Kritisches Denken als Kompetenz der Zukunft

Brauchen Kinder bereits in der Kita kritisches Denken? Laut neuen wissenschaftlichen Erhebungen ja. Warum die Zukunftskompetenz schon vor Schulanfang gefördert werden sollte, beschreibt Prof. Dr. Wassilios E. Fthenakis.

Kritisches Denken hat in der psychologischen und pädagogischen Forschung eine lange Tradition. Sowohl Kognitionspsychologen als auch Philosophen haben sich damit beschäftigt. Während Kognitionspsychologen dazu neigen, den Schwerpunkt auf die Denkprozesse zu setzen, die kritisches Denken definieren, skizzieren die Philosophen die Eigenschaften, die kritisch Denkende charakterisieren. Trotz dieser Unterschiede sind sich beide Disziplinen darüber einig, dass sich kritisches Denken auf die Fähigkeit bezieht, den Inhalt einer Information, einer Behauptung oder eine eingenommene Position zu bewerten, um zu einer Schlussfolgerung zu kommen, was man davon glauben oder halten soll. Aktuell gewinnt die psychologische Forschungsrichtung mehr Aufmerksamkeit als die philosophische, vor allem in Bildungsdebatten, und verortet kritisches Denken als eine Zukunftskompetenz.

Dem psychologischen Ansatz liegen zwei unterschiedliche Perspektiven zugrunde: die konstruktivistische und die soziokulturelle, sozialkonstruktivistische Auslegung des Kompetenzbegriffs im Allgemeinen und die des kritischen Denkens insbesondere.
Eine entwicklungsgemäße Perspektive der Entwicklung baut auf konstruktivistischen Annahmen auf, wie sie etwa der Biologe Jean Piaget vertreten hat. Ihm zufolge kommt das Kind mit einer Lerndisposition auf die Welt, für deren Entfaltung das Explorieren der physischen und sozialen Umwelt erforderlich ist. Diese wird vom Kind initiiert und verantwortet. Lernen findet über Selbstbildungsprozesse statt. Entwicklung basiert auf aufeinander folgenden Stadien und kindliche Lernprozesse sollten dem erreichten Niveau entsprechen. Mit anderen Worten: Das Erreichen eines bestimmten Entwicklungsniveaus ist die Voraussetzung dafür, dass kindliches Lernen geschieht. Es wird heute aber noch vielmehr wird die Auffassung vertreten, dass kindliches Lernen die Entwicklung antreibt.

Dieser Theorie nach seien Kinder im Alter zwischen zwei und sieben Jahren egozentrisch organisiert und können kein logisches Denken entwickeln. Sie befassen sich mit dem Konkreten und Greifbaren. Kritisches Denken ist für sie zu abstrakt. Die Konsequenz ist, dass die Entwicklung und Stärkung kritischen Denkens bei Kindern im vorschulischen Alter nicht in Frage kommen. Diese Theorie lässt jedoch die zwischenmenschlichen Beziehungen und den Einfluss der sozialen und kulturellen Umgebung auf Entwicklung und Lernen außer Acht.

Die soziokulturelle Perspektive vertritt die Auffassung, dass Entwicklung und Lernen in den sozikulturellen Kontexten des Lernenden stattfinden. Wissen wird über zwischenmenschliche sowie über Interaktionen mit der physischen Umwelt generiert und über sie wird Sinn konstruiert. Lernen wird also als sozialer Prozess konzeptualisiert, eingebettet in konkreten sozialen und kulturellen Kontexten. Bereits der Psychologe Lev Vygotsky stellte fest, dass Lernen eine Vielzahl interner Entwicklungsprozesse auslöst, die nur dann ablaufen können, wenn das Kind mit Menschen in seiner Umgebung und in Zusammenarbeit mit Gleichaltrigen interagiert. Der Psychologe Jérôme Bruner behauptet, dass jedes Thema jedem Kind in jedem Entwicklungsstadium effektiv beigebracht werden kann.

Das Verständnis der Entwicklung kritischen Denkens hat sich während der letzten Jahre von einer angeborenen Fähigkeit immer mehr hin zu einer erlernbaren Kompetenz gewandelt. Der soziokulturellen Perspektive zufolge, kann kritisches Denken auch im vorschulischen Alter entwickelt und gestärkt werden, wenn der Lernprozess von Erwachsenen und anderen Kindern ko-konstruiert wird, das heißt in einen konkreten sozialen und kulturellen Kontext eingebettet und über Interaktionen und DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. e organisiert ist.

Was ist kritisches Denken?

Der Begriff des kritischen Denkens kommt aus dem Englischen Critical Thinking und wird ins Deutsche oft mit vernünftigem, reflektierendem Denken übersetzt. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts definierte der Pädagoge John Dewey in seinem Buch Demokratie und Erziehung kritisches Denken als sorgfältiges, reflektierendes Denken, bei dem der Einzelne aktiv über Fragen nachdenkt, die für sein eigenes Leben relevant sind. Das Modell des amerikanischen Psychologen Benjamin Bloom geht von sechs Fähigkeiten im kognitiven Bereich aus: Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse, Synthese und Bewertung. Die drei letzten werden als Bestandteil des kritischen Denkens betrachtet, da sie dem Einzelnen ermöglichen, Schlussfolgerungen zu ziehen, zu argumentieren und Urteile zu fällen.

Kreatives Denken, als integraler Bestandteil des kritischen Denkens, trägt dazu bei, Lösungen für Probleme zu finden. Kinder als kleine Forscher repräsentieren einen pädagogischen Ansatz, der davon ausgeht, dass Prozesse des kritischen Denkens in jedem Entwicklungsniveau des Kindes möglich sind. In diesem Sinne hat das Konzept auch in die Kitas Einzug gefunden. Eine Diskussion hat sich unter Forschern über die Frage entfacht, ob kritisches Denken eine allgemeine, in allen Bildungsbereichen anwendbare Kompetenz oder spezifisch für einzelne Lernbereiche sei. Diese Frage betrifft derzeit alle Kompetenzen. Speziell was kritisches Denken angeht, wird angenommen, dass ein gewisses Maß an Hintergrundwissen für kritisches Denken unabdingbar sei. Ein Mangel an inhaltlichen Bezügen behindert die Entwicklung des kritischen Denkens. Es ist jedoch noch offen, ob in einem Lernbereich entwickeltes kritisches Denken auch auf andere Lernbereiche, geschweige über den Kindergarten hinaus anwendbar ist.

Während die Formbarkeit des kritischen Denkens angenommen wird, bleibt die Kontextspezifität umstritten. Auch die Forschung zur Beantwortung der Frage, ob kritisches Denken die spätere Lernentwicklung beeinflusst, steckt noch in ihren Kinderschuhen.
Kritisches Denken und seine Bedeutung für die (Früh-)Pädagogik
Die Bedeutung des kritischen Denkens wurde auch im frühpädagogischen Bereich erkannt. Ideen wie Philosophieren mit Kindern, das Haus der kleinen Forscher, Metakognition und zur Reflexion kindlicher Lernprozesse beinhalten Elemente des kritischen Denkens. Es werden fünf Strategien vorgestellt, wie man kritisches Denken stärken kann:
  • Erweitere deine Perspektive und gib dich nicht nur mit einer Option zufrieden.
  • Sei proaktiv, nicht reaktiv.
  • Werteorientiertes Denken.
  • Mehr Sinn für Humor.
  • Vermeide kognitive Verzerrungen.
Insbesondere den letzten Punkt möchte ich den Leserinnen und Lesern aus der frühpädagogischen Praxis nahebringen. Und ich möchte dazu einladen, mit uns gemeinsam eine Entwicklung einzuleiten, erste didaktische Ansätze zur Stärkung kritischen Denkens zu entwickeln, diese uns zugänglich zu machen und mit uns gemeinsam deren Weiterentwicklung voranzubringen. So könnten wir, im kommenden Jahr, einen neuen Schwerpunkt bilden und diesen ko-konstruktiv gestalten.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
Meine Kita 04-2021, S. 6-8


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