Ein Überblick zur Erforschung der frühkindlichen Bildung und Entwicklung

 



Aktueller Hinweis: Aufgrund einer veränderten Förderung des Landes Niedersachsen (siehe auch hier: nifbe in der Zukunftsdebatte) werden die Forschungsstellen des nifbe ab dem 01.01.2016 nicht mehr weiter geführt. Ihre Themen und Ergebnisse werden zum Teil im neu geschaffenen Koordinations- und Transferzentrum des nifbe weiter bearbeitet und vermittelt. Im Laufes des Jahres 2016 entsteht desweiteren ein Forschungszentrum in der Universität Osnabrück und ein Neuer Forschungsverbund für Frühkindliche Bildung nimmt seine Arbeit auf.



Die Sichtweise auf die ersten Lebensjahre des menschlichen Lebenslaufs hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch und rapide verändert. Eine Entwicklungsphase, als deren Hauptaufgabe bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts das Überleben angesehen wurde, wird heute als das größte Laboratorium der menschlichen Entwicklung betrachtet. Interdisziplinäre Erkenntnisse verschiedener Disziplinen wie z. B. Psychologie, Ethologie, Neurowissenschaften und Biologie haben die Sichtweisen verändert und neue methodologische Zugangsweisen in Szene gesetzt.


Untrennbare Verknüpfung von Biologie und Umwelt

 

Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Gehirn unreif, nur die Basisfunktionen sind ausgebildet. So spricht der Hirnforscher Wolf Singer von einem „dramatischen Sprung”, der sich in der Wiege ereigne. Die Sinnesorgane beginnen, Signale wie Berührungen, Sprache, Geräusche, Farben und Formen aus der Umwelt aufzunehmen – erst diese Erfahrungen stoßen die Vernetzung im Gehirn an. Von den bei der Geburt angelegten 100 Milliarden Nervenzellen bleiben schließlich diejenigen erhalten, die durch Übung und Erfahrung aktiviert werden. Biologie und Umwelt sind also untrennbar miteinander verknüpft und definieren gemeinsam Entwicklung als das größte Projekt des Lebens.

 

Das wesentliche Werkzeug der Entwicklung ist die in offenen genetischen Programmen verankerte Disposition zum Lernen, d.h. zum Aufnehmen und Verarbeiten von Informationen. Angeborene Neugier und Erkundungsbereitschaft bilden die Basis für die Exploration der sozialen und materialen Umwelt. Das Kind ist von Geburt an fähig zur Bildung von Theorien, die es durch das eigene Handeln überprüft, verwirft, bestätigt, modifiziert. Lernprozesse laufen selbst initiiert, selbst organisiert und erfahrungsabhängig ab. Entwicklung kann also als ein biologisch fundierter Prozess der aktiven Konstruktion und Ko-Konstruktion von Wissen und Kompetenzen aufgefasst werden.

 

Hohe Entwicklungsgeschwindigkeit

 

Die Entwicklungsgeschwindigkeit ist in den ersten Lebensjahren am größten im Vergleich zur gesamten Lebensspanne, so dass in kurzer Zeit sehr viele Informationen aufgenommen, verarbeitet und mit der Zeit zu einer Matrix verdrahtet werden, die die Grundlage für informiertes Handeln bildet. Man kann davon ausgehen, dass ein Mensch von der Geburt bis zum Alter von vier Jahren 50 Prozent von seiner reifen Intelligenz entwickelt und zwischen vier und acht Jahren noch weitere 30 Prozent dazu kommen. Das verdeutlicht die Entwicklungsgeschwindigkeit der ersten Lebensjahre. Die Umwelt hat in dieser Zeit des schnellsten Wachstums einen maximalen Einfluss auf die Entwicklung. Entwicklung ist somit kontextuell situiert. Der Kontext aus soziodemographischen sowie kulturellen Mustern und Prozessen definiert Lerninhalte und Lernstile.

 

Besondere Bedeutung der frühen Erfahrungen

 

Die Dynamik der frühkindlichen Entwicklung zeigt sich weiterhin darin, dass die frühen Erfahrungen eine besondere Bedeutung für den weiteren Entwicklungsverlauf haben. Sie legen den Grundstein, der weitere Lernprozesse und Entwicklungsmuster kanalisiert. Die menschliche Plastizität (neuronale Vernetzung) ermöglicht zwar, neue Informationen zu jedem Zeitpunkt aufzunehmen und Verhalten und Erleben zu modifizieren, allerdings ist das Aufnehmen und Verarbeiten bestimmter Informationen zu bestimmten Zeitpunkten leichter als zu anderen. Anders ausgedrückt: die Aufnahme und Verarbeitung neuer Informationen wird immer schwieriger mit dem Lebensverlauf. Die frühe Entwicklung hat also vorhersagbare und bedeutsame Auswirkungen auf die gesamte weitere Entwicklungs– und Lerngeschichte.

 

Frühkindliche Entwicklung kann als „Selbstbildung“ aufgefasst werden, die geprägt ist durch die aktive sinnliche Aneignung der Welt, die eingebettet ist in soziale Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt. Entwicklungsförderung bedeutet in diesem Zusammenhang, das Selbstbildungspotential der Kinder zu unterstützen und herauszuformen sowie durch anregende Begleitung durch den Erwachsenen das Interesse an der Welt wach zu halten und ihrer forschenden Neugier entgegen zu kommen. Bildung bedeutet demnach Persönlichkeitsentwicklung und deren Förderung durch die Bereitstellung von kontextuell situierten Lernumgebungen.

 

Potentiale ausschöpfen

 

Zunehmend viele Kinder in Deutschland haben beim Eintritt in die Schule ihr schulrelevantes Entwicklungspotential nicht ausreichend entwickelt. Am Beispiel des Erwerbs von Lesen, Schreiben und Rechnen haben empirische Bildungsforscher in jüngerer Zeit gezeigt, dass defizitäre individuelle Entwicklungsstände bei der Einschulung zu ungünstigen und oftmals kaum mehr korrigierbaren Defiziten bei der schulischen Leistungsentwicklung führen. Darüber hinaus haben wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Zeit deutlich gemacht, dass das Potential an Begabungen von der frühen Kindheit bis zum Ende der allgemein bildenden Schulen bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Krisensymptome bei Schülerinnen und Schülern in der Schule zeigen dies ebenso wie die im internationalen Vergleich in Deutschland geringe Zahl der geförderten Hochbegabten.

 

Im Niedersächsischen Institut für Bildung und Entwicklung sollen Entwicklung und Lernen in einem holistischen Prozess systematisch aufeinander bezogen werden, um damit Bildungsprozesse in ihrem dynamischen Verlauf zu verstehen. Deshalb muss die Moderation der Übergänge innerhalb des Bildungsprozesses mit berücksichtigt werden, nicht zuletzt zur Sicherung der Nachhaltigkeit der vorangegangen Entwicklungs- und Bildungsprozesse. In diesem Sinne liegen die Arbeitsschwerpunkte der Forschungsstellen innerhalb des nifbe sowohl im Bereich der frühkindlichen Bildung und Entwicklung als auch im Bereich der Begabungsförderung in Grundschule und weiterführender Schule.

 

 

Forschungsstellen des nifbe: