Hilfe für traumatisierte Flüchtlingskinder in der KiTa
Kinder mit traumatischen Fluchterfahrungen brauchen oft besondere pädagogische Unterstützung. Traumapädagogin Julia Bialek erklärt, wie dies im Kita-Alltag umzusetzen ist.
Bassam ist fünf Jahre alt und lebt mit seiner Familie seit einem Jahr in Deutschland. Er wurde in Syrien geboren und erlebte schon in seinen ersten Lebensjahren Krieg, Verlust von nahen Verwandten und schließlich die Flucht aus seinem Heimatland, die sich insgesamt über einen Zeitraum von fast einem Jahr hinzog.
Der Start im Kindergarten vor sieben Monaten fiel ihm schwer. Er konnte kein Deutsch und wirkte sehr schüchtern. Nach einiger Zeit machte er sprachlich Fortschritte und schien gerne in den Kindergarten zu kommen. Sein Verhalten fordert aber sowohl die Kinder der Gruppe als auch die Fachkräfte immer wieder heraus. Er bekommt oft nicht richtig mit, was in der Gruppe passiert, wirkt wie erstarrt. In anderen Situationen provoziert er, zerstört die Spiele anderer Kinder, hält sich nicht an Regeln, die er eigentlich kennt und wird häufig von einer Sekunde auf die andere aggressiv. Dann verletzt er sogar andere Kinder und greift Erwachsene an.
Kinder wie Bassam haben die existentielle Erfahrung gemacht, nirgendwo sicher zu sein. Hinzu kommen Erlebnisse von Bedrohung, Verlust und Gewalt, die Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit noch lange verfolgen und sogar traumatisieren.
Was bedeutet Traumatisierung?
Traumatisierung bedeutet, dass im Gehirn eines Menschen eine Art Notfallprogramm aktiv wird, das die Steuerung übernimmt, um den Menschen vor weiteren Verletzungen und Grenzüberschreitungen zu schützen. Die daraus entstehenden Verhaltensweisen wie erhöhte Reizbarkeit, Angst und Aggressivität sollen verhindern, erneut einer Gefahrensituation hilflos ausgeliefert zu sein. Es sind natürliche Strategien eines Menschen, dessen Leben bedroht war. Sie stellen uns aber im pädagogischen Alltag oft vor große Schwierigkeiten, denn diese unbewusst entwickelten Strategien können nicht ohne Weiteres bewusst gesteuert oder verändert werden und bestehen auch dann weiter, wenn der Mensch sich in Sicherheit befindet. Sie fordern uns Pädagogen heraus, weil sie mit den üblichen erzieherischen Methoden nicht zu beeinflussen sind oder wir uns persönlich angegriffen fühlen. Deshalb benötigen Kinder wie Bassam besondere Bedingungen, um das Gefühl von Sicherheit wiederzuerlangen und ihr Verhalten wieder regulieren und steuern zu können.
Welche Möglichkeiten gibt es, traumatisierte Kinder im Kindergartenalltag zu unterstützen?
Sichere Orte schaffen
Das erste wichtige Ziel in der Zusammenarbeit mit traumatisierten Flüchtlingskindern ist, ein Gefühl von Sicherheit herzustellen, damit sich das im Notfallprogramm dauerhaft aktivierte Stress-System wieder beruhigen kann. Dies bedeutet, sich mit dem Kind auf einen gemeinsamen und ganz individuellen Weg mit der Fragestellung „Was bedeutet für dich Sicherheit?" zu begeben. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein, wie zum Beispiel das Kind in bestimmten Übergangssituationen des Alltags zu begleiten, Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen und Auslöser zu vermeiden, die das Kind ängstigen. So verschieden diese Unterstützungsmöglichkeiten sein können, allen gemeinsam ist die Haltung: Ich verstehe dein Bedürfnis nach Sicherheit und bemühe mich darum, dir dies bestmöglich zu erfüllen. Auch wenn es nicht immer gelingen wird, diese Sicherheit vollständig herzustellen, ist es wichtig, das Kind darin zu unterstützen, wieder zu Ruhe zu kommen. Denn nicht nur das Gefühl von erfahrener Sicherheit, auch das Wissen, in stressreichen Situationen beruhigt werden zu können, schafft Sicherheit. Wir können keinem Menschen Sicherheit garantieren, aber wir können ihm mit der Haltung begegnen, sein Bedürfnis danach zu erkennen und es bestmöglich zu erfüllen.
Handlungsfähigkeit ermöglichen
In traumatischen Situationen macht ein Mensch die existentielle Erfahrung, sich nicht schützen zu können, keine Handlungsmöglichkeiten zu haben, um einer Gefahr zu entkommen und auch von anderen Menschen keinen Schutz zu erfahren. Daraus resultiert ein grundlegendes Lebensgefühl, einerseits der eigenen Handlungsunfähigkeit, anderseits des mangelnden Vertrauens in die Handlungs- und Unterstützungsfähigkeit anderer Menschen. Bringt man Kinder durch Anforderungen des Alltags in Situationen, die sie nicht bewältigen können, erleben sie genau dieses Gefühl von Handlungsunfähigkeit erneut.
Das bedeutet, dass der pädagogische Alltag mit einem traumatisierten Kind so gestaltet werden muss, dass es die gestellten Anforderungen auch leisten kann. Erst wenn es die Erfahrung macht, etwas zu schaffen, kann es darauf aufbauend Neues lernen.
Ständige Misserfolge durch Überforderung müssen unbedingt vermieden werden. Dafür sollte der Tagesablauf genau analysiert werden, um solche Situationen zu erkennen. Auch wenn für die Gruppe insgesamt andere Regeln gelten, müssen die Bedingungen für ein traumatisiertes Kind eventuell für eine bestimmte Zeit angepasst werden. Wird dies offen kommuniziert, trifft es in der Regel auch bei den anderen Kindern auf Verständnis.
Selbstwahrnehmung unterstützen
Wie können die durch Traumatisierung entstandenen Verhaltensweisen verändert werden? Eine Schwierigkeit traumatisierter Kinder ist, dass sie Prozesse, die die Wahrnehmung des eigenen Körpers und der eigenen Gefühle betreffen, oft nicht ausreichend spüren. Dieses Verhalten war wichtig und sinnvoll, um etwas, das nicht auszuhalten war, zu überleben. Um aber wieder selbstregulativ handeln zu können, müssen die Kinder zunächst einmal lernen, das was sie regulieren sollen, wahrzunehmen. Wenn Bassam lernen soll, andere Kinder nicht zu verletzen, muss er fühlen können, was diesem Impuls voraus geht: wie er sich mit etwas Wut fühlt, wie er sich mit großer Wut fühlt und wann der Punkt kommt, an dem er die Kontrolle verliert. Erst wenn die Wahrnehmung dafür vorhanden ist, kann er lernen, seinen Gefühlen nicht sofort aggressive Handlungen folgen zu lassen. Um das zu unterstützen, kann das gesamte Spektrum des gruppen‑pädagogischen Alltags genutzt werden, in das alle Kinder der Gruppe einbezogen werden können.
Folgende Möglichkeiten bieten sich an:
- Angebote zur körperlichen Wahrnehmung wie Massagen, Psychomotorik, Naturerlebnisse, bewusstes Erleben von Essenssituationen und Körperpflege, Projekte zum eigenen Körper, Arbeiten mit Körperschemazeichnungen
- Angebote der emotionalen Wahrnehmung wie Arbeiten mit Smileys, Gefühlsuhren – wer ist in welcher Stimmung, woran sieht man das von außen, woran fühlt der Betreffende es in seinem Körper; Spiele zur Gefühlswahrnehmung wie Gefühlskärtchen, Gefühlsmemories, Gefühlstagebuch
Wenn über solche und ähnliche Angebote die Grundlagen für die eigene Wahrnehmungsfähigkeit geschaffen sind, kann man mit Kindern auch auf der Ebene von Selbstregulation arbeiten. Dann können sie lernen, die geforderten Aufgaben umzusetzen.
Die pädagogische Arbeit in Kindertagesstätten bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit denen traumatisierte Flüchtlingskinder unterstützt und bei der Überwindung ihrer seelischen Verletzungen begleitet werden können. Um das Verhalten der Kinder zu verstehen, ist es für uns Pädagogen wichtig, zu wissen, wie traumatische Erfahrungen im menschlichen Gehirn wirken und wie sich diese Prozesse ausdrücken. Das, was uns die Kinder im Alltag zeigen, womit sie uns auch teilweise bis über unsere persönlichen Grenzen hinweg herausfordern, ist im Kontext ihrer Lebenserfahrungen für sie sinnvoll und sinnhaft. Wenn sie aber in ihren Lebensumfeldern Sicherheit und geschützte Handlungsräume erleben, können sie auf der Basis dieser Erfahrungen neue Strategien und Verhaltensweisen lernen.
Erstveröffentlichung in: Meine Kita – Das didacta Magazin für den Elementarbereich, Ausgabe 2/15, „Ein sicherer Ort", S. 9-11. Übernahme mit feundlicher Genehmigung von "Meine KiTa"
- Zuletzt bearbeitet am: Dienstag, 06. Oktober 2015 10:22 by Karsten Herrmann