Erfahrungen und erste politische Fragen

Überlegungen zur Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildung eines politischen Denkens

Inhaltsverzeichnis

  1. Politisches Denken in Früher Kindheit - ein herausforderndes Thema
  2. Partizipation als gemeinsame Gestaltung einer demokratischen Lebensform
  3. Partizipation als geteilte Erfahrung von Lebenssituationen
  4. Lebenssituationen der Kindheit in der Erinnerung
  5. Ausblickende Schlussfolgerungen
  6. Literaturverzeichnis

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Lebenssituationen der Kindheit in der Erinnerung

Erzählungen von Menschen über ihre Kindheitserfahrungen

Mit dieser Frage möchte ich mich im dritten Teil meines Vortrags befassen: In welcher Weise lässt sich ein Zugang dazu finden, wie Kinder politische oder historisch bestimmte Situationen erfahren?
Hierfür soll im Folgenden über die typischen Kita-Konzepte hinausgegangen und ein ganz anderer Zugang gesucht werden, nämlich durch Erinnerungen an die eigene Kindheit (vgl. Stieve 2019).
Anknüpfen möchte ich hier an eine Bildungstheorie, die der Erziehungswissenschaftler Hans-Christoph Koller entwickelt hat. Die Erfahrung der eigenen politisch bestimmten Lebenssituation lässt sich nämlich grundlegend als Bildungsprozess verstehen, denn Bildung hat immer eine politische Dimension. Für Koller meint Bildung nicht irgendeine selbsttätige Aneignung von Selbst- und Weltbildern, sondern die Veränderung eines Menschen aufgrund von Krisenerfahrungen. Bildung beschreibe eine Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses von Menschen, das sich dann vollziehen könne, „wenn Menschen mit neuen Problemlagen in ihrem Leben konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen“ (Koller 2012, 15 f.; vgl. Kokemohr 2007).

Kindheitserfahrungen ihrer Lebenssituation im Sinne politisch relevanter Bildungsprozesse könnten, so der Gedanke im Folgenden, mit solchen Krisen zu tun haben. Koller geht davon aus (vgl. im Folgenden Koller 2012, 17 f.),
  • dass es immer schon Strukturen gibt, in denen wir leben, und die unsere Gewohnheiten ausmachen, wie Wahrnehmungs- und Handlungsweisen, die Kinder als völlig selbstverständliche ihrer Lebensumgebung übernehmen;
  • dass Anlässe auftreten, in denen Menschen, für uns hier Kinder, eine überraschende Erfahrung machen, eine Erwartung z.B. plötzlich nicht bestätigt wird oder etwas Fremdes alle bisherigen Gewohnheiten in ein anderes Licht rückt;
  • dass schließlich in diesen Momenten etwas in Frage gestellt werden und Neues entstehen kann. Das Bisherige z.B. wird neu wahrgenommen, in einer bisher nicht möglichen Weise betrachtet. Es bilden sich am Rande dessen, was bisher selbstverständlich schien, alternative Wahrnehmungs- und Handlungsweisen.

Was könnten diese Bildungsgedanken mit früher Kindheit zu tun haben? Anhand mehrerer Erzählungen möchte ich dieser Frage nachgehen.

Die Übernahme einer alltäglichen Lebens-Einstellung (Habitus)

Eine erste Geschichte erzählt der Autor Georg Schlewecke (1987) in seinem Buch „Stirb er anständig!“. Dieses Buch handelt über seine Kindheits- und Jugenderlebnisse in der Zeit von 1932 bis 1945 in Göttingen und Hildesheim. Am Anfang fällt ihm die Erinnerung daran schwer: „Erst als ich Papier nahm und Bleistift und dabei in Gedanken lange, lange in der gleichen Zeit verweilte, da wachten ganz allmählich alte Klänge jener Jahre wieder auf, Empfindungen, die mich bewegten, und wie ich kleiner Junge staunte, aufnahm oder nicht verstand“ (Schlewecke 1987, S. 9). Schlewecke beschreibt damit zunächst eine bestimmte Weise des kindlichen Wahrnehmens, dass sich erinnern lässt – ein Empfinden, Staunen, Aufnehmen und – auffällig – Nicht-Verstehen.
In seiner Erzählung versucht er, die seltsamen Worte und Gesprächsfetzen einzufangen, an die er sich noch vor seinem Schuleintritt erinnern kann. So schreibt er, dass von „arbeitslos“ und „stempeln“ geredet wurde, und dass das davon komme, „weil wir den Krieg verloren haben“ (Schlewecke 1987, S. 13). Seine Erfahrung stammt aus dem Jahr 1932, die Zeit, bevor die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen. An den Straßen fielen ihm als Junge die roten Fahnen auf. Es waren verschiedene, die der sogenannten „Kommunisten“, und die derjenigen, die „Heil Hitler“ riefen (vgl. Schlewecke 1987, S. 14). Als Hitler mit dem Flugzeug nach Göttingen kommt, gingen sein Vater und seine Mutter zum Kaiser-Wilhelm-Park. Er erinnert sich der Erzählung der Mutter: „Es hat tüchtig geregnet“, wie Hitler „anfing zu reden, da waren alle schon ganz nass und jemand wollte bei der Rede einen Regenschirm über ihn halten. Doch Hitler habe ihn weggeschickt und gesagt: ‚wenn sich die Leute nassregnen lassen, um mich anzuhören, dann will ich es nicht besser haben‘“ (Schlewecke 1987, S. 14). Wie Schlewecke sich erinnert, blieb in der Erfahrung des kleinen Kindes hängen, das sei doch „ein guter Mann“ – der Vater sagte, „wenn der in der Regierung wäre, ginge es uns besser“ (Schlewecke 1987, S. 15). „Dieser Hitler ist im Krieg ein einfacher Soldat gewesen, so wie der Vater“, und als „er Kind war, hatte er es schwer“ (ebd.). Durch diese Verbindungen mit den Erzählungen der Erwachsenen, so erinnert Schleckecke (ebd.), war er „unserer geworden“.

Die Geschichte beschreibt etwas von der Struktur, in der sich eine Art Einstellung in der frühen Kindheit aufbaut. Sie taucht für Schlewecke, wie er schreibt, nur ganz am Rande auf, er hätte viel besser über viele andere Erlebnisse in der Göttinger Zeit seiner Kindheit erzählen können, die Wohnung hinter dem Garten, Vaters Geigenspiel, das Rollerspiel ums Haus – die „Erlebnisse mit Hitlers deutschem Frühling waren ein kleiner Zusatz“ (1987, S. 11). Aber dieser „kleine Zusatz“ macht die Schilderung so eindrücklich. Als Schlewecke die Erinnerung aufschreibt, da „fand ich mich wieder im freudigen Miterleben“ des kleinen Kindes (Schlewecke 1987, S. 9) und gerade in dieser Erinnerung wird ihm „bange“ (ebd.), weil er in der Rückschau weiß, was aus dieser gesellschaftlichen Begeisterung wurde. Die frühe unkritische Übernahme bestimmte seine Kindheit und Jugend und das tiefe Unrecht dieses Regimes und seine eigene Verstrickung kommen ihm erst 1943 als junger Soldat langsam zu Bewusstsein.

Dieses „freudige Miterleben“ von etwas, das der kleine Junge noch gar nicht versteht, könnten wir als eine allmähliche Verinnerlichung einer Lebenssituation bezeichnen, in der sich die Dinge, die täglichen Wege, die Erzählungen, Einstellungen und alltäglichen Tätigkeiten der nahen Bezugspersonen mit dem undurchschauten Politischen ganz selbstverständlich verknüpfen. Man könnte mit dem französischen Soziologen Bourdieu von einer „Habitualisierung“ sprechen, das heißt: Wie wahrgenommen, gedacht, geredet, gefühlt wird, übersetzt sich als soziale Struktur in die Erfahrung des kleinen Kindes, wird zu einem geteilten Habitus, sprich zur eigenen Wahrnehmungsweise (vgl. Bourdieu 1993, S. 97–121; Koller 2012, 23 ff.).

Die Suche nach Anerkennung

Mit einer Szene aus der Biografie „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ der französischen Schriftstellerin Simone de Beauvoir kann dieser Übernahme einer selbstverständlichen Einstellung noch etwas hinzugefügt werden (Im Folgenden Beauvoir 1960, 39 ff.). De Beauvoir erzählt aus einer anderen Zeit, nämlich von den Tagen, an denen sie als Sechsjährige 1914 die Kriegserklärung zwischen Frankreich und Deutschland erlebte. Sie erzählt, welche Ängste es auslöste, und welche Bilder vom „hässlichen Feind“, den Deutschen, sich auf sie in Frankreich übertrugen. Ein in besonderer Weise erinnerter Moment ereignet sich, als der Vater eingezogen wird, um vor Ort Dienst zu leisten, und sie ihn in seiner Dienststelle mit der Mutter besucht: „Der Ernst seiner Züge machte großen Eindruck auf mich. Ich musste mich seiner würdig erweisen“, schreibt de Beauvoir. So begann sie in einer ganz eigenen Weise als Kind den „Krieg“ gegen die Deutschen umzusetzen: Sie zerstörte eine Zelluloidpuppe, auf der „Made in Germany“ stand, die ihrer Schwester gehörte. Nur mit Mühe konnten die Erwachsenen sie daran hindern, silberne Messerbänkchen mit der gleichen Aufschrift aus dem Fenster zu werfen. Sie schrieb „Hoch Frankreich“ an die Zimmerwände. Bedeutung gewann die Reaktion: „Die Erwachsenen“, so schreibt sie, „belohnten meine extreme Fügsamkeit […] mit amüsiertem Stolz […].“ Als Kind genoss sie dieses Lächeln und das Lob der Erwachsenen wie das eines Publikums bei einer Theateraufführung.

In der Szene von De Beauvoir kommt zunächst zum Ausdruck, wie ein Kind die Zuneigung der Erwachsenen sucht. Es begehrt nach deren Zuneigung und übernimmt geradezu übertrieben ihre Einstellungen, um als Person anerkannt zu werden. Es muss sich in gewisser Weise, so behauptet die amerikanische Philosophin Judith Butler, anpassen, um überhaupt eine Person, ein Subjekt in den Augen der anderen werden zu können (vgl. Butler 2001, 18 ff.; Koller 2012, 59 ff.).

Nun könnte man bei beiden Geschichten denken, dass die frühe Erfahrung von Kindern allein durch eine alltägliche Erfahrungsstruktur bestimmt ist – das heißt dadurch, zu verinnerlichen, was den grundlegenden „Habitus“ ihrer sozialen Umgebung bestimmt. In beiden Erzählungen wird sich aber auch daran erinnert, dass etwas „nicht verstanden wurde“, dass Kinder „staunen“, „beeindruckt sind“, oder auch irritiert. Die Kinder beschäftigt, was sie erleben, vielleicht bleibt es auch deshalb in der Erinnerung.

Um dieses Staunen und Irritiert-Sein geht es in zwei weiteren Szenen, die wiederum ganz andere zeitliche und sozio-kulturelle Hintergründe haben. Jetzt stehen aber weniger die Strukturen, die übernommen werden, sondern Anlässe im Vordergrund, in denen Kinder irritiert werden.

Die Erfahrung einer enttäuschten Erwartung

Die nächste Erzählung ereignete sich vor ca. 17 Jahren, es ist die Erinnerung einer Studentin aus einem Seminar. Wieder geht es um die Zeit vor Schuleintritt (vgl. im Folgenden unveröffentlichtes Skript). Die Studentin schreibt, dass ihre Familie mit einer kurdischen Familie befreundet war, die sich im Kirchenasyl der evangelischen, ländlichen Dorfgemeinde befand. Die kurdische Familie lebte in einem umfunktionierten Kirchenkeller, „der nur mit dem Nötigsten ausgestattet, aber in meinem Empfinden mehr als gemütlich war“. Sie hat „sehr schöne Erinnerungen“ an die Zeit mit dieser Familie, wie sie schreibt. Dass die Familie das Gelände der Kirche nicht verlassen durfte, „tauchte wenn überhaupt nur als Kenntnis im Augenwinkel auf“. Währenddessen wünschte sie sich zum Schuleintritt einen ganz bestimmten feinen Rucksack, den sie unbedingt haben wollte. Doch einen Tag vor der Einschulung, übergab ihr auch die kurdische Familie bei einem Besuch „mit Freude einen Rucksack, den sie für mich besorgt hatten“ – ein Geschenk: „Er zeigte Gebrauchsspuren, hatte eine Farbe, die so gar nicht meinen Geschmack traf und war nicht der, den ich haben wollte“. Sie teilte ihre Entrüstung allen Beteiligten mit. Die Reaktion, so erzählt sie, fiel „unerwartet“ aus: Der Vater wurde wütend „und das war er wirklich nicht oft“. Er sagte, dass die Familie doch alles getan hätte, diesen Rucksack zu besorgen. Sie empfindet noch heute ihr Schockiert-Sein über die Reaktion der anderen, und den „Ärger, das Gefühl im Unrecht zu sein und Scham“. Für sie, so schreibt die Studentin, gab es ein „Vorher und ein Nachher“ dieser Erfahrung. In der Erinnerung meint sie zu vernehmen, dass hier auf eine „unbestimmbare Art“ eine politische Dimension Einlass erhielt. Sie bekommt zwar ihren Wunsch-Rucksack, aber das Ereignis bleibt ihr in Erinnerung.

In dieser Szene wird besonders ein überraschender, „schockierender“ Moment erwähnt. Der begehrte neue Rucksack hat zunächst etwas ganz Normales. Es erscheint in vielen Familien als selbstverständlich, dass sich ein Kind einen neuen Schulranzen aussuchen darf – deshalb tut das Kind nichts Verbotenes. Das ist, könnte man mit dem Pädagogen Günter Buck deuten, eine Vorerwartung, sein Vorverständnis (Buck 1981, 88; 91; vgl. Koller 2012, 75 ff.). Nun aber macht sie eine Erfahrung, die nicht bestätigt, was sie gewohnt ist, sondern ganz unbegreiflich in Frage stellt. Der Anlass, etwas politisch Bestimmtes zu erfahren, besteht hier darin, mit etwas konfrontiert zu werden, das den eigenen Erfahrungshorizont verändert. Es kommt zwar alles wieder ins Lot, wie man so schön sagt, aber die Unruhe, die diese Erfahrung bewirkte, bleibt in der Erinnerung bestehen.

Die Erfahrung des Fremden

Eine letzte Erinnerung hier stammt aus einem Vortrag der nigerianisch-us-amerikanischen Schriftstellerin, Chimamanda Adichie (im Folgenden Adichie 2009, o.S.). In diesem Vortrag erinnert sie sich, wie „beeinflussbar und schutzlos wir angesichts einer Geschichte sind, besonders als Kinder“. Mit dieser „einen Geschichte“ meint sie, welche erzählten Bilder von Menschen sie in ihrer Wahrnehmung von anderen und sich als Kind bestimmten. So erinnert sich Adichie, wie die amerikanischen und britischen Bücher, die sie als Kind las, häufig nur weiße Charaktere und deren Erlebnisse zur Identifikation anboten, obwohl diese gar nichts mit ihrer Wirklichkeit in Nigeria zutun hatten – eine für sie als Kind kaum wahrnehmbare alltägliche Stigmatisierung. „Nun das änderte sich, als ich afrikanische Bücher entdeckte. (…) Sie waren nicht so einfach zu finden, wie ausländische Bücher“. In ihrem Alltag vollzogen sich wiederum ganz selbstverständliche und als solche wenig wahrgenommene Stigmatisierungen innerhalb der nigerianischen Gesellschaft. So hatte ihre Familie einen Hausdiener namens Fide, was normal erschien in einer nigerianischen Familie der Mittelkasse. Das Einzige, was ihre Mutter ihr oft über Fide erzählte, bestand darin, dass seine Familie „sehr arm“ sei. Die Mutter schickte ihr Süßkartoffeln, Reis und alte Kleider. Wenn sie ihr Essen nicht aufaß, sagte die Mutter: „Iss dein Essen auf! Ist dir nicht klar, dass Menschen wie die Familie von Fide nichts haben“. Chimamanda Adichies ganzes Bild der Familie ihres Hausdieners war durch diese eine, vielfach wiederholte Geschichte von Armut, Angewiesenheit und Hilflosigkeit bestimmt. Als sie aber einmal Fide besuchte, geschah etwas Auffälliges: Fides Mutter zeigte ihr „einen wunderschön geflochtenen Korb aus gefärbtem Bast, den sein Bruder gemacht hatte“ – und die Erinnerung an diesen Moment prägt sich Chimamanda Adichie ein: „ich war überrascht“ – „es wäre mir wirklich nicht eingefallen, dass jemand aus seiner Familie irgendetwas herstellen könnte“. Die Erinnerung verbindet Adichie mit einem späteren Erlebnis während ihres Studiums in den USA. Eine Mitstudentin, mit der sie zusammenwohnte, konnte sie nur in einer Art gönnerhaftem Mitleid als Vertreterin eines armen, hilflos erscheinenden Afrika wahrnehmen, die Mitstudentin kannte nur diese „einzige verhängnisvolle Geschichte“, die keine Beziehung gleichberechtigter Menschen zuließ (vgl. ebd.).

Auch die Erinnerung Chimamanda Adichies könnte etwas über Erfahrungen in der Kindheit aussagen: Zum einen wiederholt sich in dieser Erzählung, dass es ein ganz selbstverständliches und scheinbar unhinterfragtes Leben gibt, in dem ein Kind aufwächst. Doch zugleich tauchen Anlässe auf, wo diese Selbstverständlichkeit ins Wanken gerät. Es wird etwas Fremdes in diesem Eigenen erfahren, das sich der bisherigen, normal erscheinenden Einordnung entzieht, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels schreibt (1997, S. 20; vgl. Koller 2012, S. 80). Es wird etwas Neues entdeckt: Diese Menschen sind ja nicht nur arm, sie haben einen Reichtum, sie sind mit einem deutschen Unwort nicht nur „bildungsfern“, sondern überraschend und irritierend anders. Dieses Fremde beunruhigt das Kind und erhebt geradezu einen Anspruch, andere und sich anders zu sehen, anders wahrzunehmen (vgl. Koller 2012, S. 84) – die Erfahrung prägt sich Adiche ein.


Zusammenfassung der Erzählungen

Die Beispiele lassen keine abschließende Antwort zu, wie sich Erfahrungen politisch bestimmter Lebenssituation von Kindern ausdrücken. Wohl aber zeigt sich, dass die Betroffenheit von politisch bestimmten Handlungs- und Denkweisen in der Erinnerung an die Kindheit immer wieder Bedeutung gewinnt. Die Behauptung, dass Kinder keine „politischen Erfahrungen“ machen, hat vielleicht weniger mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit zu tun, als damit, dass in der Pädagogik der frühen Kindheit häufig noch ein psychologisches Bild des Kindes und damit verbunden ein bürgerliches Ideal sorgloser Kindheit hervorgehoben wird, mit dem Kinder scheinbar vorrangig nach inneren Gesetzmäßigkeiten aufwachsen. Die Beispiele dagegen erzählen Geschichten darüber, wie die Umgebung zur Bildung eines eigenen politischen Empfindens beitragen kann. Ihre Erfahrung kann z.B. dazu führen, autoritative Denkweisen zu verfestigen, die Zugehörigkeit oder die Abwertung anderer Klassen oder soziokultureller Kontexte zu verinnerlichen. Sie kann zugleich aus überraschenden Anlässen in der frühen Kindheit heraus stereotype Gewohnheiten irritieren und z.B. Diskriminierungen und Ausgrenzungen hinterfragen. In der Sprache von Koller leben wir immer schon in Strukturen – mit Adichie könnte man sagen, in verinnerlichten, zur geradezu körperlichen Gewohnheit gewordenen Geschichten – die unsere Handlungs- und Wahrnehmungsweisen ganz selbstverständlich durchziehen und Kinder beeinflussen. Gleichzeitig besteht die Erfahrung von Kindern nicht nur aus diesen Strukturen, sondern es zeigen sich Anlässe, die Kinder staunen lassen, schockieren, erschrecken oder überraschen – und die gerade deshalb vielleicht in Erinnerung bleiben. Sie könnten dazu beitragen, neu und anders wahrnehmen und handeln zu können, sprich ein erstes distanzierendes Empfinden gegenüber dem, was das Denken und Handeln bestimmt, zu entwickeln. Diese Zweifel kennzeichnen vielleicht die Möglichkeit des Beginns eines politischen Erlebens und Fragens.




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