Sexuelle Bildung von Anfang an

Oder warum Sexualität ein elementar-pädagogisch bedeutsames Lernmoment ist

Inhaltsverzeichnis

  1. 1.1 Sexualpädagogik- ein Teilgebiet der Sozialpädagogik
  2. 1.2 Sexualerziehung als Sozialerziehung
  3. 1.3 Von der Sexualaufklärung über die Sexualpädagogik hin zur sexuellen Bildung
  4. 2. Sexuelle Bildungskompetenzen
  5. 2.1 Sexuelle Bildungskompetenzen in einzelnen Handlungsfeldern
  6. 2.2 Sexuelle Bildung & sexuelle Entwicklung in der Kindheit
  7. Sexuelle Entwicklung im Jugendalter
  8. 3. Sexuelle Bildung & Arbeit mit Sorgeberechtigten
  9. 3.1 Der Elternabend
  10. Literatur

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Menschliches Leben ist abhängig von sexuellen Begegnungen zwischen Menschen. Trotz dieses simplen Umstandes ist bis in die Gegenwart kindliche Sexualität für die meisten Menschen - pädagogische Fachkräfte eingeschlossen - eine Herausforderung, berührt sie doch allzu sehr eigene intraindividuelle Schamgrenzen. Kinder gehen im Gegensatz zu Erwachsenen offen und neugierig auf die (sexuelle) Welt zu. Dieser Umstand ist insofern nicht ungewöhnlich, als dass der junge Mensch noch wenig Vorstellungen von Scham und sozialen Regularien besitzt.

1. Sexualität - eine herausfordernde Begriffsklärung

Nun ist gerade das Sexuelle ein äußerst diffiziles Phänomen, eine klare Definition des Wesenskerns von Sexualität ist nahezu unmöglich zu definieren (vgl. Lautmann 2002). Allerdings bietet die amerikanische Sexualtherapeutin Offit in diesem Zusammenhang eine differenzierte Annährung an: „Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder eine billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form von Zärtlichkeit, eine Art der Regression (1) , eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung“ (Offit, 1979: 16).

Offits Differenzierung verdeutlich die Mannigfaltigkeit des Sexualbegriffes, der historisch betrachtet erst 1820 durch den Botaniker August Henschel in seinem Buch „Von der Sexualität der Pflanzen“ in die Literatur eingeführt wurde. Henschel differenziert darin zunächst männliche und weibliche Pflanzen und beschreibt deren Fortpflanzungsakt (vgl. Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung Hamburg, 2000).

Im Gegensatz zu Offit, die stark durch die zweite Frauenbewegungswelle beeinflusst wurde, legte Henschel eine stark biologistische Definition von Sexualität vor, diese wurde – und wird in sehr konservativen Kreisen bis in die Gegenwart hinein - auf stark biologistische Reduktion des Sexualaktes mit dem Ziel der Zeugung von Nachkommen ausgelegt und interpretiert. Dies zeigt für die menschliche Sexualität bereits zwei wichtige Entwicklungslinien auf.


Merke: Der Sexualitätsbegriff wird innerhalb der Sexualwissenschaften immer an der Schnittstelle zwischen Biologie und Soziologie verhandelt und wird zumeist als Soziosexualität bezeichnet.


Für die (Kindheits-)pädagogik ist eine Überbetonung der biologischen Anteile des Sexuellen problematisch, insofern diese jedwede menschliche Interaktion, die im Phänomen des Sexuellen ebenfalls angelegt ist, negiert und damit eine Reduktion menschlicher Interaktionsvariablen impliziert. Für die (sexual-)pädagogische Arbeit bietet Sielert daher in Anlehnung an Offit einen weiteren Sexualbegriff an: „Sexualität kann begriffen werden als allgemeine Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedener Hinsicht sinnvoll ist“ (Sielert 1993: 43). Die untenstehende Quellendifferenzierung ist als in sich gleichberechtigt anzusehen, die nicht alle erfüllt werden, um eine ganzheitlich-erfüllte Sexualität haben zu können

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Darüber hinaus lassen sich auch weitere Differenzierungsaspekte ausbuchstabieren:

Biographischer Aspekt:
  • Sexualität stellt einen lebenslangen Prozess dar, der bereits vorgeburtlich stattfindet. So spielen bereits Embryos an ihren Genitalien (vgl. Borneman 1981). Nach Sigmund Freuds Auffassung haben schon Kleinkinder eine eigene „kindliche Sexualität“, die sich über das Jugendalter mit der Frage „Wer möchte ich sexuell sein?“ bis hin ins Erwachsenenalter erstreckt und erst durch den Tod beendet wird (vgl. Lautmann 2002).
Genderspezifischer Aspekt:
  • Wie Sexualität erlebt wird, z. B. in Bezug auf das Erleben eines Orgasmus (vgl. Masters/Johnson, 1967), hängt entscheidend vom Geschlecht ab. Über das Geschlecht werden auch Ge- und Verbote, die mit Sexualität einhergehen, verkoppelt. Es konnte nachgewiesen werden, dass bspw. Frauen mit Behinderung häufiger als Männern unterstellt wird, keinen Sexualtrieb zu haben (vgl. Geifrig, 2003; Schmetz 2007).
Ambivalenz der Sexualität:
  • Wie andere Lebensaspekte auch, hat Sexualität Schattenseiten, wie bspw. Gewalt, Aggression und Machtausübung, die in sexuellen Zusammenkünften ausgeübt werden (vgl. Martin/Niemann 2000).

Formen der Sexualität:

  • Durch das Christentum und durch dessen starke Betonung des Fortpflanzungsaspekts sind gleichgeschlechtliche liebende Menschen teilweise bis in die Gegenwart von Strafverfolgung und Mordanschlägen bedroht (vgl. Hierholzer 2009; Fiedler 2004). Noch in der Antike waren homosexuelle Beziehungen geachtet und teilweise aus pädagogischer Perspektive positiv hervorgehoben (Knabenliebe im antiken Athen).

Subsumierend kann festgehalten werden, dass Sexualität als Begriff relativ jung ist und biologisch zuerst definiert wurde. Diese biologische Grundannahme blieb in den Sexualwissenschaften lange Zeit vorherrschend. Vor allem gesellschaftliche Umbruchssituationen, allen voran die zweite Welle der Emanzipationsbewegungen, hat die Perspektive von Sexualität an die Schwelle zwischen Biologie und Soziologie gerückt. Insgesamt kann daher Sexualität als eine humane Triebenergie verstanden werden, die lebenslang besteht, erlernt und vertieft wird, kulturell, historisch, biografisch, geschlechts- und schichtspezifisch geprägt ist, verschiedenartige sexuelle Ausdrucksformen annehmen kann (Homosexualität, Bisexualität, Heterosexualität) und sowohl körperliche als auch seelische Aspekte umfasst und unterschiedliche Geschlechterkomponenten annehmen kann (Inter*- und Trans*).



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