Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in Kitas

Warum Wegsehen, Verschweigen und Banalisieren nicht weiterhelfen

Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte kommen in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität in jeder Kindertageseinrichtung vor. Sie dürfen aber nicht hingenommen oder gar begünstigt werden.

Wenn Eltern ihr Kind in eine Kindertageseinrichtung geben, gehen sie davon aus, dass ihr Kind in guten Händen ist. Das Kind spürt die Zuversicht der Eltern, dass die Betreuung in der Kita seinem Interesse entspricht, und entwickelt seinerseits Vertrauen in die es umsorgenden Fachkräfte. In den meisten Fällen entsteht auf diese Weise ein positiver Kreis der Sicherheit, bei dem sich die Fürsorge durch die Eltern und die ergänzende Förderung in der Kindertageseinrichtung wechselseitig zum Wohl des Kindes ergänzen. Das ist aber nicht immer so. Gar nicht so selten gehen Gefahren für Kinder von der Kita aus. Fehlverhalten durch pädagogische Fachkräfte führt dazu, dass das Wohl einzelner Kinder oder der Kindergruppe insgesamt beeinträchtigt oder sogar gefährdet ist.

Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte kommen – in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität – in jeder Kindertageseinrichtung vor. Sie dürfen aber nicht hingenommen oder gar begünstigt werden. Auch Wegsehen, Verschweigen oder Banalisieren helfen nicht weiter. Professionell tätig zu sein bedeutet, das eigene Handeln immer wieder neu zu reflektieren, Schwachstellen zu identifizieren, Fehler zu korrigieren und daraus zu lernen. Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, bei dessen Verwirklichung Kindertageseinrichtungen und insbesondere der Leitung eine hohe Verantwortung zukommt.

Ausmaß von Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte

Ein gravierendes Problem ist die unzureichende Datenlage. Eine genaue Einschätzung der Häufigkeit und Intensität von Fehlverhalten und Gewalt in der Kita fällt daher schwer. Zu unterscheiden sind
  1. strafrechtlich relevante Fälle, die vor Gericht verhandelt werden (vgl. Maywald 2019 b, S. 13 ff.),
  2. Fälle, die von Kita-Trägern an die für sie zuständige Aufsichtsbehörde gemeldet wurden sowie
  3. Fälle, die niemals außerhalb der Kita und häufig auch der einzelnen Gruppe bekannt werden, daher zumeist ohne Konsequenzen bleiben und dem sogenannten Dunkelfeld zugeordnet werden müssen.

Dass weniger schwere Fälle üblicherweise nicht der Polizei oder der Staatsanwaltschaft bekannt sind, schließt nicht aus, dass damit arbeitsrechtliche Folgen verbunden sein können. So sind Träger von Kindertageseinrichtungen gemäß § 47 SGB VIII verpflichtet, der für sie zuständigen Aufsichtsbehörde (Landesjugendamt) „Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen“ unverzüglich zu melden. Bedauerlicherweise existiert keine bundesweite Statistik, in der Häufigkeit und Inhalte dieser gesetzlich verpflichteten Meldungen aufgeführt sind. Auch die einzelnen Landesjugendämter führen keine einheitliche und detaillierte Statistik der bei ihnen eingegangenen Meldungen gemäß § 47 SGB VIII.

Auch wenn die Datenlage insgesamt sehr dürftig ausfällt, liefert eine Umfrage von ZEIT ONLINE aus dem Jahr 2016 einige interessante Anhaltspunkte zu Verbreitung und Art von Fehlverhalten und Gewalt in Kitas. In zwei Artikeln unter dem Titel „Abgrund unterm Regenbogen“ und „Was macht ihr da mit unseren Kindern?“ (ZEIT ONLINE 2016a, 2016b) wurden nach Recherchen in zahlreichen Bundesländern drastische Fälle von professionellem Fehlverhalten sowie die Reaktion der Kitas und Behörden dargestellt. Gleichzeitig wurde eine Umfrage gestartet, bei der die Leserinnen und Leser von ZEIT ONLINE Gelegenheit hatten, über ihre Erfahrungen zu berichten. Die Daten wurden anschließend in streng anonymisierter Form der Deutschen Liga für das Kind für weitere Auswertungen zur Verfügung gestellt.

Bei der Interpretation dieser Daten gilt es zu berücksichtigen, dass die Umfrage nicht repräsentativ ist. Statt einen Querschnitt der Eltern zu befragen, konnten interessierte Leserinnen und Leser den Fragebogen ausfüllen. Dabei wurde vorwiegend nach Missständen in Kitas gefragt, sodass die Ergebnisse keine Schlüsse über die allgemeine Qualität in Kitas zulassen. Außerdem handelt es sich bei den Antworten um subjektive Schilderungen, die keiner Überprüfung unterzogen wurden. Obwohl die Umfrage demnach nicht die Kriterien einer wissenschaftlichen Untersuchung erfüllt, liefern die Antworten dennoch wichtige Hinweise auf Missstände und machen deutlich, wie groß der Forschungsbedarf in diesem Bereich ist.

An der Umfrage haben 2.278 Personen teilgenommen, darunter 2.034 Elternteile und 244 Fachkräfte aus sämtlichen Bundesländern. Die Frage, ob die Einrichtung über ein Kinderschutzkonzept verfügt, haben 403 Teilnehmende mit „ja“, 1.381 (darunter 51 Fachkräfte) mit „ich weiß nicht“ und 394 mit „nein“ beantwortet. Die Frage, ob es in der Einrichtung einen verbindlichen Verhaltenskodex für Fachkräfte gibt, beantworteten 554 Personen mit „ja“, 1.374 (darunter 81 Fachkräfte) mit „ich weiß nicht“ und 300 mit „nein“.

Es fällt auf, dass die Leser und Leserinnen, die angaben, dass die Kita sowohl über ein Kinderschutzkonzept als auch über einen verbindlichen Verhaltenskodex für Fachkräfte verfügt (insgesamt 277 Personen), mit der Einrichtung überwiegend zufrieden waren. Von ihnen haben 18 Teilnehmende die Einrichtung explizit gelobt. Demgegenüber haben 55 Personen Missstände benannt, zumeist „grober Umgangston zwischen Mitarbeitern und Kind“ und „Kinder werden über längere Zeit alleine gelassen“. Von diesen 55 gaben 45 an, dass auch strukturelle Missstände bestehen, und zwar meist zu wenig und ständig wechselndes Personal.

Dabei fällt auf, dass von den Personen aus Einrichtungen mit einem Kinderschutzkonzept und einem verbindlichen Verhaltenskodex lediglich in sechs Fällen angegeben wurde, dass auf eine Beschwerde hin seitens der Einrichtung mit Ignoranz, abwiegelnd oder gar nicht reagiert wurde, in mehr als 25 Fällen aber laut dem Fragebogen eine Reaktion wie „Ansprechen in der nächsten Sitzung“, „Abstellen der Verhaltensweise“ oder „Erarbeitung einer Kompromisslösung“ erfolgte. Dies legt nahe, dass sich das Vorhandensein eines Kinderschutzkonzepts und eines verbindlichen Verhaltenskodexes positiv auf die Praxis in der Kita auswirkt.

Weiterhin wurden die Leserinnen und Leser in der Umfrage nach möglichen Missständen in der Kita ihres Kindes gefragt, wobei zwischen strukturellen Missständen und individuellem Fehlverhalten von Fachkräften unterschieden wurde. Strukturelle Missstände haben 1.418 Antwortende angegeben, dies entspricht etwas mehr als 60 Prozent. In der Regel wurde beklagt, dass in der Kita zu wenig, ständig wechselndes und/oder zu schlecht ausgebildetes Personal vorhanden sei. Die folgende Aussage eines Elternteils illustriert dies beispielhaft: „Bei Krankheit kommen schnell auf einen Erzieher zwölf bis 15 Kinder – bei uns im Alter ab zwei Jahren –, was zu viel war und ist. Ich finde es auch schwierig, dass im Kita-Alltag kaum Zeit ist, dass die Erzieher sich mal in Ruhe absprechen, da sie immer voll eingesetzt sind.“ Dass strukturelle Missstände aus Sicht von Eltern Fehlverhalten von Fachkräften begünstigt, belegt die folgende Aussage: „Fehlverhalten (der Kinder) wird mit lautem Schreien und intensivem Schimpfen bestraft. Das ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass so viele Kinder auf eine Erzieherin kommen und da dann einfach der Geduldsfaden reißt.“

Individuelles Fehlverhalten von Fachkräften haben 1.170 Personen (etwas mehr als 50 Prozent) angegeben. Anhand einer vorgegebenen Liste konnten die an der Umfrage teilnehmenden Leserinnen und Leser unterschiedliche Formen gravierenden Fehlverhaltens ankreuzen (Mehrfachnennungen waren möglich). Nach Häufigkeiten sortiert ergibt sich das in Tabelle 1 dargestellte Bild.

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Bei insgesamt 169 Datensätzen treffen alle drei Punkte „Keine strukturellen Missstände“, „Kinderschutzkonzept ist vorhanden“ und „Verbindlicher Verhaltenskodex für die Fachkräfte liegt vor“ zu. Darunter sind lediglich sechs Datensätze, in denen von gravierendem Fehlverhalten durch Fachkräfte berichtet wird. Dieses Ergebnis legt nahe, dass ausreichend vorhandenes, nicht ständig wechselndes und gut ausgebildetes Personal in Kombination mit einem Kinderschutzkonzept und einem verbindlichem Verhaltenskodex individuelles Fehlverhalten erheblich reduzieren kann.

Vielfalt der Formen von Gewalt

Gewalt gegen Kinder durch pädagogische Fachkräfte kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Es kann einmalig oder wiederholt auftreten, in aktiver oder passiver Form – durch Unterlassen einer notwendigen Fürsorgehandlung – geschehen. Die Gewalt kann massiv sein oder auf leisen Sohlen daherkommen. Sie kann den Körper und/oder die Seele des Kindes verletzen oder sich als sexualisierte Gewalt in Form eines sexuellen Übergriffs oder Missbrauchs zeigen (vgl. Tabelle 2).

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Individuelles Versagen oder strukturelle Ursachen?

Fehlverhalten und Gewalt durch Fachkräfte haben multifaktorielle Ursachen. Ihr Auftreten wird durch das Zusammenkommen verschiedener Risikofaktoren begünstigt. In jedem Fall spielt individuelles Versagen eine Rolle, häufig vor dem Hintergrund eigener belastender biografischer Erfahrungen. Ein zweiter Risikofaktor, der Fehlverhalten und Gewalt begünstigt, besteht in Ausbildungsdefiziten und mangelnden professionellen Kenntnissen und Fertigkeiten. Auch strukturelle Mängel begünstigen die Wahrscheinlichkeit professionellen Fehlverhaltens. Eine schlechte räumliche Ausstattung, zu viele Kinder in zu kleinen Räumen, ein nicht ausreichender Fachkräfte-Kind-Schlüssel und vorübergehende oder sogar langfristige personelle Ausfälle erhöhen das Risiko, dass es zu Gewalt durch Fachkräfte kommt.

Ein weiterer Risikofaktor besteht in der fehlenden Unterstützung im Team oder durch die Leitung bzw. den Träger. Einzelne Fachkräfte oder ein ganzes Team sollten sich bei deutlichen Anzeichen für eine Überforderung an die Leitung bzw. an den Träger der Einrichtung wenden können. Umgekehrt sollten Leiterinnen bzw. Leiter von Einrichtungen von sich aus ein Gespür dafür haben, wenn aus ihrer Sicht Engpässe zu beobachten oder Überforderungen festzustellen sind. Es gehört dann im Rahmen der Fürsorgepflicht zu ihren Aufgaben, Abhilfe zu schaffen und für Entlastung zu sorgen, gegebenenfalls unter Einbeziehung des Trägers.

Schließlich spielt situative Überforderung eine Rolle. Auslösende Faktoren für Fehlverhalten und Gewalt sind zumeist Stress- und Krisensituationen, die in psychosozialen Überforderungen gipfeln. Geringfügige Anlässe im Zusammenspiel mit chronischen Belastungen führen bei einer Fachkraft zum Zusammenbruch ihres psychischen Gleichgewichts. In einem Krisenzyklus werden typischerweise wie in einem Teufelskreis die äußere Realität überschätzt, die eigenen Handlungsmöglichkeiten dagegen unterschätzt. Ein Gefühl der Hilflosigkeit stellt sich ein, das sich in Wut und Aggression wandelt, die sich dann auf dem Rücken eines Kindes entladen.

Die Folgen für Kinder, Eltern, die Kita und den Träger

Unter dem Fehlverhalten von Fachkräften leidet vor allem das betroffene Kind, manchmal mehrere Kinder oder auch die gesamte Gruppe. Aber auch für die Eltern des betroffenen Kindes, die gesamte Elternschaft, das Team, die Leitung und den Träger können die Folgen je nach den Umständen des Einzelfalls schwerwiegend und nachhaltig sein.

In erster Linie sind die Kinder die Leidtragenden. Abhängig von Art und Schweregrad der Gewalt können körperliche Verletzungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsstörungen, intellektuell-kognitive Störungen, psychosomatische Beeinträchtigungen sowie Kontakt- und Beziehungsstörungen die Folge sein. In vielen Fällen kommt eine Verschlechterung des Gruppenklimas hinzu. Andere Kinder in der Gruppe können Angst bekommen, ebenfalls schlecht behandelt zu werden.

Neben dem Kind leiden auch die Eltern sowie eventuell weitere Familienmitglieder unter negativen Folgen. Üblicherweise stellt sich bei ihnen ein massiver Vertrauensverlust ein, der sich schnell auf weitere Fachkräfte, die Leitung und die gesamte Kita ausdehnen kann. Viele Eltern werden sich nach einem konkreten Vorfall fragen, ob die Kita sie umfassend informiert hat oder ob das Fehlverhalten und die Gewalt ein noch größeres Ausmaß angenommen hat, als ihnen bekannt ist. Auch kann bei ihnen die Frage auftauchen, wie lange die Vorfälle bereits in der Kita bekannt sind, ob sie rechtzeitig in Kenntnis gesetzt wurden und welche Konsequenzen aus dem Geschehen gezogen werden.

Auch im Team wird das Fehlverhalten einer Kollegin bzw. eines Kollegen nicht folgenlos bleiben. Eine erste Folge kann darin bestehen, dass die Fachkräfte entsetzt sind und sich für das Verhalten eines Mitglieds des Teams schämen. Aber auch Schuldgefühle können auftauchen, wenn sich Fachkräfte die Frage stellen, ob sie zu lange weggesehen und zu spät eingegriffen oder ob sie durch eigenes Verhalten eine Mitschuld auf sich geladen haben. Weiterhin können Ängste auftreten, dass ihre Arbeit in Zukunft einer verstärkten Beobachtung ausgesetzt sein wird und ein Klima wechselseitigen Misstrauens entsteht. Auch die Leitung wird sich fragen, ob sie etwas übersehen oder zu spät reagiert hat und ob sie ihrer Mitarbeiterverantwortung gerecht geworden ist. Zusätzlich kann bei ihr die Angst entstehen, dass ihre fachliche Autorität Schaden nimmt.

Schließlich kann infolge des Fehlverhaltens einer pädagogischen Fachkraft das Image der Einrichtung und des Trägers in Mitleidenschaft geraten, besonders wenn die Eltern die Konfrontation suchen, strafrechtliche Ermittlungen laufen oder über den Fall in der Presse berichtet wird. Beim Träger entsteht unter Umständen die Befürchtung, dass er selbst und sämtliche Einrichtungen unter seiner Trägerschaft Schaden nehmen. Das kann wiederum zu einem Rückgang der Inanspruchnahme und letztlich zu wirtschaftlichem Schaden führen.



Fallbeispiel 1: Tobias wird vor den anderen Kindern bloßgestellt

Die beiden Erzieherinnen einer Krippengruppe wollen nach der Schlafenszeit mit den Kindern nach draußen in den Außenspielbereich gehen. In der Garderobe, als die meisten Kinder schon angezogen sind, stellt Daniela – eine langjährig tätige Erzieherin – fest, dass der zweijährige Tobias offensichtlich eine volle Windel hat. Sichtlich genervt nimmt sie den Jungen an der Hand und führt ihn zum Wickeltisch im Waschbereich. Auch Tobias hat schlechte Laune, lieber wäre er sofort mit den anderen Kindern nach draußen gegangen. Beim Ausziehen sträubt er sich und zappelt mit den Beinen. Es entwickelt sich eine kleine Rangelei, in deren Verlauf Daniela schließlich die Geduld verliert. Sie stülpt ihm das Unterhemd über den Kopf und macht sich über ihn lustig. Tobias lässt nun die Prozedur über sich ergehen und fängt an zu schluchzen. Die Erzieherin wechselt routiniert die Windel, zieht ihn wieder an und geht danach mit ihm zu den anderen Kindern zurück. Immer noch verärgert verkündet sie gegenüber der versammelten Kindergruppe: „Hier kommt der kleine Hosenschisser. Wegen ihm musstet ihr so lange warten!“



Ein Kind zu beschämen bedeutet, es seiner Würde zu berauben und als Mittel zum Zweck zu benutzen. Beschämt zu werden beeinträchtigt die Selbstachtung und zerstört das Selbstvertrauen. Es untergräbt ein positives Gefühl für den eigenen Körper und die eigene Person und beschädigt das seelische Wohlergehen des Kindes. Beschämung und Entwürdigung sind manchmal offensichtliche, häufig aber auch subtile Formen seelischer Gewalt gegen Kinder. Darüber hinaus untergräbt entwürdigendes Verhalten eine gute Fachkraft-Kind-Beziehung auf der Basis wechselseitigen Respekts und führt bei dem betroffenen Kind zu einem massiven Vertrauensverlust. In dem Fallbeispiel entwürdigt und beschämt die Erzieherin den zweijährigen Tobias gleich in zweifacher Weise. Sie stülpt ihm sein Unterhemd über den Kopf, sodass er kurzzeitig nichts mehr sehen kann, und macht sich darüber lustig. Daraufhin gibt der Junge seinen Widerstand gegen das Wickeln auf und fängt an zu schluchzen. Ohne auf sein Weinen einzugehen, nimmt sie ihn anschließend zu den übrigen Kindern und bezeichnet ihn herabwürdigend als Hosenschisser, der dafür verantwortlich sei, dass die anderen warten mussten. Tobias wird für etwas beschuldigt, das außerhalb seines Einflusses liegt (volle Windel), und anschließend regelrecht vorgeführt und gedemütigt. Er selbst und auch die übrigen Kinder müssen den Eindruck bekommen, dass er sich falsch verhalten hat, was zu einem Klima der Angst in der gesamten Gruppe führen kann.

In der ganzen Situation verhält sich die betreffende Fachkraft offensichtlich grob unprofessionell. Ein Grund dafür ist wohl, dass sie ihren eigenen Ärger darüber, nicht sofort mit der Gruppe nach draußen gehen zu können, nicht im Griff hat, sondern auf dem Rücken des Kindes austrägt. Im Hintergrund könnte auch eine Rolle spielen, dass die Erzieherin notwendige Pflegehandlungen wie zum Beispiel das Wickeln als unangenehm oder sogar eklig empfindet und daher möglichst vermeiden möchte. Weitere Gründe könnten darin liegen, dass im Tagesablauf keine ausreichenden Zeiten für Pflegehandlungen vorgesehen sind oder eine personelle Unterbesetzung vorliegt.

Was in diesem Fall getan werden sollte: Beschämung und Entwürdigung dürfen nicht zugelassen werden. Sofern die zweite pädagogische Fachkraft das Geschehen mitbekommt, sollte sie signalisieren, dass das Verhalten ihrer Kollegin nicht in Ordnung ist. Wenn keine Entschuldigung erfolgt, ist ein extra anberaumtes Gespräch unter Einbeziehung der Leitung erforderlich. Das weitere Vorgehen hängt stark vom Verlauf und den Ergebnissen eines solchen Gesprächs ab. Mögliche Konsequenzen können von der Aufforderung zur Selbstreflexion im Rahmen z.B. von Supervision über eine Abmahnung bis hin – im Falle fehlender Einsichtsfähigkeit – zu weiter gehenden arbeitsrechtlichen Konsequenzen reichen. Davon unabhängig sollte die Leitung das Gespräch mit dem betroffenen Kind und dessen Eltern suchen und dafür sorgen, dass sich das Team mit dem Thema Beschämung und Entwürdigung von Kindern befasst.



Fallbeispiel 2: Leonie bekommt eine Ohrfeige
Die vierjährige Leonie und ihre gleichaltrige Freundin Miriam sind in der Kita unzertrennlich. Sie spielen ausgelassen miteinander, fantasieren sich in ihre eigene Welt und kommunizieren untereinander in einer Art Geheimsprache. Wenn sie einmal mit dem Herumalbern angefangen haben, finden sie so schnell kein Ende mehr. Besonders während der Mahlzeiten dominieren ihr andauerndes Kichern und ihre affektierten Gesten oft die gesamte Gruppe. Als Leonie beim Mittagessen ihren flachen Löffel in die Schüssel mit der Tomatensoße klatscht, spritzt es in alle Richtungen. Beide Mädchen lachen laut auf, einige Kinder beklagen sich über die Flecken auf ihrer Kleidung. Die in der Nähe sitzende Erzieherin Juliane bemerkt an ihrem Arm, dass auch sie einen kräftigen Spritzer Tomatensoße abbekommen hat. Als Leonie ihren Löffel erneut in die Höhe hält, verliert sie die Kontrolle. Mit den Worten „Jetzt ist aber Schluss!“ hält sie mit der einen Hand Leonie fest am Arm und verpasst ihr mit der anderen Hand einen deutlich spürbaren Schlag auf die Wange. Plötzlich ist Ruhe im Raum, alle Kinder schauen wie erstarrt, auch die beiden Freundinnen verstummen. Die Erzieherin hält sich die Hand vor den Mund, so als ob sie ihre harsche Reaktion selbst nicht verstehen kann. Allmählich löst sich die Spannung, alle wischen den Tisch ab und säubern so gut es geht die verschmutzten Kleidungsstücke. Wenig später wendet sich die zweite pädagogische Fachkraft an ihre Kollegin Juliane: „Leonies Eltern sagst du aber besser nichts, sonst bekommt die ganze Kita Ärger. So schlimm war es ja nun auch nicht.“



„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Behandlungen sind unzulässig“, heißt es unmissverständlich in § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Dieses Recht steht jedem Kind sowohl gegenüber den Eltern als auch pädagogischen Fachkräften zu. Auch ein Klaps auf den Po oder eine leichte Ohrfeige sind nicht zulässig. Ausnahmen z.B. im Falle einer sogenannten „gerechten Bestrafung“ sind nicht vorgesehen. Das im Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung verankerte Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung ist Bestandteil des Zivilrechts (nicht des Strafrechts). Das Gesetz macht vor allem deutlich, dass jede Form von Gewalt Kindern Schaden zufügt und unter keinen Umständen ein legitimes Erziehungsmittel darstellt. Findet Gewalt gegen ein Kind dennoch statt, so folgen nicht in jedem Fall strafrechtliche Sanktionen. Auch überschreitet ein Klaps auf den Po oder eine (leichte) Ohrfeige üblicherweise nicht die Schwelle einer Kindeswohlgefährdung. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass an pädagogische Fachkräfte zu Recht besonders hohe Ansprüche hinsichtlich erzieherischer Fähigkeiten gestellt werden müssen. Werden Fachkräfte den Ansprüchen an eine gewaltfreie Erziehung nicht gerecht, kann dies deshalb arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Was in diesem Fall getan werden sollte: In dem beschriebenen Fall verliert die Erzieherin in einer aufgeheizten Situation beim Mittagessen die Kontrolle und gibt der vierjährigen Leonie als Reaktion auf deren provokantes Verhalten eine Ohrfeige. Die Fachkraft erschrickt über sich selbst, entschuldigt sich aber nicht bei dem Mädchen. Als sich die Situation am Tisch wieder beruhigt, rät ihr die Kollegin, den Vorfall zu verschweigen und die Eltern des Kindes nicht zu informieren. Auf diese Weise möchte sie verhindern, dass die Kita Ärger bekommt.

Weder die körperliche Bestrafung noch das Verschweigen gegenüber den Eltern ist mit den Rechten des Kindes vereinbar. Daher darf das Verhalten der beiden pädagogischen Fachkräfte auch nicht ohne Konsequenzen bleiben. Vielmehr ist zu hoffen, dass das Geschehen ans Licht kommt, am besten durch eine Mitteilung der beteiligten Fachkräfte selbst oder durch Äußerungen der betroffenen Kinder gegenüber Eltern, anderen Kindern oder Fachkräften in der Kita.

Wenn der Vorfall bekannt wird, muss die Leitung auf mehreren Ebenen tätig werden. Erstens sollte eine Entschuldigung bei dem unrechtmäßig geschlagenen Mädchen erfolgen. Zweitens müssen die Eltern des Kindes über das Geschehen und die darauf erfolgten Maßnahmen in Kenntnis gesetzt werden. Drittens muss die Leitung das Fehlverhalten der pädagogischen Fachkraft in einem Mitarbeitergespräch thematisieren. Neben Angeboten der Aufarbeitung, z.B. im Rahmen einer Supervision oder dem Besuch einer Fortbildung, liegen in diesem Fall arbeitsrechtliche Konsequenzen nahe. Zumindest eine Ermahnung oder Abmahnung sollte in Betracht gezogen werden, je nach Einsichtsfähigkeit und Bereitschaft der Fachkraft zur Wiedergutmachung auch weitergehende Maßnahmen. Viertens sollte sich das gesamte Team damit befassen, auf welche Weise zukünftig besser mit provokantem Verhalten von Kindern umgegangen werden kann. Empfehlenswert wäre z.B., deutlich früher zu intervenieren, damit sich eine Situation wie die geschilderte gar nicht erst so dramatisch zuspitzen kann.

Mit Fehlverhalten und Gewalt angemessen umgehen

Damit sich Fehlverhalten nicht wiederholt oder sogar verfestigt, sollte jedes unprofessionelle Verhalten Konsequenzen haben. Nur wenn Übergriffe und Gewalt gegen Kinder in der Kita nicht folgenlos bleiben, können die Beteiligten aus Fehlern zu lernen, Verhaltensweisen und Regeln ändern und Unterstützung anbieten. Welche Konsequenzen notwendig sind, hängt von der Art und Intensität des Fehlverhaltens ab. Auch spielt eine Rolle, ob es sich um ein einmaliges oder um wiederholtes unprofessionelles Verhalten handelt, welcher Grad der Einsichtsfähigkeit bei der übergriffigen Fachkraft erreicht werden kann und ob sie bereit und in der Lage ist, ihr Verhalten zu ändern. Die Reaktionen können je nach Lage des Falls von einem kollegialen Gespräch über die Beratung im Team, Gespräche mit der Leitung und den Eltern bis hin zur Inanspruchnahme externer Unterstützung reichen. In schweren Fällen können die Information des Trägers, eine Meldung an das Landesjugendamt gemäß § 47 SGB VIII und/oder arbeits- und strafrechtliche Konsequenzen unabdingbar sein (vgl. Tabelle 3; für eine genaue Darstellung der einzelnen Schritte und Maßnahmen vgl. Maywald 2019, 2, S. 87 ff).

tab 3

Gewalt durch Fachkräfte präventiv verhindern

Um sich dem Ziel, ein sicherer Ort für Kinder zu sein, immer weiter anzunähern, sollte jede Einrichtung über ein institutionelles Schutzkonzept verfügen, das Maßnahmen sowohl der Prävention als auch der Intervention im Falle von Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verbindlich festlegt. Darüber hinaus ist es sinnvoll, dass sich die Kita einer Ethik pädagogischer Beziehungen verpflichtet, die dem Handeln und Unterlassen im Alltag eine ethische Fundierung gibt. Schließlich empfiehlt es sich, das Leitbild des Trägers und das Konzept der Einrichtung an den in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Rechten der Kinder zu orientieren (vgl. Maywald 2019, 2, S. 115 ff).

Was sich ändern muss: fachpolitische Forderungen

Über die notwendigen Veränderungen auf Einrichtungs- und Trägerebene hinaus ist die Politik gefordert, durch gesetzliche Reformen und die Bereitstellung finanzieller Ressourcen dazu beizutragen, Fehlverhalten und Gewalt durch Fachkräfte in Kitas immer weiter zurückzudrängen und so weit wie möglich zu verhindern. Dringlich sind vor allem die folgenden Schritte:

Gesetzliche Verpflichtung zur Vorlage eines institutionellen Schutzkonzepts
Die Erlangung und Aufrechterhaltung der Betriebserlaubnis sollte an die gesetzliche Verpflichtung zur Vorlage und regelmäßigen Weiterentwicklung eines institutionellen Schutzkonzepts geknüpft werden.

Einrichtung unabhängiger Ombuds- und Beschwerdestellen
Um Kindern, Eltern und Fachkräften Beschwerden über professionelles Fehlverhalten zu erleichtern, sollte der Aufbau unabhängiger Ombuds- und Beschwerdestellen in jedem Jugendamtsbezirk gesetzlich vorgeschrieben werden.

Einführung einer einheitlichen Statistik
Die staatlichen Aufsichtsbehörden (Landesjugendämter) sollten gesetzlich verpflichtet werden, die bei ihnen eingehenden Meldungen gemäß § 47 SGB VIII (Verpflichtung von Trägern erlaubnispflichtiger Einrichtungen, „Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen“ der zuständigen Behörde zu melden) nach bundesweit einheitlichen Kriterien in jährlichem Rhythmus statistisch zu erfassen.

Proaktive Kontrolle durch die Landesjugendämter
Die Landesjugendämter sollten stärker als bisher verpflichtet werden, die Träger von Kindertageseinrichtungen im Umgang mit Meldungen gemäß § 47 SGB VIII und bei der Weiterentwicklung eines institutionellen Schutzkonzepts proaktiv und in regelmäßigen Abständen zu beraten. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, sind entsprechende Ressourcen bereitzustellen.

Veränderungen in den Aus- und Fortbildungen
Die Aus- und Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte sollten mit dem Ziel weiterentwickelt werden, die für den institutionellen Kinderschutz notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten verpflichtend zu vermitteln. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es entsprechend qualifizierte Lehrende in ausreichender Anzahl.

Weiterentwicklung der Bildungsrahmenpläne
Die in den Bundesländern vorhandenen Bildungsrahmenpläne für den Bereich der frühkindlichen Förderung in Kindertageseinrichtungen sollten hinsichtlich des institutionellen Kinderschutzes ergänzt bzw. weiterentwickelt werden.

Intensivierung der Forschung
Um eine dringend notwendige Verbesserung der Datenlage zu erreichen, sollten an mehreren Standorten aufeinander abgestimmte und mit ausreichenden Mitteln ausgestattete Forschungsvorhaben „Institutioneller Kinderschutz in der Kindertagesbetreuung“ etabliert werden.

Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz
Schließlich ist davon auszugehen, dass die überfällige Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz zu einer stärkeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Interessen von Kindern auch in Einrichtungen für Kinder führen würde. Auch Gerichte und Verwaltungen wären mehr als bisher verpflichtet, ihr Handeln am Vorrang des Kindeswohls zu orientieren. Bei der Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung ist darauf zu achten, dass die Formulierungen den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention entsprechen.


Teile des Beitrags sind folgender Publikation des Autors entnommen:
Maywald, J. (2019): Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Die Kita als sicherer Ort für Kinder. Freiburg: Herder Verlag.

LITERATUR

  • Maywald, Jörg (2016): Kinderrechte in der Kita. Kinder schützen, fördern, beteiligen. Freiburg.
  • Maywald, Jörg (2019 a): Kindeswohl in der Kita. Leitfaden für die pädagogische Praxis. Freiburg.
  • Maywald, Jörg (2019 b): Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg.
  • ZEIT ONLINE (2016a): Abgrund unterm Regenbogen. www.zeit.de/gesellschaft/familie/2016-04/kita-qualitaet-erzieherinnen-uebergriffe-gewalt (Abruf am 26.2.2020).
  • ZEIT ONLINE (2016b): Was macht ihr da mit unseren Kindern? www.zeit.de/gesellschaft/familie/2016-06/kita-qualitaet-mitarbeiter-fehlverhalten-umfrage (Abruf am 26.2.2020).


 

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
Frühe Kindheit 01-2020, S. 24-31


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