Gewalt von Fachkräften gewaltfrei verhindern

In der Auseinandersetzung die Würde aller wahren ■ Im Herbst 2019 erschienen gleich zwei Bücher, die auf Übergriffe durch pädagogische Fachkräfte gegenüber Kindern in der Kita aufmerksam machten. Sie brechen ein Tabu und eröffnen in der Fachwelt die Auseinandersetzung zur eine bisher nicht ausreichende beantworte Frage: Wie kann Gewalt gegen Kinder gewaltfrei verhindert und der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt unterbrochen werden?

Über »Gewaltfreiheit« wird in Kitas seit einigen Jahren gesprochen. Zum einen wurde mit der Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch aus dem Jahre 2000 das Recht von Kindern, gewaltfrei erzogen zu werden, unterstrichen. Dieses Recht gilt natürlich uneingeschränkt in der Kita. Zum anderen ist auch das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) von Marshall Rosenberg seit einigen Jahren in vielen Kitas bekannt. Pädagogische Fachkräfte lernen das auf der humanistischen Psychologie beruhende Vier-Schritte-Modell, um sich gegenüber Kindern, Eltern und Kolleginnen/Kollegen auszudrücken und ihnen zuzuhören. Damit ist jedoch das Potenzial der GFK und das der Gewaltfreiheit für die Kita noch lange nicht erschöpft. Es lohnt sich, sich den Quellen der GFK zuzuwenden. Seitdem ich mich damit befasse, umschreibe ich das Herangehen von Marshall Rosenberg nicht mehr verschämt als wertschätzende oder empathische Kommunikation, um die Negation »Gewaltfrei« im Begriff zu vermeiden. Vielmehr betone ich: »Ja, ich wünsche mir eine gewaltfreie Kita!« In dieser Betonung liegt meines Erachtens eine Kraft, die der frühpädagogischen Landschaft guttut.

Was heißt Gewaltfreiheit?

Das Wort »Gewalt« leitet sich vom Althochdeutschen »waltan« (»stark sein«, »beherrschen«) ab. Gewalt auszuüben heißt, jemanden dem eigenen Willen zu unterwerfen und diesen Menschen in seinem Potenzial einzuschränken. Gewaltfreiheit heißt dann für mich auch, allen Beteiligten zu ermöglichen, ihr tatsächliches Potenzial zu leben.

Marshall Rosenberg nannte seinen Ansatz bezugnehmend auf Mahatma Gandhi »Gewaltfreie Kommunikation«. Der indische Freiheitskämpfer definiert »Gewaltfreiheit« als »Festhalten an der Wahrheit/Kraft der Wahrheit« bzw. »Liebes- oder Seelenkraft«. Sie verlange, dem Gegner keine Gewalt anzutun. »Er muss vielmehr durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abgebracht werden.« Dafür war Gandhi bereit, einiges auf sich zu nehmen. Er war der Überzeugung, »dass man die Wahrheit verteidigt, indem man nicht dem Gegner, sondern sich selbst Leiden zufügt«. »Leid« nimmt man deshalb auf sich, weil man seinen ganzen Mut zusammennimmt, Ängste und Unsicherheiten überwindet, vielleicht auch Einsamkeit oder Anfechtungen aushält, um sich zu zeigen und für eine Sache zu streiten.

Ähnlich beschrieb der afro-amerikanische christliche Prediger Martin Luther King sein friedvolles Handeln. King war wie Gandhi davon überzeugt, »dass Gewaltlosigkeit nicht unfruchtbare Passivität ist, sondern eine mächtige moralische Kraft, die gesellschaftliche Wandlungen herbeiführt«. Gewaltfreiheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Gewalt. Gewaltfreiheit bedeutet vielmehr, diese moralische Stärke zu nutzen und eine große, vor allem innere Kraft aufzubringen, um auf das Gegenüber einzuwirken. Gelingt es, den anderen Menschen in seinem positiven Wesenskern zu berühren und ihn in seiner Würde anzusprechen, damit auch er im Interesse der Verbundenheit und des Wohlergehens der Gemeinschaft umdenkt und anders handelt?

Gelingt es, die gewaltvoll handelnde Fachkraft als Subjekt zu sehen?

Was bedeutet diese Definition für die Auseinandersetzung mit der Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in der Kita? Aus Sicht der GFK ist als erstes eine authentische Selbstmitteilung gegenüber der/dem gewaltvoll handelnden Kollegin/Kollegen notwendig. Es gilt, auszusprechen, was wir wahrnehmen und dieses Verhalten nicht mehr schweigend hinzunehmen. Diese Rückmeldung wird wirkungsvoller sein und eher gehört werden können, wenn sie ohne Anspannung und Ärger ausgesprochen wird. Dazu können die vier Kommunikationsschritte der GFK (Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte) genutzt werden, z.B.:
  • »Ich sehe oder höre, wie Du Max aufforderst, Spinat zu essen, obwohl er gesagt hat, dass er den nicht mag.« (Beobachtung)
  • »Ich bin ich ziemlich durcheinander (Gefühl), weil mir Respekt vor dem Willen des Kindes und seine Selbstbestimmung (Bedürfnis) wichtig sind.«
  • Dazu gehört außerdem, eine Bitte zu äußern. Das kann eine Handlungsbitte sein: »Ist es dir lieber, wenn ich hier übernehme?" oder eine Beziehungsbitte: »Ich würde gern wissen, wie es dir gerade geht.«


Vielleicht muss ich auch ehrlich zugeben, dass ich gerade so empört bin, dass ich meine Urteile kaum in Zaum halten kann, es auch nicht schaffe, mit ruhiger Stimme zu sprechen, weil dieses Handeln so meinen Werten widerspricht.

Es ist eine riesige Herausforderung, nicht in der Entrüstung steckenzubleiben, sie vielmehr in das zu verwandeln, was mir wichtig ist und eine Bitte zu formulieren, die nicht besserwisserisch ist und nun die Würde jener Fachkraft verletzt. Dabei ist das ist nur der Anfang. Unbedingt sollte übergriffiges und grenzverletzendes Verhalten gestoppt werden. Dabei ist es aus der Warte der GFK nicht das Ziel, dass sich eine Person mit seiner Position durchsetzt. Vielmehr wird mit dem »Stopp« zugleich eine Verbindung angestrebt, mit der die Bedürfnisse beider Seiten gesehen und berücksichtigt werden können. Das könnte auch durch empathisches Zuhören geschehen: »Du hättest so gern, dass das Max den Spinat isst. Das wäre so viel leichter für dich, stimmt das?«.

In doppelter Hinsicht sind wir, die eingreifen und uns für Gewaltfreiheit einsetzten, herausgefordert, »Leid« auf uns zu nehmen und Stärke zu beweisen. Zum einen geht es darum, sich ehrlich durch eine Mitteilung oder das Zuhören zu zeigen – und eben nicht zuzulassen, dass Gewalt tabuisiert wird, sondern aktiv für Kinder einzutreten. Bereits hier gibt es viel Unsicherheit und Angst sowie wenig Übung, nicht nur in der Kita. Zum anderen brauchen wir »Geduld und Mitgefühl« für jene Fachkraft, die gewaltvoll handelte. Ihr gewaltfrei gegenüberzutreten verlangt, »negative Einstellungen, die uns beherrschen, in positive Einstellungen umzuwandeln«, wie Arun Gandhi, der Enkel von Mahatma Gandhi schreibt.

Wir würden Gewalt mit Gegengewalt beantworten, wenn wir jene Fachkräfte, die Kinder zum Essen zwingen, hänseln, schubsen, beleidigen oder in anderer Form ihre Macht missbrauchen, ebenso gewaltvoll als Objekt behandeln und entmenschlichen, indem wir sie nur zurückweisen und ihnen Einhalt gebieten. Deshalb braucht es das Empowerment der Gewaltfreiheit für die/den Kollegin/
Kollegen, Leiter/in, Fachberater/in, Trainer/ in und alle anderen Beteiligten, um auch die Gefühle und Bedürfnisse der gewaltvoll handelnden Fachkraft sehen zu können. Gewaltfreiheit heißt hier, sie mit Mitgefühl zur Umkehr zu bewegen. Das geht nicht auf die Schnelle. Auf dem Weg dahin sind häufig Urteile und Bewertungen zu überwinden.

Grenzsetzung in Würde

Was denken wir für gewöhnlich über eine Fachkraft, die gewaltvoll handelt? Betrachten wir sie als rücksichtslos, unwürdig, grob, verletzend, unfähig, starr, lernunwillig, schwach etc.? Bemerken wir, dass wir damit die andere Person nicht mit Würde behandeln? Wie wäre es, rücksichtsvoll, würdig, feinfühlig und aufmerksam, fähig, beweglich, lernbereit und stark zu sein und genau mit diesen Qualitäten der Fachkraft zu begegnen?

Gelingt es, wie Marshall Rosenberg schreibt, »unser einfühlendes Wesen« zu entfalten, »wenn die Gewalt in unserem Herzen nachlässt«? Hören wir einer Fachkraft zu, die will, dass ein Kind den ungeliebten Spinat ist? Was ist ihr wichtig? Können wir für sie offen sein und ihr ermöglichen, über sich zu sprechen – nicht als Rechtfertigung, sondern um ihren unbewussten Handlungsgrund zu berühren? Musste sie als Kind Spinat essen, ob sie wollte oder nicht? Oder ist sie unsicher, was sie den Eltern sagen soll, wenn die Mahlzeit unberührt bleibt? Sicher hat sie für sich einen »guten Grund«.

An dieser Stelle höre ich Kita-Leiter/innen argumentieren: »Darüber haben wir lang und breit gesprochen. Die Debatte ist für mich beendet. Hier gelten die Kinderrechte«. So wahr das ist, ist diese Realität womöglich bei der betreffenden Fachkraft noch nicht voll und ganz angekommen. Möglicherweise hat sie das Wissen, jedoch nicht die innere Überzeugung und Bereitschaft, vielleicht auch nicht die Fähigkeit, genau in der konkreten, ggf. auch angespannten Situation danach zu handeln. Diese Tatsache zu ignorieren ist genauso Gewalt. Die Kita-Leiter/innen bringen hier ihre Macht zur Geltung und setzen nicht auf Verbindung und Empathie. Sie wollen Regel und gesetzliche Verpflichtung durchsetzen, ohne auf die Fachkraft zu blicken.

Akzeptanz für das, was ist

Hier kommt eine weitere Quelle für Marshall Rosenberg bei der Entwicklung der GFK ins Spiel: Carl Rogers. Rogers machte darauf aufmerksam, dass es notwendig ist, etwas zu akzeptieren, ehe es sich ändern kann. Ist es möglich, erst einmal in einer Situation anzukommen und die Wahrnehmung zu schärfen – dafür, wie es dem Kind und der pädagogischen Fachkraft geht? Kann die Fachkraft sehen, wie das Kind auf dem Stuhl sitzt, vielleicht wie eingefroren, vielleicht wütend? Kann sie spüren, was das eigene Handeln ausgelöst hat und das auf sich wirken lassen? Was passiert dann? Möglicherweise wird ihr dann bewusst, dass sie eine Grenze überschritten hat. Oder fällt es ihr schwer, die Kinder feinfühlig in ihrer Befindlichkeit zu sehen, weil sie müde und erschöpft von der Arbeit am Vormittag ist? Würde es ihr helfen, darüber zu reden, was sie anstrengt, nicht schafft, welches Kind sie auf die Palme bringt und wo sie mit sich selbst unzufrieden ist? Wie viel Zeit bleibt in einer Kita für die Auseinandersetzung mit Fragen, Zweifeln, Ängsten, Widerständen? Gibt es genügend Aufmerksamkeit und Wertschätzung für die Energie, die Fachkräfte aufbringen, um in einem zwar vorstrukturierten, gleichwohl ständig neuen Alltag mit den Kindern spontan und kompetent zu handeln? Wie unterstützen sich Kolleginnen und Kollegen im Team, um miteinander zu lernen und an manchen Stellen quasi auch »nachzureifen«, um den Anspruch der Kinderrechtskonvention nach einer Begegnung in gleicher Würde gerecht zu werden? Gerade im Interesse einer gewaltfreien, würdevollen Beziehung zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften müssen dazu meiner Meinung nach diese Fragen nach Haltungen und Handlungen immer wieder neu und konkret beachtet und besprochen werden. Denn durch den Alltag mit den Kindern werden immer wieder neue, tiefere Schichten der Persönlichkeit auch einer Fachkraft berührt und angesprochen. In Kitas, in denen es dafür eine entsprechende Teamkultur gibt, werden Fachkräfte freundlich und klar miteinander sprechen und sich unterstützen, präsent, offen und empathisch gegenüber den Kindern zu sein.

Häufig jedoch wird die »richtige« Haltung nur vorausgesetzt und gefordert, als könne man in sie einfach hineinschlüpfen wie in ein Kleid von der Stange. Wie oft fehlt der Raum zum Lernen und zum Austausch, um die für den Menschen und die Situation passende Haltung immer wieder zu finden und zu überprüfen? Hier geht es um Maßschneiderei in der Beziehungsarbeit.

Gemeinsam eintreten für bessere Bedingungen in der Kita

Längst ist das »Umsetzungsdilemma« benannt, das pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit bewältigen müssen. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen hält nicht mit den Anforderungen Schritt. In diesem Sinne trifft mein Wunsch nach Gewaltfreiheit eine Grundfeste der Pädagogik, nämlich dass eine freundliche, wohlwollende Atmosphäre in der Kita herrscht, damit Kinder gern, frei und froh all das lernen können, was das Leben ausmacht. Dafür ist es meiner Meinung nach notwendig, nach den Fachkräften zu schauen, die dies umsetzen. Wie geht es ihnen? Welche Bedingungen finden sie für ihre Arbeit in ihrer Kita vor? Wie viel Wertschätzung lebt ein Team miteinander?

Ich kenne Kitas, in denen ich gern noch einmal Kind sein würde, weil es spannende Räume, viel Freiraum und dazu eine neugierige, freundliche Begleitung durch die Fachkräfte gibt. Und ich kenne Teams, in denen eine Fachkraft fünf, sechs, sieben von den jüngsten, mit der Kita vollkommen unvertraute Kinder in den Alltag eingewöhnen und sie gleichzeitig beim Essen, Spielen, Schlafen, Anziehen begleiten soll – Einrichtungen, in denen die Fachkräfte nicht wissen, wie sie den Tag überstehen sollen, weil viele Kolleginnen und Kollegen ausgebrannt und krank sind und kein Ersatz da ist. Gewiss ist hier ein Punkt, die Organisation der Arbeit in der Kita zu überprüfen und sich für neue Formen der Zusammenarbeit zu öffnen. In den Blick zu nehmen sind aber auch die Überforderung und Gewalt, die Fachkräften sich unter diesen Umständen antun oder ihnen angetan wird.

Fazit

Für Gewaltfreiheit in der Kita einzutreten heißt für mich deshalb vor allem, sich gegenseitig zu stärken und sich um die Situationen zu kümmern, in denen Fachkräfte unter Druck geraten und nicht offen für die Kinder sein können. Diese sollten deutlich und gleichzeitig empathisch angesprochen werden. Dabei kann die GFK helfen. Für mich geht es aber noch weiter. Wir sollten auch über gute gewaltfreie Aktionen nachdenken, um die Öffentlichkeit und vor allem die Politik davon zu überzeugen, dass pädagogische Fachkräfte unbedingt bessere Arbeitsbedingungen brauchen und dass mehr, besser ausgebildetes und bezahltes Personal für die Kinder im Alltag präsent sein muss.

Literatur

  • Gandhi, M. K. (1991): Satyagraha. Navajivan Press, Ahmedaba 14.
  • Härtel, K. D. (2009): Martin Luther King »Ich habe einen Traum«. 3. überarbeitete Au$. Brunnen: Gießen.
  • Rosenberg, M. B. (2004): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. 5. überarbeitete und erweiterte Au$. Paderborn: Junfermann

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Gehmigung aus
KiTa Aktuell 2-2020, S. 48 -50



Tipp: Barbara Leitner im nifbe-Podcast:

nifbe-Podcast "Auf die ersten Jahre kommt es an!"