fachkraft auch die Chance, sich unaufdringlich und einfühlsam als Spielpartnerin oder -partner anzubieten, den Kontakt mit dem Kind anzubahnen.

Auf die Ressourcen des Kindes schauen

In handlungsorientierten Situationen wird es auch möglich, den Blick auf die Ressourcen des Kindes zu richten und zu erfahren, woran das Kind Interesse hat, was seine Aufmerksamkeit weckt. Oft ist es leichter, Kinder über bewegungsorientierte und körperbezogene Aktivitäten in das Spielgeschehen einzubinden. Die verbale Sprache bleibt dabei zunächst nebensächlich. Die gemeinsamen Erleb-nisse und Erfahrungen sind eine gute Basis für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung.

Sprechfreude auf der Basis von Beziehungen

Für den Erwerb der Sprache stellt die Freude am Sprechen, am Austausch und an der Kommunikation eine wesentliche Voraussetzung dar. Im besonderen Maße gilt das für den Erwerb einer anderen als der Familiensprache. Diese Freude entwickeln Kinder vor allem dann, wenn sie Vertrauen zu neu-en Bezugspersonen aufbauen konnten und sich in der neuen Umgebung wohl fühlen.

Im sozialen Kontext, im Austausch mit anderen Kindern oder Erwachsenen entfalten Kinder ihr Sprachpotenzial. Sie entwickeln es in Handlungszusammenhängen, die ihnen selbst wichtig erscheinen, die ihre eigenen Interessen berühren. Neben dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum Kind ist es immer auch Aufgabe der pädagogischen Fachkraft, die Interaktionen zwischen den Kindern zu unterstützen.

Sprache und Bewegung

Bewegung ist ein Medium, über das sich Kinder mit Flucht- und Migrationshintergrund ausdrücken können, in dem sie häufig Sicherheit finden. Das entwicklungsfördernde Potenzial von Bewegung (2) kann sich auch bei den Kindern mit Flucht- und Migrationshintergrund positiv auf die Sprachentwicklung auswirken. Dabei beruht die sprachfördernde Wirkung auf den vielen Sprechanlässen, die sich beim gemeinsamen Spiel ergeben, beim Bauen und Konstruieren, beim Aushandeln von Rollen und Regeln, im spontanen, spielerischen Umgang mit der eigenen Stimme, bei Rollen- und Symbolspielen.

Sprachfördermöglichkeiten in Bewegung

Konkret können viele Bereiche der Sprachentwicklung in Bewegungssituationen einbezogen werden. So fordert ein Ball zunächst mal zum spielerischen Handeln alleine oder mit anderen auf. Über das Rollen, Werfen, Fangen, Schießen des Balls werden Bewegungsverben im Handeln erfahren. Grammatikalische Regeln werden nebenbei aufgenommen und prägen sich ein: Ich werfe den Ball, du wirfst den Ball zurück, der Ball wird gerollt – aktive und passive Formen, Verbflexionen und Artikelgebrauch. So wird die deutsche Grammatik beiläufig erfahren und in der alltäglichen Anwendung geübt. Vor allem aber ist der Ball ein Medium der Kommunikation, der Beziehungsaufnahme. Er schafft Anlässe zum Sprechen, das gemeinsame Spiel kommt aber gleichermaßen auch ohne aktive verbale Sprache aus.

Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen

Bewegung gibt Kindern mit Fluchterfahrungen die Möglichkeit, (wieder) aktiv zu werden, selber etwas zu machen, sich nicht hilflos äußeren Kräften aus-geliefert zu fühlen, sondern wieder selbst auf die Welt zugehen zu können. Das Spüren der körperlichen Kräfte kann auch zur psychischen Stabilisierung beitragen. Das ist ein erster Schritt – im wahrsten Sinne des Wortes – um das Vertrauen in die Fähigkeit zur Bewältigung der neuen Lebenssituation zu finden.

Ein Kind sollte nicht zum Sprechen aufgefordert werden – aber es kann zum Sprechen verlockt werden. Auch Sprachlernen gelingt besser in einer emotional positiv geprägten Situation: „Sprache kann sich beim Kind (...) nur dort entwickeln, wo ihm zwischenmenschliche Beziehungen das Terrain für Handlungs- und Interaktionserfahrungen bieten“ (3).

Literatur

(1) Zimmer, R. (2017). Über den Körper zur Sprache kommen. In B. Lamm (Hrsg.) Handbuch Interkulturelle Kompetenz (S. 197-207). Freiburg: Herder
(2) Zimmer, R. (2016). Handbuch Sprache und Bewegung. Freiburg: Herder
(3) Bauer, J. (2006). Warum fühle ich was du fühlst? München: Heyne.



Hinweis:


Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.

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