Karsten Herrmann im Interview mit Susanne Viernickel


Die 1960 geborene Susanne Viernickel ist eine der Pionierinnen der frühkindlichen Bildung und kindheitspädagogischen Studiengänge in Deutschland – u.a. mit Stationen an Hochschulen in Koblenz-Remagen und Berlin sowie an der Universität Leipzig. Zum 01.04.2024 wurde sie jetzt in den (Un-) Ruhestand verabschiedet. Im Interview mit Karsten Herrmann spricht sie über ihre zentralen beruflichen Stationen und Forschungsthemen und blickt auf die rasante Entwicklung der frühkindlichen Bildung in den vergangenen 30 Jahren zurück und auch in die Zukunft.


  • Susanne, kannst du mir zu Beginn unseres Gesprächs einige Blitzlichter aus deiner Kindheit und Jugend geben? Hat sich da vielleicht schon ein Bezug zu deiner späteren Profession abgezeichnet?

19 Susanne Viernickel privatIch bin eine richtige Berliner Göre und im Westteil der Stadt aufgewachsen. Geboren bin ich ein Jahr vor der Errichtung der Berliner Mauer und wir haben erst in Lichtenrade und später in Lankwitz gewohnt, also eher in den Außenbezirken. Ich bin relativ behütet, aber in eher einfacheren Verhältnissen aufgewachsen, wobei meine Eltern schon sehr bildungsorientiert waren. So bin ich nach der Grundschule auch zum Gymnasium gegangen und ich war eine sehr gute Schülerin, weil Lernen mir schon immer leichtgefallen ist. Ich habe dann auch ein sehr gutes Abi gemacht und alle haben eigentlich erwartet, dass ich Jura oder Medizin studiere. Ich hatte aber kein Interesse an diesen Fächern und auch keine Lust, diese Erwartungen zu erfüllen. Also habe ich an der FU in Berlin Erziehungswissenschaften studiert, wozu ich auch deshalb motiviert war, weil ich ab 14 Jahren viel Babysitting gemacht habe. Ich interessierte mich dafür, wie Kinder aufwachsen und ich wollte auch etwas für Menschen bewirken, da war ich etwas idealistisch.

  • Du hast beim Studium der Erziehungswissenschaften auch schon den Schwerpunkt Kindheitspädagogik gehabt, oder? Warst du damit damals eine Exotin?

Als ich 1980 angefangen habe zu studieren, gab es diesen Schwerpunkt noch gar nicht. Der Studiengang war eher ambitionslos, es wurde unglaublich viel diskutiert und die Leistungsnachweise waren wirklich sehr, sehr leicht - da hab ich mich zu wenig gefordert gefühlt. Ich war wirklich drauf und dran das Studium abzubrechen, aber dann kam Kuno Beller an die FU und etablierte die Kleinstkind-Pädagogik. Da habe ich dann mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter sehr viel gemacht und gleich gemerkt, dass dies in Verbindung mit der Entwicklungspsychologie genau mein Interesse war.

Ich wurde schon bald studentische Hilfskraft bei Kuno Beller und wir durften richtig aktiv an Forschungsprojekten mitwirken. Er hat uns sehr viel Freiraum gelassen, aber auch sehr viel Verantwortung aufgebürdet, so dass wir damals alle über die Maßen gearbeitet haben - sowas wäre heute war gar nicht denkbar.

  • Du hast schließlich 1988 dein Diplom gemacht und warst noch drei Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin von Kuno Beller in dem Projekt „Konflikt und Kooperation bei ein- bis vierjährigen Kindern.“ Dann hast du zwei Kinder bekommen und bist mit deinem Mann zusammen für drei Jahre in die USA gegangen, wo du u.a. am National Institute of Child Health and Human Development in Bethesda und auch an deiner Promotion gearbeitet hast. Als ihr wieder zurück in Berlin ward, bist du wieder an die FU zurück gegangen, auch wenn Kuno Beller nicht mehr da war.

Ja, als ich an die FU zurückkam, war Wolfgang Tietze neuer Lehrstuhlinhaber und wurde mein Chef. Er hat mir ein Jahr Zeit gegeben, meine Promotion zum Thema „Geteilte Bedeutungen in Peer-Interaktionen von Kindern im zweiten Lebensjahr“ abzuschließen, um dann über die Mitarbeit in Projekten zu sprechen. Ich habe mich sehr reingehängt und nach Abschluss der Promotion tatsächlich eine C1-Stelle und eine Verbeamtung auf Zeit bekommen. Das war die Zeit der Nationalen Qualitätsinitiative mit dem Ziel das System KiTa bundesweit besser zu machen und ich wurde stellvertretende Projektleitung – das war für mich sehr aufregend und prägend und mit unheimlich viel Arbeit verbunden! Wir haben in dem Projekt den Nationalen Kriterienkatalog und das begleitende Handbuch entwickelt. Eigentlich wollte ich in dieser Zeit auch über das Thema „Rolle und Funktion von Leitungskräften in einem Change-Management- bzw. Organisations-Entwicklungsprozess“ habilitieren, habe das neben der Projektarbeit aber einfach nicht geschafft.

  • Und plötzlich waren die magischen sechs Jahre des Wissenschaftszeitgesetzes um und du musstest dich entscheiden, wie es weiter geht…

Ja, in dieser Phase war ich noch sehr unentschieden, ob ich überhaupt in der Wissenschaft bleiben oder doch in die Praxis gehen wollte und ich habe mich in dieser Zeit sehr viel beworben, u.a. auch für Fachberatungs-Stellen. Dann habe ich aber tatsächlich einen Ruf nach Koblenz am Standort Remagen bekommen, wo ich zusammen mit Ralf Haderlein und Stefan Sell unter ungeheurem Zeitdruck den neuen berufsbegleitenden Studiengang „Bildungs- und Sozialmanagement mit Schwerpunkt Frühe Kindheit“ aufgebaut habe. Ich hatte dort sehr viel Lehre und habe auch einige Module verantwortet und Studienbücher geschrieben.

  • Da ist dann die Forschung wahrscheinlich ein bisschen in den Hintergrund getreten, oder?

Nein, eigentlich nicht, denn ich habe in dieser Zeit im Rahmen der BASF Offensive Bildung ein großes Projekt zur Beobachtung und Erziehungspartnerschaft eingeworben und durchgeführt. Es war ein Transferprojekt mit begleitender Evaluation, in dem wir die Bildungs- und Lerngeschichten angewendet und ganz praktisch geschaut haben, wie man Teams auf dem Weg zu einem darauf basierenden Bildungskonzept begleiten kann. Das Projekt lief über mehrere Jahre und war auch sehr gut finanziell ausgestattet. Später hatte ich in der Offensive Bildung noch ein weiteres Projekt, nämlich „1,2,3 – Die Jüngsten im Blick“ zur Bildung und Betreuung von Kindern unter 3 Jahren in Kitas - das war ja gerade in West-Deutschland alles noch ganz neu und es gab großen Fortbildungs- und Beratungsbedarf.
Etwa zur gleichen Zeit kam das Projekt „Profis in Kitas“ von der Robert Bosch Stiftung und da waren wir mit der Hochschule Koblenz auch dabei. In diesem Rahmen habe ich das Projekt „KiTa-Fachtexte“ aufgebaut, die heute von Fröbel, der Alice Salomon Hochschule und nifbe weiter herausgegeben werden.

  • In dieser Zeit ist auch deine Familie nach Köln umgezogen, aber bald ging es schon wieder zurück nach Berlin. Warum?

Ja, ich war letztlich nur 3 Semester in Koblenz-Remagen, da sich mir dann die Chance auf eine Professur an der ASH in Berlin ergab. Ich hatte mich da schon zeitgleich mit Koblenz auf eine Professur beworben und war auf dem zweiten Platz gelandet. Aber die Erstplatzierte ging überraschenderweise schon wieder nach einem halben Jahr von der ASH weg und die damalige Studiengangsleiterin Hilde von Balluseck hat mir die Stelle dann quasi ohne neues Berufungsverfahren angeboten. Und für mich und die Familie war schnell klar, dass wir zurück in unsere Heimatstadt wollten.

  • An der ASH begann ja eine lange Ära für dich und die ganze Szene war ja durch die neuen Studiengänge auch in Aufbruchstimmung, oder?

Ja, zu der Zeit gab es einen Riesen-Aufschwung für die Frühkindliche Bildung und die ASH hat viele neue Professor:innen-Stellen geschaffen – Iris Nentwig-Gesemann war schon da und es kamen andere Kolleginnen wie Rahel Dreyer, Anja Voss oder Corinna Schmude dazu. Wir haben uns angesichts des massiven quantitativen Ausbaus der KiTas stark für Qualität eingesetzt.
Zusammen mit Iris habe ich so auch das von der GEW und anderen Förderern unterstützte Projekt „Schlüssel zu guter Bildung“ durchgeführt. Die leitende Fragestellung war, was die Rahmenbedingungen für gute Bildung sind und unter welchen Bedingungen die überall entstehenden Bildungs- und Orientierungspläne der Länder überhaupt ihren Mehrwert entfalten können.

  • Wie würdest du aus heutiger Sicht die Bedeutung der kindheitspädagogischen Studiengänge für die Entwicklung der frühkindlichen Bildung und einer neuen Profession bewerten?

Ich würde ihnen eine große Bedeutung beimessen und bin auch ein absoluter Fan der Akademisierung. Es ging dabei ja auch um eine qualitative Aufwertung der pädagogischen Praxis – durch mehr wissenschaftliche Fundierung, aber insbesondere auch durch die stetige Reflexion der eigenen Praxis und durch das Entwickeln eines breiten Repertoires an Handlungsmöglichkeiten. Es ging aber natürlich auch um das Aufzeigen der Bildungspotenziale in der frühen Kindheit und grundsätzlich um die Aufwertung eines klassischen Frauen-Berufs. Die Etablierung der Studiengänge hat aber auch zu Verwerfungen geführt. So gab es durchaus sehr kritische Stimmen am Anfang und auch die Träger waren sehr unterschiedlich begeistert. Wir hatten am Anfang auch enorme Probleme, die Fachschulen überhaupt an die Seite zu bekommen und das war ja nicht zuletzt auch ein Grund, warum dann die BAG-BEK gegründet wurde – um aus beiden Perspektiven zusammen zu denken und zu arbeiten.

  • Kommen wir zurück zu deiner Zeit an der ASH – was waren da die prägenden Themen und Entwicklungen für dich?

Also neben dem Projekt „Schlüssel zu guter Bildung“ war das auf jeden Fall auch das „STEGE“-Projekt mit Anja Voss, in dem es um Strukturqualität und die Gesundheit von Erzieherinnen ging. Der Blick auf das Gesamtsystem KiTa und seine Strukturen in Kombination mit der pädagogischen Qualität war mir schon immer sehr wichtig und ich glaube, dass diese beiden Projekte schon einen hohen Impact hatten und zur ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.  s-Dynamik beigetragen haben. Das ging damals schon ein bisschen in Richtung des heute diskutierten Qualitätsentwicklungsgesetzes.

  • In der Zeit der ASH hast du dich darüber hinaus in einem Projekt aber auch noch mit dem konkreten kindlichen Wohlbefinden in der Krippe beschäftigt. Kannst du dazu noch etwas erzählen?

Ja, Berlin leistet sich bis heute eine eigene fachhochschulische Projektförderung und da haben Rahel Dreyer und ich ein Projekt zum kindlichen Wohlbefinden beantragt und auch bekommen. Es ging bei „StimtS“ um den Einfluss von Gruppenkonzepten auf Verhalten und Wohlbefinden junger Kinder in Kindertageseinrichtungen. Hierzu haben wir ein sehr ausdifferenziertes videobasiertes Beobachtungsinstrument für Krippenkinder entwickelt und angewendet. Mit einer insgesamt doch eher geringen Fördersumme haben wir da unheimlich viel erreicht und hatten ein tolles Team mit Kristin Stammer als wissenschaftlicher Mitarbeiterin und mehreren studentischen Mitarbeiterinnen.


  • Du warst an der ASH aber nicht nur Lehrende und Forschende, sondern auch drei Jahre Prorektorin und damit in der Administration. Was hat dir diese Zeit gegeben?

Diese drei Jahre waren für mich biografisch sehr wichtig. Da habe ich viel gelernt darüber, wie solche Institutionen ticken, wie man bestimmte Interessen durchsetzt und wie wichtig Netzwerke und Verbündete sind.

  • Konntest du in dieser Funktion an der ASH denn konkrete Innovationen durchsetzen?

Ja, wir haben damals ein großes Projekt für Innovation und Qualität bekommen und eine Stabsstelle für Themen wie innovative Lehr- und Lernformate, Partizipation von Studierenden und Qualitätsmanagement in die Struktur eingezogen. Die existiert bis heute.

  • Und dann hast du nach zehn Jahren ASH 2017 noch den Schritt an eine Universität gewagt…

Ja, es gab eine Ausschreibung an der Uni Leipzig und ich habe stark in mich gehorcht und die Chancen und Risiken abgewogen, mich noch einmal aus meiner Komfortzone zu bewegen. Die ausgeschriebene Stelle für die Pädagogik der frühen Kindheit passte letztlich perfekt auf mein Profil. Sie umfasste auch die Leitung eines neuen Masterstudiengangs zur Professionalisierung des frühkindlichen Bereichs. Eine tolle Chance sah ich auch in dem bundesweit ziemlich einmaligen Forschungs-Kindergarten von Fröbel auf dem Campus in Leipzig.
In Leipzig habe ich auch weiter zum kindlichen Wohlbefinden geforscht und die Frage verfolgt, wie es jungen Kindern gerade auch in der Krippe geht und wie pädagogische Fachkräfte das Wohlbefinden der Kinder unterstützen können. Damit hat sich auch ein bisschen ein Kreislauf geschlossen, denn die Peer-Interaktionen von Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr waren ja schon mein Promotionsthema. Mit der Förderung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung habe ich dann zusammen mit meinem Team eine beobachtungsbasierte Wohlbefindens- und Gefährdungsbeurteilung (WoGE) und in einem anderen Projekt ein Beobachtungsverfahren für die Eingewöhnungsphase (KiWiE) entwickelt und erprobt.
Ansonsten habe ich an der Uni Leipzig stark an der systemischen Professionalisierung des KiTa-Feldes als Profil für meinen Arbeitsbereich gearbeitet. Im Master-Studiengang geht es ja genau darum, Fachkräfte und Expert*innen auszubilden, die auf verschiedenen Ebenen des Systems Verantwortung übernehmen und dort die Professionalisierung vorantreiben. Ich halte es für wichtig, dass man nicht nur auf die Erzieher*innen und ihre Interaktionen und Kompetenzen schaut, sondern auf das gesamte System.

  • Das ist ein gutes Stichwort für meine nächste Frage: Wie würdest du die Entwicklung der frühkindlichen Bildung und der Professionalisierung des Systems KiTa in den vergangenen 30 Jahren einschätzen?

Es gab viel Aufbruch, Aufbruchstimmung, aber auch Rückschläge. Insgesamt ist aber viel erreicht worden und das finde ich richtig wertvoll und das sollte man auch nicht wegreden. Die Studiengänge sind da und das Berufsprofil Kindheitspädagogik, die kindheitspädagogischen Professuren sind da und die Forschung und das Monitoring haben sich sehr entwickelt. Auf der Transferebene gibt es ganz viele Institute, natürlich das Deutsche Jugendinstitut, das Bayrische Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz, das nifbe oder das Koblenzer IBEB und auch andere Bundesländer haben in den letzten Jahren nachgezogen.

  • Aber momentan ist allerorten von „Kitas am Limit“ oder gar dem „Kita-Kollaps“ die Rede. Wie schätzt du die aktuelle Situation ein?

Der eigentlich schon lang vorher absehbare Fachkräftemangel schlägt jetzt richtig durch und es greift eine starke Erschöpfung um sich. Wir haben aber schon 2013 von einem Umsetzungs-Dilemma der Fachkräfte gesprochen – diese waren und sind zum großen Teil angesichts der ungenügenden Rahmenbedingungen nicht in der Lage ihre eigenen Ansprüche und die der Bildungspläne und der ganzen Gesellschaft umzusetzen.
Das hat sich jetzt durch den aktuellen Fachkräftemangel nochmal massiv verstärkt und auch die Corona Pandemie wirkt auf verschiedenen Ebenen noch nach. Überhaupt befinden wir uns ja in einem generellen Krisenmodus mit den aktuellen Kriegen, den Flucht- und Migrationsbewegungen sowie der drohenden Klimakatastrophe.
Kitas müssen momentan nicht nur ihre qualitativen Ansprüche herunterfahren, sondern müssen Öffnungszeiten reduzieren und Gruppen oder sogar die ganze Einrichtung schließen. Die einzige Ad hoc-Lösung scheint da die Aufweichung der Fachkräftekataloge, mit der man aber der Deprofessionalisierung Tür und Tor öffnet. Ich sehe das echt mit großer Sorge.

  • Hat die Politik in den vergangenen Jahren versagt?

Ja, schon, sie hat nach dem Motto gehandelt: wasch mich, aber mach mich nicht nass, d.h. sie haben massiv den quantitativen Ausbau betrieben, aber die Qualität aus dem Blick verloren. Natürlich gab und gibt es Initiativen wie jetzt das Bundesqualitätsgesetz, aber das reicht nicht aus. Es fehlte und fehlt das Geld und der Wille, um grundlegend etwas am System zu ändern und die KiTa als Bildungseinrichtung zu etablieren. Dafür braucht es auch entsprechend ausfinanzierte professionelle Unterstützungsstrukturen wie z.B. die Fachberatung. Alles Mögliche wird über Sondervermögen finanziert, aber die Bildung eben nicht.

  • Bist du trotzdem noch optimistisch für die Entwicklung der frühkindlichen Bildung hierzulande?

Ich gehöre zu der Fraktion, die das Glas eher halb voll als halb leer sieht. Und wir haben wie gesagt auch schon vieles erreicht. Aber wenn wir das System jetzt nicht auf einem Niveau konsolidieren, auf dem es dann wirklich auch die Erwartungen und Ansprüche erfüllen kann, die an es gestellt werden, dann haben wir mittel- und langfristig ein echtes Problem. Dann drohen gesellschaftliche Rückschritte auch in der Erwerbsbeteiligung von Frauen und natürlich in der Chancengerechtigkeit – und das wird weiter Wasser auf die Mühlen der erstarkenden Rechten leiten.
In Ostdeutschland habe ich die Hoffnung, dass hier die Chance der demographischen Entwicklung genutzt wird. Durch die bald weniger benötigten Kita-Plätze können die Rahmenbedingungen und die Qualität verbessert werden. Wenn ich nur noch die Hälfte der Kinder habe, aber alle Fachkräfte behalte, dann habe ich auch im Osten auf einmal einen Schlüssel wie in Baden-Württemberg, oder jedenfalls einen deutlich besseren als bisher. Da könnte man in einem relativ kurzen Zeitraum einen Riesenschritt nach vorne gehen.
Generell glaube ich, dass es wichtiger denn je, dass wir unsere Stimme erheben und Druck auf die Politik entfalten. Jede Person im System KiTa muss an ihrer Stelle dafür etwas tun!

  • Machst du mit deinem Ruhestand ab April 2024 einen harten Schnitt und fängst an, das Leben nur noch abseits der frühkindlichen Bildung in vollen Zügen zu genießen?

Das weitere Jahr über habe ich auf jeden Fall noch zu tun, weil ich noch zwei Forschungs- bzw. Transferprojekte zu Ende führen werde. Wichtig ist mir hier, den Fachkräften in den KiTas konkrete und evaluierte Instrumente an die Hand zu geben, um das Wohlbefinden von Kindern beurteilen zu können. Und dann habe ich natürlich auch noch einige Masterarbeiten und auch Promotionen zu betreuen.
Ich werde schon kürzertreten, aber ich habe nicht vor, mich völlig aus dem Feld zurückzuziehen. Das Schöne ist ja, ich habe noch unglaublich viele Daten, die ich weiter auswerten und darüber schreiben kann. Aber ich bin dann flexibel und werde natürlich auch mehr reisen, mehr lesen, mehr Kultur und unsere kleine Datscha in Brandenburg genießen und der Familie mehr Zeit widmen können. Darauf freue ich mich sehr.


Das Interview ist in der Festschrift  "Facetten der Professionalisierung im System frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung" zur Verabschiedung Susanne Viernickels in den Ruhestand erstveröffentlicht worden. Die gesamte Festschrift ist hier online verfügbar