Verletzendes Verhalten im Kita-Alltag

Kinder haben ein Recht auf Achtung, Vertrauen und Zuneigung (Korczak 1939/2015). Gleichzeitig wissen wir, dass in der pädagogischen Praxis mitunter nicht allen Kindern und in allen Situationen mit Achtung, Vertrauen und Zuneigung begegnet wird, sondern auch mit Verhaltensweisen, die Kinder verletzen. Warum aber ist es so schwer, über Interaktionen zu sprechen, die für Kinder verletzend sein können? Und was würde es erleichtern, verletzendes Verhalten in der Kita anzusprechen und zu reflektieren? Diesen Fragen geht Regina Remsperger-Kehm nach.

Richtet man den Blick auf die gegenwärtigen Rahmenbedingungen in der pädagogischen Praxis, so belegen Forschungsresultate die »verheerenden« Folgen des Personalmangels in Kitas: Die Zeit für einzelne Kinder verringert sich und zahlreiche Fachkräfte arbeiten »nah an der persönlichen Leistungsgrenze« (DKLK 2019, 22). Aufgrund unzureichender Arbeitsbedingungen und der eigenen Erschöpfung können Fachkräfte Signale und Bedürfnisse von Kindern zuweilen gar nicht erst wahrnehmen (Remsperger 2011; Wildgruber et al. 2016). Dabei gehen insbesondere größere Gruppenstärken »mit geringerer Sensitivität und Responsivität sowie vermehrt einschränkendem und direktivem Verhalten« der Fachkräfte einher (Viernickel & Voss 2012, 41).

Der aktuelle DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  zu verletzenden Verhaltensweisen durch pädagogische Fachkräfte zeigt, dass es hierbei auch zu Grenzüberschreitungen kommen kann (vgl. Prengel 2020, Maywald 2019/2020). Die wichtigsten Befunde des Forschungsprojekts INTAKT lassen begründet vermuten, »dass durchschnittlich ein Viertel aller Interaktionen zwischen Lehr- und pädagogischen Fachkräften und Kindern und Jugendlichen mit Verletzungen durch die Erwachsenen einhergehen« (Prengel 2019, XIV). Auch in Kitas sind »Vorgänge an der Tagesordnung, die die Menschenwürde der Kinder verletzen« (Prengel 2020a, 47).

Jörg Maywald (2019/2020) unterscheidet vier Formen der Gewalt in pädagogischen Einrichtungen:

  •  seelische Vernachlässigung (z.B. mangelnde Anregung, emotionale Zuwendung verweigern, ignorieren);
  •  seelische Gewalt (z.B. beschämen, bloßstellen, isolieren, abwerten, anschreien);
  • körperliche Gewalt (z.B. festbinden, einsperren, zerren, Zwang zum Essen, Schlafen oder Toilettengang);
  • sexualisierte Gewalt (z.B. Zwang zu körperlicher Nähe, streicheln/liebkosen ohne Einverständnis, küssen).

Vor allem seelische Gewalt ist im Alltag pädagogischer Einrichtungen offenbar so verbreitet, dass sie laut Prengel »als häufigste Gewaltform bezeichnet werden muss, die Kinder und Jugendliche erleiden« (Prengel 2019, XV). Verletzendes Verhalten äußert sich oftmals sehr subtil, zum Beispiel durch einen unbewegten Gesichtsausdruck, einen strengen Blick oder das Verdrehen der Augen. Kennzeichen sind zudem eine starre oder abgewandte Körperhaltung, das kommentarlose Wegschieben oder grobe Entreißen von Gegenständen, das schnelle und abwertende Abwinken, das leise Stöhnen sowie ein genervter, unfreundlicher oder ironischer Tonfall (Remsperger 2011; Remsperger-Kehm 2020a). Deutlicher werden seelische Verletzungen durch ein aufgebrachtes Rufen, einen lauten Befehlston oder das Anschreien der Kinder. Schließlich ist es das gesprochene Wort selbst, das für Kinder sehr verletzend sein kann, so etwa die Bezeichnung als »kleiner Hosenschisser« oder die Beschimpfung als »Schwein«, weil das Kind mit den Fingern isst (ebd.; Maywald 2019).

Auch am Rande von Fortbildungsveranstaltungen oder Seminaren wird – oftmals sehr zaghaft – von verletzenden Verhaltensweisen durch pädagogische Fachkräfte in Kitas berichtet. In einer aktuellen Studie wird daher zurzeit untersucht, wie Fachkräfte selbst problematische Situationen im Kita-Alltag erleben und wie sie damit umgehen. Zudem wird danach gefragt, welche Formen der Unterstützung aus Sicht der Fachkräfte hilfreich wären, um verletzende Verhaltensweisen zu verhindern (Boll/Remsperger-Kehm 2020a,b).

Gefühle in Verbindung mit verletzendem Verhalten im pädagogischen Alltag

Auch wenn weitere Analysen noch ausstehen, zeigt ein erster Blick auf die bislang erhobenen Daten bereits jetzt, dass die Befürchtung, Beobachtung oder Ausübung eines verletzenden Verhaltens in der Kindertagesbetreuung mit »Ich muss doch was sagen« Verletzendes Verhalten in der Kita ansprechen und reflektieren starken Gefühlen verbunden, ist insbesondere mit Überforderung und Hilflosigkeit. Werden grenzüberschreitende Interaktionen befürchtet, sind die Gefühle der Befragten geprägt von Anspannung, Angst, Sorge, Nervosität, Unwohlsein und Unsicherheit. Hinzu kommt ein Hin- und Hergerissen-Sein zwischen dem Impuls, einerseits nichts sehen und hören zu wollen. und andererseits dem Gefühl von Scham und Verrat, in einer problematischen Situation nicht zu handeln und ein Kind im Stich zu lassen (Remsperger-Kehm 2020b; Boll & Remsperger-Kehm 2021 in Vorb.).

Beobachten pädagogische Fachkräfte, dass sich KollegInnen gegenüber Kindern verletzend verhalten, so äußern sie eine hohe emotionale Betroffenheit. Dazu gehören Erschütterung, Wut, Unverständnis, Fassungslosigkeit und Verzweiflung. Darüber hinaus wird von Gefühlen der Frustration,  Unzufriedenheit und der Belastung berichtet – vor allem dann, wenn das beobachtete Handeln überhört, beschönigt oder nicht angesprochen wurde. Deutlich ist auch hier die Zerrissenheit der Fachkräfte, einerseits etwas sagen zu müssen und andererseits nicht einzugreifen. Fachkräfte, die von eigenen verletzenden Verhaltensweisen berichten, äußern ein großes Bedauern, Unwohlsein, Scham, Enttäuschung, Wut, aber auch Verzweiflung und das Gefühl, alleine zu sein.  Verbunden ist dies auch mit dem Wunsch nach Reflexion im KollegInnen-Kreis (ebd.).

Schweigen über verletzendes Verhalten

Die wenigen bislang vorliegenden Studien zeigen, dass ein verletzendes pädagogisches Verhalten – wenn überhaupt – meist nur in informellen Gesprächen thematisiert wird (Prengel 2020a, 101). Fach- und Leitungskräfte zögern, beobachtete verletzende Interaktionen bei ihren KollegInnen anzusprechen, und vermeiden kritische kollegiale Gespräche (Nürnberg 2018, 42f).

Unsere aktuelle Studie deutet ebenfalls darauf hin, dass nur selten über Vorkommnisse in den Kitas gesprochen wird (Remsperger-Kehm 2020b; Boll & Remsperger-Kehm 2021 in Vorb.). Wie es scheint, werden verletzende Verhaltensweisen eher verharmlost und im Allgemeinen thematisiert, ohne näher auf einzelne Beobachtungen einzugehen (ebd.). Christina Draht beobachtete in ihrer Studie das Herunterspielen übergriffigen Verhaltens und spricht von einer »Verflachung« pädagogischer Fachkräfte (Draht 2018, 55). Laut Maywald herrscht in Einrichtungen, die schlecht geführt werden, eine »Kultur des Verschweigens« (zit. in Burger & Schaaf 2020). Auch in der Öffentlichkeit wird trotz der Einführung von Kinderrechten und des Gewaltverbots in der Erziehung über den »Mangel an ethischer Orientierung«, der »eklatant die Beziehungsebene« betrifft, nach wie vor weitgehend geschwiegen (Prengel 2020a, 101).

Die Gründe für das offenbar verbreitete Schweigen über verletzendes Verhalten erscheinen vielfältig: Abhängigkeitsverhältnisse, Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz, Ängste vor den Reaktionen der KollegInnen, Harmoniebedürfnisse im Team, das Schützen von KollegInnen oder private Kontakte im KollegInnenkreis können Ursachen sein (Boll & Remsperger-Kehm 2021 in Vorb.).

Prengel stellte fest, dass »man im Kollegenkreis einander persönlich nicht zu nahe treten will« (Prengel 2020a, 81). Zudem fehle es »an Routinen und Strukturen für systematische kollegiale Reaktionen auf problematische pädagogische Handlungsweisen« (ebd.). Beklagt werden in diesem Kontext eine mangelnde fehlerfreundliche Teamkultur sowie der fehlende Mut, ein Fehlverhalten klar zu benennen (Boll & Remsperger-Kehm 2021 in Vorb.). Vor dem Hintergrund, dass insbesondere Fachkräfte, die von eigenem verletzenden Verhalten und dem Wunsch nach Reflexion im KollegInnen-Kreis berichten, erscheint dies besonders problematisch.

Verletzendes Verhalten ansprechen und reflektieren

Was aber könnte pädagogische Fachkräfte unterstützen, verletzendes Verhalten anzusprechen und zu reflektieren? Fünf Ansatzpunkte sollen an dieser Stelle genannt werden.

»Ich hab’ da ein komisches Gefühl« – Dem eigenen Bauchgefühl trauen

Die Bandbreite zwischen einem höchst feinfühligen Interaktionsverhalten pädagogischer Fachkräfte und einem Verhalten, das Kinder möglicherweise als verletzend empfinden, ist sehr groß (Remsperger 2011). Hinzu kommt, dass die Vorstellungen zu einer angemessenen Erziehung durchaus differieren. Dies erschwert es mitunter, klar entscheiden zu können, welches Verhalten nicht hingenommen werden kann. In solchen Fällen ist es das eigene ungute »Bauchgefühl«, welches deutlich macht, dass etwas »nicht stimmt«. Konfrontiert mit der Frage, ob man seine Bedenken basierend auf der eigenen Intuition äußern kann, sind Fachkräfte vermutlich mit einem »inneren Kampf des Zweifelns« auf sich alleine gestellt.

Die eigene Intuition hat jedoch eine hohe Relevanz für das Handeln der Fachkräfte. Dies verdeutlicht ein Blick in die Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (Kuhl 2001), die als Fundament für das Konzept der professionellen pädagogischen Haltung dient (Schwer & Solzbacher 2014). Dieser Theorie zufolge ist das Handeln von Menschen durch das Zusammenspiel von vier psychischen Systemen geprägt:

Während es das Intentionsgedächtnis ermöglicht, Absichten zu verfolgen und dabei nicht impulsiv zu handeln, sondern erst zu denken und zu planen, erlaubt es das Objekterkennungssystem mit seiner Spezialisierung auf Neues und Unerwartetes, einzelne Situationsmerkmale bewusst wahrzunehmen und zu verarbeiten (ebd., 85ff). Das System der intuitiven Verhaltenssteuerung arbeitet hingegen unbewusst: Es verfügt über eine große Anzahl automatisierter Handlungsabläufe und Verhaltensroutinen sowie über ein unbewusstes Wahrnehmungssystem, das es ermöglicht, etwas intuitiv zu registrieren. Das Extensionsgedächtnis schafft schließlich den Zugang zu sämtlichen Lebenserfahrungen, Bedürfnissen, Emotionen, Einstellungen und Werten einer Person. Es wird auch als »Selbst« bezeichnet und hat die Funktion des Fühlens. Das Extensionsgedächtnis ist eng mit dem autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Nervensystem und der Körperwahrnehmung verbunden und trägt dazu bei, eigene und fremde Emotionen wahrzunehmen und zu regulieren. Mithilfe des Extensionsgedächtnisses können Menschen »unbewusst alles berücksichtigen, was für sinnvolles und kontextangemessenes Entscheiden und Handeln in der konkreten Situation wichtig sein könnte« (ebd., 90). Gerade  unbewussten Wahrnehmungen muss daher eine hohe Beachtung geschenkt werden.

»Das ist doch nicht verletzend? Oder vielleicht doch?« – Wissen über feinfühliges und verletzendes pädagogisches Verhalten erlangen

Welches Verhalten unter welchen Umständen und vor welchen Hintergründen als verletzend empfunden wird, ist höchst subjektiv – und zudem geprägt von eigenen Erfahrungen, pädagogischen Einstellungen und Werten. Unterschiedliche Sichtweisen zu einem angemessenen Umgang mit Kindern können so auch zu Unsicherheiten und Kontroversen in Kita-Teams führen. Um problematische und »unvorhersehbare Situationen im Wechselspiel von auf Erfahrung beruhender Intuition und analytischer Reflexion« bewältigen und dabei »eigenverantwortlich und autonom« entscheiden zu können, braucht es »fundiertes, wissenschaftlich-theoretisches Wissen«, das dem eigenen Handeln einen fachlichen und sicheren Rahmen gibt (Nentwig-Gesemann & Nicolai 2014, 141).

Notwendig ist ein Wissen über die hohe Bedeutung der Beziehungs- und Interaktionsgestaltung mit Kindern sowie insbesondere über die möglichen Folgen eines verletzenden pädagogischen Verhaltens. »Demütigung, Entwertung, Diskriminierung und Verängstigung«, das »Ausblenden von kindlichen Bedürfnissen (…) sowie das Miterleben von Gewalt, die sich gegen andere Kinder richtet«, beschädigen »die existenziellen Erlebnis-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten« von Kindern (Prengel 2020b, 10, 12f ). Dabei wirkt sich emotionale Gewalt »ähnlich schlimm auf die psychische Gesundheit aus wie körperliche und sexuelle Gewalt« (König & Kölch 2018, 19). Mögliche Folgen  eines übergriffigen pädagogischen Verhaltens können körperliche, seelische und psychosomatische Störungen, Kontakt- und Beziehungsstörungen, intellektuell-kognitive Beeinträchtigungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder auch die Verschlechterung des Gruppenklimas sein (Maywald 2019: 21ff ).

„Das kann ich doch nicht sagen« – Sich über ethische Prinzipien der pädagogischen Arbeit verständigen

Verhalten sich Personen, die wir kennen und vielleicht auch mögen, Kindern gegenüber verletzend, besteht oftmals eine hohe Hemmschwelle, das unangemessene Verhalten wahrhaben zu wollen und ansprechen zu können. Es ist zu vermuten, dass die Angst davor, der erwachsenen Person zu nahe zu treten und diese auf unangenehme Weise mit dem wahrgenommenen Fehlverhalten zu konfrontieren, größer ist als die Sorge, nicht genügend für das Recht und für das Wohl von Kindern einzutreten.

Um dem vorzubeugen, empfehlen pädagogische Fachkräfte, für eine fehlerfreundliche Kultur in den Kindertageseinrichtungen einzutreten (Boll & Remsperger-Kehm 2020b). Dies setzt ein Klima im Kollegium voraus, das es erleichtert, eigene Fehler einzugestehen und zu besprechen. Als hilfreich könnte sich in diesem Kontext die gemeinsame Verständigung über ethische Prinzipien erweisen, die als Grundlage des Handelns in einer Einrichtung fungiert und für deren Einhaltung sich jedes einzelne Team-Mitglied explizit ausspricht. Zur Reflexion und Verbesserung pädagogischer Beziehungen eignen sich bspw. Das Manifest der »Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen« (Prengel 2019), die »sieben Prinzipien ethischer Pädagogik in Schule und Kita« (Prengel 2020) oder auch Stellungnahmen wie das »Positionspapier Grenzüberschreitungen« des Zentrum Bildung der EKHN (2016). Die gemeinsame Aushandlung von ethischen Prinzipien sowie die fortwährende Reflexion über die Einhaltung der Prinzipien könnte einen klaren Rahmen bieten, um in einen »natürlicheren« Austausch über (un-) angemessenes Verhalten zu kommen.

»Ich kann ja doch nichts bewirken« – Strukturen schaffen

Bringen pädagogische Fachkräfte den Mut auf, sich mit ihren Beobachtungen zu verletzenden Verhaltensweisen bspw. an die Leitung einer Einrichtung zu wenden, kann es sein, dass es beim bilateralen Gespräch bleibt und keine weiteren Schritte erfolgen. Dies kann frustrierend und entmutigend sein. Um Gespräche über verletzendes Verhalten nicht nur zu initiieren, sondern auch am Laufen zu halten, schlägt Jörg Maywald (2019) »geschützte Reflexionsräume« in Teamberatungen vor, in denen regelmäßig und mit ausreichend Zeit Fallgespräche und ein Austausch über gemeinsame Positionen zu grundlegenden Fragen des pädagogischen Alltags stattfinden können (ebd., 92). Darüber hinaus braucht es weitere Strukturen, die die Kita als Organisation betreffen. Hierzu gehören u.a. die »Verankerung des Kinderschutzes im Leitbild des Trägers und im Konzept der Einrichtung«, die Ausarbeitung eines institutionellen Schutzkonzeptes sowie »die Verwirklichung des Kinderrechtsansatzes in der Kita« (ebd., 93). Konkret heißt dies, dass die notwendigen Schritte im Falle eines unzulässigen Verhaltens besprochen und geregelt sein müssen. Dies umfasst sowohl die Gespräche, die intern in einer Einrichtung stattfinden müssen, als auch die Meldepflichten gemäß § 47 SGB VIII, die an das zuständige Landesjugendamt zu richten wären (ebd., 93ff ). Schließlich gehören arbeits- und strafrechtliche Konsequenzen zu den Faktoren, die mit Blick auf die Schaffung von Strukturen im Umgang mit einem verletzenden Verhalten in Tageseinrichtungen berücksichtigt werden müssen (ebd., 99).

»Das glaubt ja doch keiner« – Für Enttabuisierung in der Öffentlichkeit sorgen

Vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat die öffentliche Kindertagesbetreuung in den letzten Jahren in erheblichem Maß an Bedeutung gewonnen. Damit sind nicht nur die Anforderungen an pädagogische Fachkräfte massiv gestiegen. Auch die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern haben sich grundlegend gewandelt. Kindheit in Deutschland ist heute weitgehend eine institutionalisierte Kindheit. Sehr viele Kinder verbringen einen Großteil ihres Tages in Kitas. Zugleich sind unsere Vorstellungen von der Betreuung in Kindertageseinrichtungen vielleicht auch noch mit idealisierten Erinnerungen an die eigene »Kindergartenzeit« verbunden. Überlegungen zu Überforderungssituationen der Fachkräfte und zu einem verletzenden Verhalten sind damit kaum vereinbar.

Umso größer ist das Entsetzen, wenn in Medien über grenzüberschreitendes Verhalten Kindern gegenüber berichtet wird: »Das kann doch gar nicht sein!«, mag man denken. Da aber offenbar nicht nur in Einzelfällen doch ist, was nicht sein darf, müssen wir uns als Gesellschaft – als Eltern, Fachkräfte, Träger, Verantwortliche auf örtlicher und überörtlicher Ebene und in der Politik – Gedanken darüber machen, was wir unter einem guten und gesunden Aufwachsen von Kindern verstehen. Und wir müssen uns darüber verständigen, auf welche Weise wir für die Bedürfnisse und Rechte von Kindern einstehen wollen. Hierzu gehört es zwingend, ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Arbeitsbedingungen in der Kindertagesbetreuung zu schaffen und sich dafür einzusetzen, diese Bedingungen nachhaltig zu verbessern.

Eine Kultur der Offenheit und der Fehlerfreundlichkeit ist also in der gesamten Gesellschaft notwendig, um bislang eher Ungesagtes ansprechen zu können, Nöte zu thematisieren und Belastungen zu reduzieren. Der persönliche Mut, für sich selbst und andere einzutreten, ist hier ein Anfang.

Literatur

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  • Boll, A./Remsperger-Kehm, R. (2020b). Das Wohl von Kindern schützen – Fachkräfte unterstützen. In: E. Botzum & R. Remsperger-Kehm (Hrsg.). Betreuung von Kleinstkindern – Qualität von Anfang an in Krippe, Kindergarten und Kita. Schwerpunkt: Kinderschutz in Tageseinrichtungen. O. S. Kronach
  • Boll, A./Remsperger-Kehm, R. (2021) (in Vorb.). Verletzendes Verhalten im frühpädagogischen Alltag – Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernisse aus der Perspektive der Fachkräfte (Arbeitstitel). Beitrag angemeldet für D. Weltzien, H. Wadepohl, I. Nentwig-Gesemann & M. Alemzadeh (Hrsg.). Forschung in der Frühpädagogik B. 14, Schwerpunkt: Frühpädagogischen Alltag gestalten und erleben
  • Booth, T. (2015). Wie sollen wir zusammen leben? Inklusion als wertebezogener Rahmen für die pädagogische Praxis, Frankfurt
  • Burger, R. & Schaaf, J. (2020). Reihenweise Alarmsignale. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2020
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  • Draht, C. (2018). Lasst die Kita nicht zum gefährlichen Ort werden! In: TPS spezial, 10/18, S. 54-55
  • GEW (2015). Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Gemeinsam leben, spielen und lernen.
  • Korczak, J. (1939/2015). Das Recht des Kindes auf Achtung. Fröhliche Pädagogik. Erstveröffentlichung 1939. Zitate aus der deutschen Übersetzung. Gütersloh
  • König, E., Kölch, M. (2018). Gewalt hinterlässt Spuren. Gegen übergriffiges Verhalten von Fachkräften. In: TPS spezial, 10/18, S. 16-19
  • Kuhl, J. (2001). Motivation und Persönlichkeit. Interaktionen psychischer Systeme. Göttingen: Hogrefe
  • Maywald, J. (2020). Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in Kitas. In Frühe Kindheit, 01/2020, S. 24-31
  • Maywald, J. (2019). Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg
  • Nentwig-Gesemann, I./ Nicolai, K. (2014). Pädagogische Fachkräfte als selbstreflexive und forschende Professionelle. In: Völkel, P., Wihstutz, A. (Hg.). Das berufliche Selbstverständnis pädagogischer Fachkräfte. Köln, S. 140-158
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  • Prengel, A. (2019a): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen.
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  • Remsperger-Kehm, R. (2020a). Dialoge und Interaktionen mit Kindern gestalten - Zur Sensitiven Responsivität pädagogischer Fachkräfte. In: G. Müller & R. Thümmler (Hrsg.). Frühkindliche Bildung heute Neues zur Kindheits- und Familienpädagogik. Weinheim
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  • Remsperger, R. (2011). Sensitive Responsivität. Zur Qualität pädagogischen Handelns im Kindergarten. Wiesbaden
  • Schwer, C. & Solzbacher, C. (Hrsg.) (2014). Professionelle pädagogische Haltung. Historische, theoretische und empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Zugänge zu einem viel strapazierten Begriff. Bad Heilbrunn
  • Viernickel, S. & Voss, A. (2012). STEGE – Strukturqualität und Erzieher_innengesundheit in Kindertageseinrichtungen. Wissenschaftlicher Abschlussbericht. www.unfallkasse-nrw.de/fileadmin/server/download/PDF_2013/studie_stege.pdf. (08.01.2020)
  • Wildgruber, A., Wertfein, M., Wirts, C., Kammermeier, M., Danay, E. (2016). Situative Unterschiede der Interaktionsqualität im Verlauf des Kindergartenalltags. In: Frühe Bildung (2016), 5 (4), S. 206-213
  • Zentrum Bildung der EKHN – Fachbereich Kindertagesstätten (2016). Positionspapier Grenzüberschreitungen. Im Fokus: Grenzüberschreitungen von Fachkräften gegenüber Kindern _ grenzüberschreitendes Verhalten im pädagogischen Alltag. Verfügbar unter: https://kita.zentrumbildung-ekhn.de/fileadmin/content/kita/6Service/Positionspapiere/Positionspapier_Grenzueberschreitungen_final.pdf (08.07.2020)


Tipp:

Kostenlose Broschüre der GEW Zum Umgang mit verletzendem Verhalten in der Kita


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung von
Betrifft Kinder, 07/08-2020, S. 29-32





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