Kindliche Aggressionen verstehen und achtsam begleiten

Mit dem 4-Schritte-Modell zur Konfliktlösung ■ Aggressives Verhalten bei Kindern ist für Pädagoginnen und Pädagogen oftmals eine große Herausforderung. Häufig scheint auf den ersten Blick klar zu sein, was passiert ist: Ein bereits in der Vergangenheit aggressiv aufgetretenes Kind ist wieder einmal über die Stränge geschlagen. Doch ganz so einfach stellt sich die jeweilige Konfliktsituation bei näherer Betrachtung nicht dar. Es gilt, die Ursachen für das aggressive Verhalten genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei kann das 4-Schritte-Modell zur Konfliktlösung helfen.


Lilli und Samuel sitzen im Sandkasten und bauen eine Burg. Plötzlich kommt Lisa hinzu und entreißt Lilli die Schaufel und rennt weg. Lilli beginnt zu weinen, während Samuel aus dem Buddelkasten aufsteht und Lisa hinterherrennt. Samuel ruft: »Gib uns die Schaufel zurück!« Lisa lacht und rennt weiter. Dann gibt Samuel Gas und schubst Lisa, die dabei hinfällt und auch zu weinen beginnt. Die pädagogische Fachkraft Manuela sieht dies. Sie schimpft und schüttelt den Kopf: »Immer musst du die Mädchen ärgern. Du entschuldigst dich jetzt bei Lisa und setzt dich bis zum Mittagessen auf die Bank neben mich«.


Vielleicht lesen Sie das eingangs aufgeführte Beispiel aus dem Kita-Alltag und solche Situationen kommen Ihnen bekannt vor: Konflikte, die nur in einem kleinen Ausschnitt wahrgenommen und eifrig vom Erwachsenen bewertet und gelöst werden. Schnell, aber leider nicht effektiv. Wahrscheinlich empfinden Sie den Ausgang dieses Konfiktes auch als unglücklich. Gern möchte ich Sie dazu einladen, sich den kindlichen Aggressionen ein bisschen genauer zu widmen, denn diese haben immer eine Ursache und kein Kind ärgert »immer« und schon gar nicht ohne einen inneren Beweggrund. Im Anschluss möchte ich Sie einladen, im 4-Schritte-Prinzip solch eine Situation zu begleiten, möglichst achtsam und ohne eine Form der Gewalt (Beschämung, Bestrafung, Ausgrenzung). Denn Gewalt schadet den Kindern und sie erfahren kein positives Vorleben im Umgang mit Aggressionen, wenn wir diese unsererseits mit Gewalt beantworten.

Wenn Aggression entsteht

Gefühle wie Wut, Ärger, Ohnmacht oder Trauer lassen Kinder schneller zu Aggressionen greifen. Im pädagogischen Alltag stören sie den harmonischen Fluss des friedlichen Zusammenlebens. Wäre es nicht schön, wenn wir immer achtsam und freundlich miteinander wären und Konflikte kaum auftreten würden? Vielleicht … – gleichzeitig ist diese Vorstellung aber unmöglich, denn sobald mehrere Menschen aufeinandertreffen, werden die Grenzen der einzelnen Menschen sichtbar. Wut dient uns Menschen dazu, auf unsere eigenen Grenzen hinzuweisen und eine Veränderung in Gang zu setzen. Diese Energie ist kraftvoll, überaus wichtig und schützt das Individuum vor Kränkung. Wut kann zu Aggression werden, die uns Menschen hilft Hindernisse zu überwinden und auf eigene unerfüllte Bedürfnisse hinzuweisen. Problematisch werden Aggressionen erst dann, wenn durch sie das eigene Selbst oder ein anderer Mensch, ein anderes Lebewesen oder ein Gegenstand verletzt werden. Durch diese Schädigung wird Aggression häufig als Angriff verstanden (vgl. Focali 2011; Cierpka 2011).

Ich möchte Sie dazu einladen, Aggressionen vielmehr als eine wertvolle Kraft zu betrachten, mit der Kinder uns mitteilen möchten: »Hier stimmt etwas nicht. Mir geht es nicht gut und ich benötige Unterstützung«. Aggression dient als Schutz und hat immer eine Ursache. Grundsätzlich finden Aggressionen überall, unabhängig vom Alter, dem Geschlecht oder der Kultur statt. Sie werden durch die individuellen Erfahrungen gefördert, unterdrückt oder auch minimiert. Aggressivität ist ein Verhaltensmuster, das in jedem Menschen vorhanden ist, hingegen ist das Maß von Mensch zu Mensch verschieden (vgl. Varbelow 2003a).

Zielgerichtet beobachten, statt voreilige Schlüsse ziehen

Nehmen wir Aggressionen wahr, egal ob verbal oder körperlich, so ist ein Einschreiten der pädagogischen Fachkraft immer nötig. In erster Linie geht es darum, die Kinder vor Gewalt zu schützen. Bevor aber voreilige Schlüsse gezogen werden, sind zielgerichtete Beobachtungen und
Gespräche notwendig und wichtig.


Samuel, aus dem Eingangsbeispiel wollte vermutlich sein Spiel mit Lilli schützen, anstatt Lisa zu verletzten. Er benötigt eine feinfühlige Begleitung im Konfliktausgang, um zu erfahren, wie er auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen und seine Grenze aufzeigen kann, ohne dabei einem anderen Kind zu schaden.


Dreier und Preissing (2004) nennen dies die »Pädagogik des Innehaltens«. Es geht darum, als Erwachsener zu beobachten, sinnbildlich einen Schritt zurückzutreten, um Lernfortschritte wahrnehmen zu können. Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zu finden, in dem Kinder sich selbst ausprobieren können und schützend eingegriffen wird, wenn Gefahr droht, zwischen dem Ausprobieren lassen und dem Begleiten und Aufzeigen von Lösungen, zwischen Sicherheit und
Wiederholung und der Förderung der Autonomie. Greifen wir als pädagogische Fachkräfte regelmäßig ein, so verlassen sich die Kinder auf diese Lösungswege und vertrauen darauf. Gleichzeitig wird ihnen die Möglichkeit genommen, selbst Strategien zu entwickeln (vgl. Haug-Schnabel 2020).

Bei Aggressionen soll es nie darum gehen, einen »Täter« oder ein »Opfer« zu entlarven und Schuld zu verteilen. Im Gegenteil: Es geht vielmehr darum, als Konfliktbegleiter/in Sicherheit auszustrahlen
und für Klarheit zu sorgen. Bevor Sie die Situation interpretieren und bewerten, können Sie sich fragen:
  • Was habe ich gesehen?
  • Was braucht das Kind?
  • Was könnte zuvor geschehen sein?
  • Fühle ich mich durch vorherige Vorkommnisse befangen? Welche Gefühle werden in mir ausgelöst? Benötigen die Kinder Unterstützung?

Die pädagogische Fachkraft Manuela vernahm nur einen kleinen Ausschnitt des Konfliktes – das Schubsen von Samuel – und griff direkt ein. Wie Sie nun wissen, ging der Situation etwas voraus
und der Junge wusste sich vermutlich nicht anders zu helfen.


Haug-Schnabel (2020) spricht von einer »sensiblen Blickschulung«, mit Hilfe derer wir uns auch fragen, ob das Kind in dieser Situation überfordert scheint und daher mit Aggressionen reagiert oder
vielleicht selbst gelangweilt ist und in einer abgespielten Umgebung zu wenig Denkanreize erhält und aufgrund von Langeweile ein auffälliges Verhalten zeigt.

Nehmen wir aggressives Verhalten bei einem Kind öfter wahr, ist es hilfreich gemeinsam im Team das Kind zu beobachten und zu notieren, was passiert ist, was der Situation vorausging, an welchem Ort oder zu welcher Tageszeit die Aggression aufgetreten ist. Mit dieser Beobachtung entsteht ein möglichst ganzheitliches Bild, mit dem Ziel, das Kind in seinem Verhalten zu verstehen und es zu einem gewaltfreien Handeln zu befähigen.

Grundsätzlich können Sie, wie gesagt, immer davon ausgehen, dass solch ein Vorfall nicht grundlos passiert und das Kind in diesem Moment so gut handelt, wie es ihm möglich ist. Eigene Impulse
zu kontrollieren und Emotionen zu regulieren, lernen Kinder schrittweise, da das Gehirn der Kinder bis in das Erwachsenenalter reift und wichtige Verbindungen langsam aufbaut, die es zu einem kontrollierten Verhalten in Konflikten befähigt. Bis diese Fähigkeit zur Selbstregulation vollständig entwickelt ist, braucht es Erwachsene, die den Kindern in der Regulation zur Seite stehen.

Um die eigenen Bedürfnisse und Anliegen gesellschaftskonform zu äußern, benötigen Kinder uns als gute Vorbilder, bestimmte Entwicklungsvoraussetzungen (Perspektivübernahme, Empathie, Impulskontrolle) und viele Übungsanlässe. Reagieren wir auf aggressives Verhalten mit Beschämung, Bestrafung oder beispielsweise der Ausgrenzung aus der Gruppe, fühlt sich das Kind in seinem
Anliegen nicht verstanden. Es kann nicht lernen, wie es die Situation stattdessen hätte lösen können und zusätzlich erfährt das Kind, wie wir als pädagogische Fachkräfte unsere Macht einsetzen,
um die Situation zu regeln. Da Kinder das Verhalten ihrer Vorbilder kopieren, kann das dazu führen, dass sie zukünftig auch ihre Konflikte lösen, indem sie ihre Macht einsetzen und andere Kinder ausschließen, beschämen oder bestrafen.

Die Gefühle und Bedürfnisse hinter den Aggressionen erkennen
Jesper Juul definiert Aggressionen als ein Verhalten, welches »[…] beginnt, wenn der ruhige Fluss der Interaktionen blockiert ist und einer Person in einer bedeutenden Beziehung plötzlich die Erfahrung, für das Gegenüber wertvoll zu sein, abhandenkommt« (Juul 2014, S. 81). Die Gefühle eines Menschen – und damit auch Wut und Aggressionen – weisen auf erfüllte oder unerfüllte Bedürfnisse hin. Diese zu verstehen und für sich deuten zu lernen, ist ein wichtiger Schritt. »Pädagogische Fachkräfte tragen eine hohe Verantwortung, denn von ihnen wird eine kompetente Mitregulation der sich bei den Kindern erst entwickelnden Gefühlswelt erwartet. Eine achtsam-sensible Begleitung und feinfühlige Unterstützung der Kinder in verschiedenen Situationen erleichtert es ihnen, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu erfahren« (Haug-Schnabel 2020, S. 26).


Samuel fühlt sich vielleicht zornig, wütend oder hilflos, als Lisa ihm die Schaufel entwendete und so das Spiel unterbrochen wurde. Sein Bedürfnis nach Sicherheit, Ruhe oder vielleicht Selbstwirksamkeit wurde gestört und motivierte ihn zu einer Handlung. Er stand auf und lief hinter Lisa her und forderte sie auf, die Schaufel zurückzugeben. Als sie dem nicht nachkam, verstärkte sich die Situation und er schubste sie. Die Ursache für seine Handlung wurde von der pädagogischen Fachkraft Manuela nicht gesehen. Er wurde in seinem Tun gebremst und sollte zur Strafe vom Spiel ausscheiden. Doch welche Gefühle wird dies wohl in dem Jungen auslösen und was kann er daraus lernen? Leider nichts, was ihm für das nächste Mal weiterhelfen wird. Er fühlt sich nun wahrscheinlich unverstanden, nicht gesehen oder gar gehört und sein Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit oder Selbstwirksamkeit bleibt unerfüllt. Seine Gefühle dürfen nicht sein. Er erfährt, er ist nicht okay, so wie er ist. Womöglich lässt er seinen angestauten Emotionen an einer anderen Stelle freien Lauf, was durchaus gesund ist, aber leider nicht förderlich.


Vier-Schritte zur Konfliktlösung

Anhand von 4 Schritten möchte ich Ihnen einen möglichen Weg zur Konfliktlösung nahelegen. Diese haben sich für mich in der pädagogischen Praxis wie auch im privaten Alltag bewährt:

Schritt 1: Situation einschätzen
Zu Beginn ist es wichtig, durch eine sensible Beobachtung einzuschätzen, ob ein Eingreifen notwendig ist. Bei gewaltvollem Handeln muss seitens der pädagogischen Fachkraft immer eingegriffen werden, denn Ausdrucksweisen wie hauen, beißen, schubsen, ausgrenzen oder beleidigen zeigen: Die Kinder brauchen Unterstützung.

Schritt 2: Situation begleiten
An dieser Stelle geht es nach einer objektiven Beobachtung darum, zu verstehen, was die Kinder brauchen und welche Bedürfnisse verletzt oder unerfüllt sind. Gehen Sie auf Augenhöhe (oder darunter) und schauen Sie, ob das Kind Begleitung in der Ko-Regulation benötigt. Machen Sie sich immer wieder bewusst, dass das Kind, welches auf aggressives Verhalten zurückgreift, sich oft in einer Notsituation befindet und Stress erfährt. Dieser lässt das Gehirn meist für Sprache unerreichbar sein. Einigen Kindern hilft es, gehalten und begrenzt zu werden, andere benötigen Abstand und eine Pause, bevor sie für ein Gespräch bereit sind. Hier gilt es achtsam zu sein, damit das Kind kein übergriffiges Verhalten seitens der Erwachsenen erfährt (z.B. ungefragtes Anfassen). Fühlen Sie sich in der Situation selbst aufgebracht und/ oder überfordert, wäre es ratsam, sich selbst Unterstützung zu holen bzw. vor der Begleitung sich selbst zu beruhigen (atmen, singen, etwas trinken). Die Kinder benötigen eine Fachkraft, die ihnen mit Offenheit, Wertschätzung und einem echten Interesse begegnet. Strahlen Sie Sicherheit aus und akzeptieren Sie, wenn ein Kind Raum und Zeit benötigt.

Schritt 3: Situation besprechen und lösen
Erst wenn ein Kind sich wirklich sicher und wohlfühlt, ist es zum Lernen bereit. Möchten Sie daher die Situation mit den Kindern besprechen, so sorgen Sie für einen angstfreien Raum und warten Sie ab, bis das Kind für Sprache zugänglich ist. Achten Sie darauf, dass die Kinder gleichermaßen zu Wort kommen und übersetzen Sie die Kinder wertfrei, wenn nötig. Sie fungieren als Sprachrohr beziehungsweise Vermittler/in, nicht als Jurist oder Juristin. Gern können Sie Gehörtes zusammenfassen und sich vergewissern, ob es für das Kind stimmig ist. Es gibt keine Täter oder Opfer, in der Regel sind beide Parteien betroffen. Regelmäßige Gespräche über die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder helfen ihnen dabei, langfristig selbst ihre Grenzen aufzuzeigen und zu vertreten. In einem gemeinsamen Austausch können gemeinsam Lösungen gefunden werden. Meist haben die Kinder hier sehr gelungene Ideen, die sie selbst erproben können. Kein Kind sollte aus einem Konflikt als Verlierer oder gar Schuldiger hervorgehen; es geht darum, positive Verbindungen zu schaffen und die Kinder, wenn nötig, wieder zurück ins Spiel zu begleiten. Die klassische Entschuldigung ist hierfür überflüssig, hingegen können schmerzhafte Geschehnisse bedauert werden und achtsam geprüft werden, ob es am Ausgang der Situation allen Kindern »gut« geht.

Schritt 4: Achtsamkeit
Konflikte zu erleben ist für Kinder häufig sehr anstrengend und für pädagogische Fachkräfte ebenso herausfordernd. Bauen Sie regelmäßig Momente der Achtsamkeit in Ihren Alltag und den der Kinder ein. Begleiten Sie die Kinder bei ihrem Lernprozess, wie sie Reize frühzeitig spüren und kontrollieren können, ohne sie zu unterdrücken. Regelmäßige Pausen, Zeiten der Entspannung, reizarme Zeiten und Räume, Meditationseinheiten, Fantasiereisen, Massagen und Klanggeschichten tragen zur Entspannung bei und reduzieren den Stress (vgl. Hohmann 2020).

Fazit

Konflikte mit aggressiven Handlungen gehören zum Alltag und sind für die Entwicklung überaus wichtig. Denn normalerweise machen Aggressionen auf Bedürfnisse aufmerksam und geben den Kindern eine wichtige Kraft »Nein« zu sagen und auf ihre Grenzen hinzuweisen. Dies ist unheimlich wichtig, da sie sich so selbst schützen und die Persönlichkeit stärken. Starke Kinder entwickeln ein starkes Ich und dieses schützt sie selbst vor Missbrauch und Übergriffen!

Literatur

  • Cierpka, M. (2011): Faustlos. Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen. Freiburg im Breisgau.
  • Dreier, A./Preissing, J. (2004): PONTE – Kindergärten und Grundschulen auf neuen Wegen. Teil II: Ergänzende Materialien. Berlin.
  • Focali, E. (2011): Aggressionen und Gewalt begegnen. Konfliktbewältigung in der Kita. Köln.
  • Haug-Schnabel, G. (2020): Umgang mit aggressivem Verhalten von Kindern. Praxiskompetenz für Kitas. Freiburg im Breisgau.
  • Hohmann, K. (2020): Wut erleben & Aggressionen verstehen – mit intensiven Gefühlen achtsam umgehen. Limbach-Oberfrohna.
  • Juul, J. (2014): Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. Frankfurt a. M.
  • Varbelow, D. (2003a): Schulklima und Schulqualität im Kontext abweichender Verhaltensweisen. Marburg.
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus KiTa aktuell ND 11-2020, S. 268-270


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