Am Anfang war das Staunen

Die Exploration des kindlichen Geistes

Augenblicke kindlichen Staunens zu erleben, sind für mich sowohl als Mutter als auch als Pädagogin immer wieder Geschenke. Kinder zum Staunen zu bringen ist daher umso bereichernder. Studien zufolge ist davon auszugehen, dass Staunen wichtige und wertvolle Prozesse eigentätigen, selbständigen Lernens und Denkens in Gang setzt (vgl. Schulte-Janzen 2002). Es lohnt sich also immer, einen Blick auf das kindliche Staunen zu lenken.

Beim Staunen handelt es sich um eine Emotion, die beim Erleben von etwas Unerwartetem auftritt und ft mit Verwunderung assoziiert wird. Freese spricht im Zusammenhang mit dem Staunen vom beglückendsten unter den intellektuellen Gefühlen (vgl. Freese 2002, 17).

Kinderphilosophen von heute bezeichnen das Staunen als „einen Auslöser philosophischen Nachdenkens“ (Schulte-Janzen 2002, 9) und beziehen sich in diesem Kontext auf Platon und Aristoteles, welche zu ihrer Zeit bereits davon überzeugt waren, dass Staunen das Philosophieren initiiert (vgl. Baack 2014, 13). Staunen, Zweifeln, Betroffensein sind die Wurzeln der Philosophie, so die Innsbrucker Kinderphilosophin Doris Daurer, und in allen drei Dingen sind Kinder uns Erwachsenen überlegen (vgl. Daurer 1999, 25).

Verwunderung und Staunen

Das Verwundert sein, das Staunen, regt zum Nachdenken und Nachforschen an. So bringt Freese zu Beginn seines Buches folgendes Beispiel, das er einem Roman von Christa Wolf (1987) entnommen hat und welches ich an dieser Stelle wiedergeben möchte: Ein kleiner Junge fragt – auf der Toilette sitzend seinen Vater durch die Klotüre hindurch – wie denn die große Klotüre in sein kleines Auge hineinkomme. Der Vater fertigte ihm daraufhin eine Zeichnung zur Klotüre und zum Auge an, in welchem sich die Lichtstrahlen kreuzen und den Weg über den Sehnerv zum Sehzentrum, welches sich im Gehirn befindet. Es sei die Angelegenheit des Gehirns, das winzige Abbild im Bewusstsein des Empfängers – die Türe – wieder auf reale Klotürgröße zu bringen. Nun möchten Sie sicherlich wissen, ob sich der Kleine mit der Antwort zufrieden gab. Er fragte weiter, wie er sich denn sicher sein könne, dass ihm sein Gehirn die Klotüre wirklich wieder auf die richtige Größe bringe (vgl. Freese 2002, 7).

Jedenfalls eine spannende Frage, die die kindliche Neugierde und den kindlichen Wunsch nach Erklärung von Phänomenen körperlicher und wissenschaftlicher Natur widerspiegelt. Das Kind will erfragen und sucht selbst nach plausiblen Antworten innerhalb seiner kindlichen Vorstellungskraft. Diese selbständigen Erklärversuche müssen nicht immer richtig sein, im Gegenteil, es ist der vielbesagte Weg einmal mehr das Ziel.

„Sei nicht so neugierig!“ - Diesen Satz haben Kinder vor nicht allzu langer Zeit vielleicht noch häufig gehört. Mittlerweile hat sich die Haltung diesbezüglich in eine erfreuliche Richtung gewandelt. Wissbegierde und Forscherdrang seitens der Kinder werden nach Möglichkeit unterstützt und gefördert, da es inzwischen wissenschaftlich erwiesen und hinlänglich bekannt ist, wie wichtig das kindliche Explorieren für dessen Entwicklung ist. Dies gilt gleichermaßen für dessen geistig-kognitive Expansion wie etwa für die Exploration seiner Umwelt.

Es gibt nicht immer nur „die eine richtige Antwort“

Kindliche Fragestellungen verdienen es, aufmerksamst gehört und ernst genommen zu werden. Nicht selten aber bringen uns diese Fragen an unsere Grenzen. Dies kann einerseits der Fall sein, weil sie vielleicht nicht mit Erwachsenenlogik zu beantworten sind, andererseits bringen sie uns vielleicht mit inneren Vorgängen in Verbindung, denen wir uns (jetzt) nicht aussetzen möchten, weil sie z. B. verletzte Gefühle hervorrufen.

Wenn Eltern oder Pädagogen merken, dass Kinder Fragen stellen, sollten diese sie ermuntern, diese Fragen selbst zu beantworten. Was spricht dagegen, dass Kinder sich die Antworten auf ihre Fragen selbst geben? Im Sinne einer gewünschten Sprachförderung ist dies etwa ein Ansatzpunkt. Ich persönlich vertrete die Ansicht, es muss viel mehr hingehört werden, was Kinder zu sagen haben. Was mich angeht: Ich beispielsweise staune gerne und häufig darüber, was in Kinderköpfen so vor sich geht! Es sind spannende Fragen und noch spannendere Antworten. Und könnte es nicht sogar möglich sein, dass kindliche Antworten auf – von erwachsener Seite gestellte – Fragen überraschende Ergebnisse hervorbrächten, von welchen selbst wir Erwachsene profitieren könnten?

Leider geschieht häufig genau das Gegenteil. Oft wollen wir als Pädagog*innen die Kinder zu einer bestimmten Antwort hinlenken, die wir uns im Vorfeld bereits zurechtgelegt haben. Unterschiedliche Absichten treiben uns an. Einerseits wollen wir bestimmte Lehr- und Lernziele erreichen, andererseits möchten wir den Kindern bestimmte Inhalte und Wissen vermitteln, außerdem sollen die „Frage-Antwort-Gespräche“ möglicherweise Struktur in den Verlauf einer Bildungseinheit bringen und den Verlauf absehbar machen. Dies gilt jedoch weniger, wenn es um die echten „Fragen des Lebens“ geht. Wäre es nicht besser, sich für die wirklichen Antworten der Kinder zu interessieren, anstatt sie zu einer, von uns gewünschten – vorgefertigten – Antwort, hinzuführen? Kinder sind in ihren Fragen und Antworten noch stark bei sich – also sehr egozentrisch in einem positiven Sinne. Sie beziehen Gegebenheiten auf sich und sind selbst der Mittelpunkt allen Geschehens.

Was willst du hören?

Eine spannende Überlegung zum „Selberdenken, statt Hinterherdenken“ tätigt Doris Daurer im Zuge eines Vortrages, der als Radiosendung aufgezeichnet wurde. Ich möchte ihre Ausführungen zu einer spezifischen Situation an dieser Stelle kurz ausführen:

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Die Kindergartenpädagogin möchte die Kinder auf das St. Martinsfest und den Laternenumzug vorbereiten und erzählt besagte Geschichte mithilfe eines Bilderbuches. Schon bald werfen die Kinder ihre Gedanken zu der Geschichte ein und sagen:
  • „Aber mein Mantel ist nicht rot, wie der vom Heiligen Martin, meiner ist grün.“
  • „Bei meinem Mantel kratzt es immer so, da hinten beim Hals. Mein Mantel ist gar nicht fein.“
  • „Mein Mantel hat hinten ein kuscheliges Fell.“

Und spätestens als ein weiteres Kind sagt: „Ich will einmal einen eigenen Mantel, und nicht immer den, der meiner großen Schwester zu klein ist“, lenkt die Pädagogin ein. Diese Aussagen zeigen, so Daurer, dass Kinder in ihrem Denken noch sehr stark bei sich sind. Spätestens jetzt findet die Pädagogin jedoch, dass sich die Sache in die falsche Richtung entwickelt, denn sie wollte doch von den Kindern etwas ganz anderes hören. Sie wollte gern, dass die Kinder über das Teilen sprechen, denn darum geht es ja eigentlich in dieser Geschichte, nicht wahr? Folglich will die Pädagogin, dass sich die Kinder mit dem verbinden, was sie zu dieser Geschichte „vordenkt“. Und sobald das erste Kind sagt: „Ah, ich sehe schon, was der Martin im Bild macht. Der teilt den Mantel!“ wird diese Wortmeldung von Seiten der Pädagogin gefeiert. Vielleicht wird sie die Aussage noch selbst wiederholen oder dies von einem anderen Kind tun lassen. Sie wird genau die Antwort zum Teilen bestärken. Alle anderen Wortmeldungen von Seiten der Kinder finden wenig Beachtung, dabei wären es doch gerade diese Äußerungen, die zeigen, wie die Kinder wirklich fühlen und was sie wahrhaftig berührt, wenn sie die Geschichte vom Heiligen Martin hören. Dies bedeutet, jene Kinder die gut ahnen können, was das Gegenüber hören will und sich gut dorthin führen lassen, wo die Pädagogin hinwill, sprich jene, die gut im „Hinterherdenken“ in Bezug auf vorgefertigte Antworten sind, werden im Sozialisationsprozess gefeiert. Dies führt jedoch dazu, dass mit der Zeit das „Selberdenken“, dieses „Lebendigbleiben“ und zu sich selbst „Hinspüren“ oder in sich „Hineinspüren“: Was bedeutet mir die Geschichte mit dem St. Martin und womit verbinde ich mich? einem „Hinterherdenken im Kontext gewünschter Antworten“ weicht. Leider wird dieses „Selberdenken“ im Sozialisationsprozess zu wenig gefeiert. Wir Erwachsenen sollten uns fragen, wie wir mit unseren eigenen Fragen und den Fragen unserer Kinder und deren Antworten darauf umgehen (vgl. Dauerer 2017).

Nehmen wir uns Zeit für die Fragen seitens der uns anvertrauten Kinder, denn sie sind es wert, Gehör zu finden. Hören wir hin, was Kinder bewegt, was sie fühlen und worum sich ihre Welt dreht. Auf diese Weise unterstützen wir das ihnen innewohnende Potenzial und leiten sie an, ihr Wissen in alle Richtungen zu erweitern – kurzum zu explorieren.

Von Kindern lernen

Wir können nur profitieren, wenn wir das Staunen wieder neu lernen und uns für das Staunen öffnen und uns vor allem Zeit dafür nehmen und die notwendige Geduld aufbringen. In diesem Zusammenhang denke ich immer an meine drei – in Turnschuhen und Sandalen in Pfützen springende – Kinder. Der erste Moment, in dem das erste Kind unvermutet in eine Pfütze springt – bevor der Papa noch „Nein“ schreien kann, das andere Kind das Wasser ins Gesicht bekommt, ich als Mutter sofort an kalte Füße, Bakterien und einen Riesenhaufen Wäsche denke… Dann schaue ich in die Augen meiner kleinen Tochter, die vor Freude, Verwunderung und Staunen strahlt, dass ihre Schwester ihr mit einem Sprung das Pfützenwasser bis ins Gesicht spritzen kann.

Unbezahlbar ist auch das Staunen des großen Bruders darüber, wie lustig sich das Wasser in den Schuhen beim Gehen anfühlt… Also unterdrücken mein Mann und ich unseren erwachsenen Unmut, Ärger und die Sorgen. Wir fassen uns ein Herz und halten den Kindern keinen Vortrag mit erhobenem Zeigefinger über unsere Bedenken zum Thema Erkältungen und springen selbst in die nächste Pfütze. Passanten gehen an uns vorüber, schütteln die Köpfe oder lächeln. Ja, heute sind wir mal alle fünf verrückt. Ich staune, wie hoch das Pfützenwasser spritzt und ich wundere mich, wie toll sich so richtig gefüllte Turnschuhe bei jedem Schritt anfühlen. Und ich staune – über mich, über meinen Mann und über den Augenblick!

Literatur:

  • Baack, Wibke: Philosophieren mit Kindern. Theorien und Methoden zur Umsetzung im Grundschulunterricht. Diplomica 2014
  • Daurer, Doris: Staunen – Zweifeln – Betroffensein. Mit Kindern philosophieren. Beltz 1999
  • Daurer, Doris: Focus: Kinder sind Philosophen. Radiosendung 25.11.2017. ORF.at/Vorarlberg 2017. Link: www. vorarlberg.orf.at/v2/radio/stories/2880201 (Stand 10/2020)
  • Freese, Hans-Ludwig: Kinder sind Philosophen. 4. Auflage, Beltz Quadriga 2002
  • Schulte-Janzen, Annemarie: Staunen – Lernen: Staunen und seine Bedeutung für den Sachunterricht der Grundschule. Lang 2002
  • Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages. Aufbau 1987. In: Freese, Hans-Ludwig: Kinder sind Philosophen. Beltz Quadriga 2002

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
klein&groß 12-2020


Verwandte Themen und Schlagworte