Die amtliche Übersetzung der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 zum Recht auf inklusive Bildung liegt endlich vor. Sie dokumentiert die erheblichen Diskrepanzen zwischen dem Menschenrechtsmodell der Vereinten Nationen und den Modellen, die in den Bundesländern bildungspolitisch als Inklusion ausgegeben werden.

 
Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) hatte am 2. 9. 2016 in Genf die Allgemeinen Bemerkungen zu Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention als Leitlinie für die Auslegung und Umsetzung von inklusiver Bildung in englischer Sprache vorgelegt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gab daraufhin eine Übersetzung in Auftrag, die eigentlich schon im ersten Quartal 2017 nach fachlicher Abstimmung mit der Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte für die Veröffentlichung vorgesehen war. Dass sie erst jetzt erscheint, hängt nach Auskunft der Pressestelle des BMAS u.a. damit zusammen, dass auch die KultusministerkonferenzKultusministerkonferenz|||||Die KMK  ist die ständige Konferenz der Länder in der BRD, wurde 1948 gegründet und ging aus der "Konferenz der deutschen Erziehungsminister" hervor. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der zuständigen Minister/Senatoren der Länder für Bildung, Erziehung und Forschung. Da nach dem Grundgesetzt und sog." Kulturhoheit der Länder" die Zuständigkeiten für das Bildungswesen bei den einzelnen Ländern liegt, behandelt die KMK Angelegenheiten von  überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer "gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, sowie der Vertretung gemeinsamer Anliegen".  (KMK) wegen ihres großen Interesses in den Abstimmungsprozess einbezogen wurde.
Die Allgemeinen Bemerkungen anerkennen

Die Allgemeinen Bemerkungen sind nicht rechtsverbindlich wie die Konvention, haben aber den Status eines international anerkannten, maßgeblichen Kommentars, an dessen Umsetzung Deutschland bei zukünftigen Staatenprüfungen durch den Genfer UN-Fachausschuss gemessen werden wird.


Inklusive Bildung ist "ein fundamentales Menschenrecht aller Lernenden"

Die Allgemeinen Bemerkungen beschreiben ausführlich und eindringlich den normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.en Inhalt von Artikel 24 und die damit verbundenen Staatenverpflichtungen. Daraus ergibt sich, dass für Deutschland als Vertragsstaat die Anerkennung und Einhaltung folgender Grundsätze von besonderer Relevanz sind:

Inklusive Bildung ist kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen, sondern „ein fundamentales Menschenrecht aller Lernenden“, auf der Basis von Nichtdiskriminierung, Nichtsegregation und Chancengleichheit zu lernen und in Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Menschenwürde gleichberechtigte soziale Teilhabe zu (er-)leben.

Inklusive Bildung ist das Recht des Kindes, dem sich die elterliche Verantwortung unterordnet. Ein Wahlrecht der Eltern auf Sonderbeschulung lässt sich daraus nicht ableiten.

Die Verwirklichung von inklusiver Bildung verlangt eine umfassende Veränderung aller Lernorte bezüglich ihrer Strukturen, Kulturen, Praktiken und Inhalte und eine angemessene Ausstattung mit Ressourcen, damit alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit dort erreicht, gefördert und wertgeschätzt werden können.

Die Vertragsstaaten werden aufgefordert, so zügig wie möglich die vollständige Realisierung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen zu erreichen. Die Unterhaltung von zwei Bildungssystemen, bestehend aus einem allgemeinen Bildungssystem und einem auf Segregation beruhenden Bildungssystem, ist damit nicht vereinbar.
Unabhängig von der schrittweisen Realisierung eines inklusiven Bildungssystems gilt das Recht des Kindes mit Behinderungen auf inklusive Bildung mit angemessenen Vorkehrungen als unmittelbar anwendbares Recht.

KMK-Beschlüsse revidieren

In ihren Beschlüssen hat die KMK den menschenrechtlichen Geltungsanspruch von inklusiver Bildung für alle Kinder und Jugendlichen bewusst ignoriert, weil sie die damit unvermeidbar verbundenen äußeren und inneren Strukturveränderungen zugunsten einer Schule für alle ablehnt. Stattdessen hat sie die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen zum alleinigen Bezugspunkt für schulische Inklusion erklärt. Ihre interessengeleitete Auslegung hat sie zusätzlich verfälscht, indem sie aus dem Recht des Kindes mit Behinderung auf inklusive Bildung ein Wunsch- und Wahlrecht seiner Eltern gemacht hat. Damit werden die Sonderschulstrukturen politisch legitimiert und weiterhin aufrechterhalten.

Folgenschwere Verfälschung beenden

Mit der bildungspolitischen Fixierung auf Kinder mit Behinderungen hat die Inklusion in Deutschland eine einseitige sonderpädagogische Ausrichtung erfahren. Die sonderpädagogische Diagnostik ist zum bundesweiten Treiber von Inklusionsquoten in allgemeinen Schulen und zum Stabilisator von Segregationsquoten in Sonderschulen geworden. Das bedeutet, dass Kinder mit Behinderungen weiterhin stigmatisiert und einer massiven institutionellen Diskriminierung ausgesetzt werden, obwohl die UN-BRK die Aussonderung wegen einer Behinderung untersagt.

Durch den Erhalt des sonderpädagogischen Doppelsystems bleiben einerseits Personalressourcen an den Betrieb der Sonderschulen gebunden und können nicht zur Unterstützung in die allgemeinen Schulen transferiert werden. Andererseits entstehen durch den Ausbau zusätzliche Personalbedarfe. Angesichts der bestehenden Unterfinanzierung des Schulsystems führt die finanzpolitische Verweigerung, die Förderung von Kindern mit Behinderungen in den allgemeinen Schulen in angemessenem Umfang zu unterstützen, zur Überforderung von Lehrkräften und zum Unterlaufen der hohen Qualitätsstandards, die die UN-Konvention gesetzt hat.

Überforderte Lehrerinnen und Lehrer der allgemeinen Schulen praktizieren unter unveränderten institutionellen und unzureichenden personellen Bedingungen in einem selektiven Schulsystem anstelle des diskriminierungsfreien gemeinsamen Lernens vielfach nur Formen der Segregation und Integration.

Neustart für Inklusion organisieren

Die Bundesregierung hat zwar die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet, aber die Umsetzung von inklusiver Bildung allein der KulturhoheitKulturhoheit|||||Als Kulturhoheit der Länder wird die vorrangige Zuständigkeit der deutschen Bundesländer bezeichnet, wenn es um Gesetzgebung, Verwaltung auf dem Gebiet der Kultur, also besonders auch  der Zuständigkeit für Schulwesen und  Bildung geht. Kulturhoheit der Länder bedeuted somit, dass die Bundesländer die primäre Zuständigkeit für Schulwesen und Bildung des eigenen Bundeslands inne haben (siehe auch Förderalismus-Prinzip).     der Länder überlassen. Diese Zuschauerrolle des Bundes hat eine uneinheitliche Entwicklung in den Ländern gefördert und wird der menschenrechtlichen Verpflichtung, die Deutschland mit dem Beitritt zur UN-BRK übernommen hat, nicht annähernd gerecht.

Im Rahmen eines koordinierten Vorgehens von Bund und Ländern müssen für einen gelingenden Neustart jetzt die Weichen gestellt werden. Dazu gehört, dass Bund und Länder das Menschenrechtsmodell von inklusiver Bildung anerkennen und zum Gegenstand einer nachhaltigen bewusstseinsbildenden Kampagne machen.

Parallel dazu sind die KMK-Beschlüsse auf der Grundlage der Allgemeinen Bemerkungen zu revidieren. Auch die gesetzlichen Regelungen und Vorgehensweisen in den Ländern müssen in Übereinstimmung mit den Allgemeinen Bemerkungen gebracht werden.

Schließlich ist die finanzielle Unterstützung des Bundes für die Inklusionsentwicklung in den Bundesländern und für ein länderübergreifendes, datenunterstütztes Monitoring für inklusive Bildung unabdingbar.


Dr. Brigitte Schumann
Quelle: www.bildungsklick.de