Die Heimat in mir

Zu den frühkindlichen Ursachen von Rechtspoupulismus

Autoritäre politische Haltungen werden oft so erklärt: Menschen sind in wirtschaftliche Not geraten, fühlen sich abgehängt. Das ist nicht falsch – die Geschichte ist aber viel spannender! Sie beginnt dort, wo wir klein und abhängig sind: in der Kindheit. Was das mit einem Kleeblatt zu tun hat? Lesen Sie selbst ...

Schauen wir uns einmal das zentrale politische Thema der vergangenen Jahre genauer an: den Rechtspopulismus. Schon der Begriff hat einen doppelten Kern. Da ist zum einen der Populismus. Darunter wird die Vorstellung verstanden, das (gute) Volk sei angeblich schlechten Eliten ausgeliefert, welche dem rechtschaffenen Bürger Einfluss, Macht und Kontrolle vorenthalten. Der andere Kern ist der Autoritarismus. Mit diesem Begriff wird die Neigung von Menschen beschrieben, sich in ein System von Befehl und Gehorsam einzugliedern und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören – andere Ethnien etwa. Der Rechtspopulismus wird deshalb treffender auch als autoritärer Populismus bezeichnet.

Die Erklärungen für dieses politische Phänomen sind bekannt: Die Globalisierung habe viele Bürger „abgehängt“, andere seien durch den raschen kulturellen Wandel verunsichert und entwertet worden. Aus Frustration oder Protest wendeten sie sich nun der neuen Rechten zu. So verständlich diese Erklärungen sind – für sich allein greifen sie zu kurz. Das zeigt sich an ihren Widersprüchen: Viele „Modernisierungsverlierer“ können der Verlockung von rechts gut widerstehen. Sie stellen sich auf den Wandel der Zeit ein, ohne mit dem Finger auf Flüchtlinge, Andersgläubige oder Homosexuelle zu zeigen. Umgekehrt begegnen einem auf der autoritär-rechten Seite aber genauso Leute, die eindeutig nicht zu den Verlierern zählen. Sie leben komfortabel wie eh und je, und trotzdem zieht es sie nach stramm rechts. Warum bleiben die rechten Ideen beim einen haften, beim andern nicht?

Und auch das passt nicht ins Bild: Wenn der Wurzelgrund für den Rechtsruck wirklich in wirtschaftlichen oder sozialen Verlusten zu suchen wäre, dann würde man von der rechten Programmatik doch eines erwarten: Dass sie sich um eine bessere Absicherung der Verlierer, um soziale Gerechtigkeit, um wohnliche Städte, intakte Dörfer und so weiter dreht. Aber um was geht es in Wirklichkeit? Es geht um Kopftücher, den Islam, das Abendland, die Flüchtlinge, Gender-Fragen, Homosexualität, und auch wieder um Juden. Neuerdings auch um die Abwehr der Wölfe.

Und da sind noch mehr offene Fragen: Warum werfen sich die Verlierer ausgerechnet solchen Führern an die Brust? Man denke nur an Donald Trump, die Antithese zu allem, was sich Eltern normalerweise für ihre Kinder wünschen. Und warum fühlen sich Männer von der rechten Programmatik so viel stärker angesprochen als Frauen (siebzig Prozent der AfD-Wähler sind männlich). Gibt es unter den Frauen etwa weniger „Abgehängte“? Und warum ist das rechtspopulistische Potenzial in manchen Ländern (und Bundesländern) so viel größer als in anderen Gegenden? Und warum grassieren Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ausgerechnet dort am meisten, wo es am wenigsten Ausländer gibt?

Irgendwas fehlt

Eindeutig: Die gängige Deutungskette des Rechtspopulismus schließt sich nicht, sie weist eine Lücke auf. Ein erster Hinweis auf das fehlende Glied ergibt sich beim Blick auf die rechte Programmatik. Am auffälligsten ist doch ihr Grundprinzip: Es geht in dieser Agenda ja gar nicht um die Realität, im Gegenteil, die wird sogar aktiv geleugnet, etwa der Klimawandel. Stattdessen dreht sie sich um Fragen der Identität. Und die, auch das ist auffällig, ordnen sich um die immer gleichen Grundmotive: nämlich um Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit. Make America great again! Take back control! Mauern bauen! Endlich eine Stimme haben! Heimat schützen! Stolz, ein Deutscher zu sein!

Und auch etwas Zweites ist offensichtlich: Diese Suche nach Schutz und Bedeutung ist unterlegt von einem ängstlichen, misstrauischen Blick auf die Welt und ihre Menschen. Überall lauern Bedrohungen: die Fremden, die Andersdenkenden, die Kopftuchmädchen, die Frühsexualisierung, die Islamisierung des Abendlands, die Kriminalität, die faulen Griechen. Sogar die 68er werden wieder auf die Bühne gezogen. Immer geht der Blick auf eine verdorbene Welt, die es zu reinigen gilt, die es zu ordnen gilt, der man Herrschaft und Struktur aufzwingen muss, die nach Hierarchie und Konvention gesichert und gezähmt werden muss. Alles, was sich nicht (angeblich) durch Härte, Bestrafung und Ausgrenzung lösen lässt, verbleibt als weiße Flecken auf der Landkarte. Themen wie Mitmenschlichkeit, Kooperation, Interessensausgleich oder die Gestaltung der Gemeinschaft sind schlichtweg inexistent. Es gibt kein Miteinander von Verschiedenem, nur ein Gegeneinander. Ich gegen dich. Christen gegen Muslime, Weiße gegen Schwarze. Mein Land gegen dein Land, das wahre Volk gegen die Volksverräter.

Die Kindheit ist politisch

Ein seltsames, ganz offensichtlich mit Angst unterlegtes Muster. Wo bildet es sich? Woran lesen Menschen ab, ob sie sich vor der Welt fürchten müssen oder ob sie vertrauen können? Wo erfahren wir, ob Wohlwollen und Kooperation geeignete Lebensinstrumente sind – oder ob wir besser auf Konkurrenz, Strenge und Ausgrenzung setzen? Wo bildet sich dieser innere Kompass, der die einen zu Kooperation, Fürsorge und Vertrauen zieht, die anderen aber zu Macht, Ausgrenzung und hierarchischer Ordnung?

Diese Muster, hier sind wir bei einer zentralen Grundannahme der Entwicklungspsychologie, bilden sich dort, wo wir zum ersten Mal die Ordnung der Welt kennenlernen – in der Kindheit. Hier werden wir zum ersten Mal „regiert“ und lesen daran ab, wie die uns Überlegenen mit Macht und Herrschaft umgehen. Ja, hier erleben wir überhaupt, worauf sich Beziehungen gründen: ob auf Vertrauen und Kooperation oder auf Überlegenheit und Stärke. Und auch das erfahren wir in dieser Zeit unserer existenziellen Abhängigkeit von mächtigen Menschen: Ob die Welt ein Kampfplatz ist oder eine Heimat. Ob sie trägt oder ob wir jederzeit verstoßen werden können. Ob wir eine Stimme haben oder „hörig“ sein müssen.

Betrachten wir diese Grunderfahrungen, so ist eines unübersehbar: Sie lassen sich wieder den bereits angesprochenen Grundmotiven zuordnen: Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit. Tatsächlich dreht sich die Kindheit nämlich um genau diese Themen, sie sind der Stoff unseres inneren Wachstums. Kinder verhandeln diese Motive tagtäglich, im ganz normalen Alltag, ob in den Familien oder in den Einrichtungen: Bin ich okay? Schützen die Großen mich, wenn ich in Not bin? Oder lassen die mich allein? Kann ich mitgestalten oder muss ich immer tun, was andere mir vorgeben? Bin ich der Welt gewachsen oder bin ich beständig überfordert und gestresst? An den Antworten, die Kinder auf diese Fragen bekommen, eicht sich der Kompass, mit dem sie die Welt gestalten werden. Zeigt er auf Vertrauen oder auf: Vorsicht, pass auf! Sehe ich die Welt als gebenden Ort – oder als Kampfplatz? Kurz: Trage ich in mir das Grundgefühl einer Heimat – oder fühle ich mich heimatlos?

Und damit bin ich bei der Grundthese meiner Arbeit zum Rechtspopulismus: Menschen, die in ihrer Kindheit gute Antworten auf ihre Entwicklungsfragen bekommen, sind vor den Verlockungen des autoritären Denkens geschützt. Diejenigen, denen gute Antworten hartnäckig verweigert werden, werden dadurch auf eine lebenslange Suche nach Ersatz geschickt: Die Sicherung, die sie innerlich nicht erfahren haben, suchen sie dann im Äußeren. Sie sind verletzlich. Auch gegenüber den Verheißungen des Rechtspopulismus. Erst wenn wir diese Kindheitsdimension mit einbeziehen, schließt sich die Deutungskette, die autoritäre Neigung erklären kann.

Stimmt die These?

Dazu würde ich gerne ein paar der Landkarten vorstellen, die ich für mein Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ analysiert habe. Wirft man ein grobes Raster über die Erde und lässt darauf die Diktaturen und Oligarchien aufleuchten, dann decken sich diese politischen Hotspots ziemlich genau mit einer anderen Landkarte, nämlich der von der UN und anderen Organisationen erstellten Landkarte widriger Kindheiten: Wo Kinder schlecht behandelt werden, hat der politische Autoritarismus leichtes Spiel. Eine noch eindrücklichere Landkarte liefern die USA: Ordnet man die Zustimmungsraten der Bürger zur körperlichen Züchtigung von Kindern in eine Rangfolge, so gingen die zweiundzwanzig höchstplatzierten Bundesstaaten alle an Trump: Strenge Vorstellungen von Erziehung münden in strenge Vorstellungen von Politik.

Eine dritte Landkarte betrifft Deutschland, sie ist für mich die überraschendste. Ein Team rund um die Autoritarismusforscherin Gerda Lederer verglich nämlich direkt nach dem Fall der Mauer die bei jugendlichen Schülern und Schülerinnen diesseits und jenseits der innerdeutschen Grenze zu messenden autoritären Haltungen wie Fremdenfeindlichkeit oder auch die Bereitschaft, sich ungerechten Befehlen zu widersetzen. Zumindest offiziell war die Gesellschaft der DDR ja auf Völkerverständigung und Antifaschismus ausgerichtet und in der Erziehung galten Solidarität, Gleichbehandlung und Einordnung in die Gemeinschaft als wichtige Werte. Sollten die in der DDR aufgewachsenen Jugendlichen dann nicht eine geringere Neigung zu autoritären Positionen haben? Das krasse Gegenteil war der Fall – in allen befragten Dimensionen, und zwar deutlich.

Die letzte Landkarte ist deshalb interessant, weil sie einen Hinweis enthält, dass in Sachen Autoritarismus nicht nur die Erziehung in der Familie, sondern auch die in den Einrichtungen wirkmächtig sein kann. Denn der Erziehungsstil in den Familien war damals in der DDR nicht viel anders als in der BRD. Die Kinder wurden sogar wahrscheinlich weniger geschlagen als in Westdeutschland. Aber wenn man die Erziehung in den Einrichtungen anschaut, hatte diese eindeutig autoritäre Züge, das zeigen zum Beispiel Übersichtsarbeiten von Agathe Israel. Kinder mussten sich in den Krippen und Kitas größtenteils von klein auf unterordnen, die Betreuungszeiten waren extrem lang. Die meiste Zeit haben die Kinder also in „hörigen“ Positionen ohne Widerrede verbracht. Sie sollten im Kollektiv funktionieren, die Bedürfnisse des einzelnen Kindes standen nicht im Fokus. Der Personalschlüssel war außerdem so eng bemessen, dass der Tagesablauf nur durch ein striktes Reglement zu schaffen war. Dass ein solches Aufwachsen zumindest Spuren hinterlässt – und bei manchen vielleicht sogar einen Haftgrund für autoritäre politische Versprechungen – erscheint mir plausibel.

Der eigentliche Lackmustest für die Kindheitsthese aber ist der: Wenn der Kindheit wirklich Schutz- oder Verführungskraft gegenüber autoritären politischen Haltungen zukommt, dann müsste der Wandel hin zu einer liberaleren, beziehungsvolleren, weniger autoritären Erziehungskultur, den wir seit den 1960er Jahren insbesondere in Deutschland erlebt haben, tatsächlich eine politische Dividende eingebracht haben.

Und tatsächlich: Diese Dividende lässt sich klar beschreiben, dem Aufstieg der AfD zum Trotz. Denn was wir beim Blick auf die neue Parteienlandschaft oft vergessen, gehört zu den unbestrittenen Grundaussagen der Autoritarismusforschung: Wir leben heute in der liberalsten, offensten, vielfältigsten und dazu noch „weiblichsten“ Gesellschaft, die es auf deutschem Boden jemals gab. Der Großtrend unserer Zeit heißt eben nicht Rechtspopulismus, sondern Liberalismus. Im geschichtlichen Vergleich haben autoritäre Gesinnungen über die letzten Generationen kontinuierlich abgenommen. Und das insbesondere unter den Jüngeren, die tatsächlich in fast allen Ländern (auch in Deutschland) unter allen Wählergruppen am wenigsten nach stramm rechts neigen. Wer von diesen Aussagen überrascht ist, möge daran denken, dass schon einmal in sieben Landesparlamenten eine Partei
namens NPD saß. Oder daran, wie man in der BRD in den 1960er und 70er Jahren mit den sogenannten Gastarbeitern umgegangen ist. Oder daran, dass eine Position wie „Kinder statt Inder“ einmal ein ganz normales, bürgerlich-konservatives Programm war.

Anders als viele andere Kommentatoren und Publizisten blicke ich deshalb mit Optimismus in die Zukunft: Ja, wir haben in Deutschland ein Rechtspopulismusproblem – aber wir haben auch einen wunderbaren Schutz. Den effektivsten und einzig nachhaltigen, den es gibt: Kindheitsressourcen. Wir haben in den guten Jahren einfach zu viel menschliches Land gewonnen.

Zur inneren Heimat

Für mich heißt die Antwort auf die rechtspopulistischen Verlockungen deshalb vor allem das: Wir müssen alles tun, um die Kindheiten zu stärken. In den Familien und in den Einrichtungen. Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit, das sollte dort immer wieder neu geschaffen, zusammengefügt und gegen die Ökonomisierung des Lebens verteidigt werden. Denn aus diesem Kleeblatt bildet sich eine innere Heimat. Wer sie hat, wird sie nicht bei politischen Verführern suchen müssen.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS Spezial, Sommer/Herbst 2019, S. 16-19





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