Wie inklusiv ist die Ausbildung? (Review)

Das Regelkind als Norm und die (historische) Herstellung von Behinderung

Die inklusive Bildung im Kindheits- und Jugendalter steht im Fokus der aktuellen Ausgabe (1-2017) des „DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  Kindheits- und Jugendforschung“. Neben grundsätzlicher Kritik an der durch die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtenden Umsetzung eines inklusiven und nicht mehr separierenden oder integrierenden Bildungssystems, wird derzeit auch allerorten der ungenügende Stand der Umsetzung z.B. in der Schule kritisiert. Erst jüngst konstatierte Brigitte Schumann anlässlich der nun endlich vorliegenden amtlichen Übersetzung der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 zum Recht auf inklusive Bildung „die erheblichen Diskrepanzen zwischen dem Menschenrechtsmodell der Vereinten Nationen und den Modellen, die in den Bundesländern bildungspolitisch als Inklusion ausgegeben werden“ (Deutschland braucht einen Neustart für Inklusion). Neben der grundsätzlichen Sensibilisierung und zielgerichteten Weiterbildung für das Konzept der Inklusion bei schon tätigen frühpädagogischen Fachkräften hängt dessen mittel- bis langfristige Realisierung insbesondere auch von der Ausbildung neuer pädagogischer Fachkräfte ab. Doch inwiefern schlägt sich das Konzept der Inklusion nun schon in den Ausbildungsrichtlinien und der Ausbildungspraxis nieder?


Diese Frage gehen Christin Haude und Sabrina Volk in der Studie „Diversity in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte“ nach. Sie untersuchten die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Ausbildungsangebote für frühpädagogische Fachkräfte dahingehend, „wie mit der Verschiedenheit von Kindern in den Ausbildungsstrukturen und –inhalten im historischen Verlauf umgegangen wird“ (ebd. S. 6) und ob „Diversity Education“ bzw. eine „Pädagogik für alle Kinder“ im Gegensatz zu Konzepten der Segregation und Integration hier schon Einzug gehalten hat. Im ernüchternden Ergebnis konstatieren die AutorInnen, dass das Konzept der Diversity Education „in Deutschland kaum systematisch in der Ausbildungslandschaft für frühpädagogische Fachkräfte integriert ist“ und dass vielmehr weiter ein „deutscher Sonderweg“ verfolgt und „einzelne Differenzen – modularisiert – in spezifischen Ausbildungspfaden aufgegriffen und hergestellt werden“ (ebd.). In diesem Sinne werde trotz der aktuellen Debatten und einem sich auch im „Qualifikationsprofil für ErzieherInnen“ (KMK 2011) Ausdruck verleihenden erweiterten Inklusionsverständnisses in der Ausbildungslandschaft „weiterhin eine Pädagogik für Menschen mit Behinderungen – ebenso wie für national-ethnische Zugehörigkeiten – getrennt von anderen Pädagogiken gelehrt“ (ebd.)

Historische Pfadanalyse: Regelkind als Norm

In einer „Pfadanalyse“ zeigt die Studie nun auf, wie die Konstruktion des Regelkindes unter gleichzeitiger Absonderung von Kindern mit Behinderung sich durchsetzte und fortan reproduzierte – von den Anfängen der Erzieherinnenausbildung im 18. bzw. 19. Jahrhundert mit ihrer Ausrichtung auf unbeaufsichtigte, verwahrloste bzw. arme Arbeiterkinder in Bewahr- und Hilfeeinrichtungen über die Einführung der Heilerziehungspflege in den 1930er und die Gestaltung der Lehrpläne ab den 1970ern bis heute. Auch wenn heute gerne von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen oder in besonderen Lebenslagen und –situationen gesprochen werde, stehe weiter die berufliche Vorbereitung auf den Umgang mit Kindern mit „special needs“ „in Abgrenzung zur Hauptzielgruppe des Regelkindes“ (ebd. S. 10) im Fokus. Dies gelte auch für die untersuchten Modulpläne frühpädagogischer Studiengänge.

Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma

Neben der historischen Herstellung des Regelkindes als Norm stellt sich den Autorinnen zufolge in der Gegenwart auch das sogenannte „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ auch als kontraproduktiv für den inklusiven Ansatz in der Ausbildung dar. Eine entsprechende Etikettierung als Finanzierungsvoraussetzung führe zu einer „Fokussierung auf die Differenzkategorie Gesundheit bzw. Behinderung und hemmt die Perspektive darauf, dass verschiedene Differenzen gleichzeitig bzw. interferierend wirken können (ebd. S. 14).

Um die so nach wie vor wirkenden Kategorisierungen nach „gesund“ und „behindert“ zu durchbrechen, ist nach Ansicht der Autorinnen „reflexive Ebene in die Gestaltung von Ausbildungsgängen einzuführen, die jenseits einer Modularisierung von Ausbildungsinhalten zur Inklusion liegt“ (ebd. S. 15).


Zur Ausgabe "Diskurs Kindheits- und Jugendforschung" (kostenpflichtig)