Bindungstheorie – ein Auslaufmodell?

Jutta Gruber im Interview mit Heidi Keller

Kinder haben verschiedene Bezugspersonen und dieses Wissen ist auch in der Bindungstheorie angekommen – theoretisch! Praktisch wird aber immer noch fast ausschließlich auf die Mutter fokussiert – von Sorgerechtsentscheidungen bis zum Übergang in die Kita. Das geht an der Lebensrealität vieler Familien vorbei. Um allen Kindern gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, müssen wir umdenken und neuen Perspektiven Raum geben. Auch bei der Eingewöhnung. Das verdeutlicht Prof. Dr. Heidi Keller im Interview mit Jutta Gruber.



  • Die Bindungstheorie hat den Blick auf das kindliche Bedürfnis nach spezifischen Beziehungen sensibilisiert und ist seit den 1980er-Jahren eine Säule der Elementarpädagogik. In Ihrer jüngsten Publikation »Mythos Bindungstheorie« hinterfragen Sie deren Grundsätze und Praxistauglichkeit

keller3Das stimmt. Ich freue mich über das Buch, weil ich hoffe, mit ihm Impulse für einen aus wissenschaftlicher, fachpolitischer und ethischer Sicht dringend notwendigen Diskurs in Gang zu setzen.

Es ist höchste Zeit »unsere Bindungsunschuld zu verlieren«, wie es eine Zuhörerin kürzlich nannte, und hochengagierte pädagogische Fachkräfte zu entlasten und zu unterstützen.

  • Findet ein solcher DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  nicht schon längst statt?
Die kulturelle Blindheit der Bindungstheorie ist immer ein Thema gewesen und kritische Stimmen zu diesem Ansatz und seinen Implikationen gibt es seit dessen Anfängen. Zum Beispiel von der Kulturanthropologin Magret Mead hinsichtlich der Annahme der universellen Gültigkeit. Die Monokultur der Bindungstheorie ist auch nach ihr immer wieder von PsychologInnen und AnthropologInnen angemahnt worden, weil auch sie in ihren Feldforschungen sehr unterschiedliche Familienmodelle erkannten, die mit unterschiedlichen Betreuungsformen für Kinder und anderen Vorstellungen über die gesunde Entwicklung von Kindern einhergehen. Dass das Beobachten von Kindern und ihren Familien im natürlichen Kontext mit der Einführung des Fremde Situation Tests in der Bindungstheorie an Bedeutung verlor, hat übrigens auch Mary Ainsworth, eine enge Mitarbeiterin von John Bowlby, nicht gefallen.

Hatte Ainsworth ihn nicht selbst, zusammen mit weiteren Mitarbeiterinnen, entwickelt?

Ja schon. Offensichtlich hielt sie aber die Beobachtung des Kindes im natürlichen Kontext und Interviews mit den Bezugspersonen für wichtig zum Verständnis. So ist sie in ihren Studien in Uganda und später in Baltimore ja auch selbst vorgegangen.

  • Ein Testverfahren unter Laborbedingungen klingt doch zunächst einmal herrlich objektiv und aus wissenschaftlicher Sicht valide.

Ach, das hat oft nur den Anschein. Ich fand das gesamte Konzept dieses Tests schon immer ziemlich verschwommen. Die Aspekte Trennungsangst, Fremdenfurcht (s. Kasten) und Neuheit – in diesem Fall die Erfahrung eines neuen Raums – sind miteinander vermischt und letztlich ist unklar, welche genau man dabei eigentlich untersucht. Zudem konnte ich nie nachvollziehen, warum man Kinder mit dem Fremde Situation Test derart quält. Wenn Sie einmal selbst erlebt hätten, welch’ schreckliche Szenen sich bei dieser Untersuchung mitunter abspielen – Kinder die schreien, zum Teil emotional völlig kollabieren und sich nicht mehr zu helfen wissen und Bezugspersonen, die darüber ebenfalls ihre Fassung verlieren –, wüssten Sie, warum nicht nur ich dieses Verfahren allein schon aus ethischen Gründen ablehne.

  • Sie lehnen den Fremde Situation Test aus ethischen als auch aus methodischen Gründen ab. Wie steht es um das Klassifikationssystem mit den vier Bindungstypen?

Die mögen eventuell auf westliche Mittelschichtkinder anwendbar sein, für viele Kinder aus anderen Familienkulturen führt es zwangsläufig zu Fehlbeurteilungen – und das ist ethisch nicht vertretbar. Dazu kommt, dass die Klassifikation inflationär gebraucht wird. Ich habe in vielen Kitas gesehen, dass ErzieherInnen die Bindungssicherheit der Kinder beurteilen – und damit oft auch die Eltern gleich mit (»Naja ... bei deeeen Eltern ...«). Kinder solcherart zu klassifizieren – und das auch noch auf sehr fraglicher Grundlage – führt zwangsläufig zu Vorurteilen und wird der Individualität, die in den pädagogischen Programmen ja ganz oben steht, in keiner Weise gerecht. Welchen Gewinn soll es der pädagogischen Arbeit in der Kita bringen, wenn die Kinder klinisch beurteilt werden?

  • Sie sind mit den Vorzügen der, in den Sozial- und Kulturwissenschaften praktizierten beobachtenden Verfahren im natürlichen Kontext – also der sogenannten Feldforschung – bestens vertraut. Inwiefern können wir vom Wissen aus diesen Disziplinen profitieren?

Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen sind besonders gründlich darin geschult, Menschen nicht aufgrund eines uns vermeintlich bekannten Verhaltens – also mit unserer kulturellen Brille – zu beurteilen und zu bewerten, sondern die, den beobachteten Verhaltensweisen zugrunde liegenden Bedeutungssysteme der Menschen zu erkennen und zu verstehen. Dieser ethnografische Blick lehrt uns, Bekanntem wie Unbekanntem mit offenem Interesse oder anders gesagt, interessierter Neugier zu begegnen. Wir brauchen immer beides, um menschliches Verhalten zu verstehen: Beobachtung und Bedeutungssysteme.

  • Hätten Sie dafür ein Beispiel?

Naja ... stellen Sie sich mal vor, Sie würden eine Frau sehen, die ihre Hand gegen ihr Kind erhebt. Was würden Sie denken? In Indien ist dies eine verbreitete Grenzsetzungsgeste, der keine – wie viele von uns befürchten würden – Gewalt folgt und die auch keine Gewalt ausdrückt, sondern lediglich mitteilt: Hier ist eine Grenze. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen unzählige nennen.

  • Wann regte sich bei Ihnen das Unbehagen an den Annahmen der Bindungstheorie?

Eigentlich hat schon mein erster Kontakt mit diesem Konzept, also in den Anfängen der deutschen Bindungsforschung, in mir – wie in vielen anderen jungen WissenschaftlerInnen auch – sehr viele Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel konnten wir nicht nachvollziehen, warum Michael Lamb, der mit Mary Ainsworth zusammengearbeitet hatte, aus deren Kreis ausgeschlossen wurde, nachdem er zusammen mit anderen jungen Forschern in einem Artikel kritische Punkte der Bindungstheorie und insbesondere des Fremde Situation Tests diskutierte. Obwohl die Intention der Autoren war, die Bindungstheorie und den Fremde Situation Test zu verbessern, kam das offensichtlich bei der Elite der Bindungstheorie gar nicht gut an.

Inzwischen sind wir eine große Gruppe von BiologInnen, PsychologInnen und AnthropologInnen, die in regem Austausch miteinander stehen und zunehmend auch anwendungsbezogene und ethische Fragen in den Blick nehmen. Dennoch gibt es nach wie vor sehr wenige BindungsforscherInnen, die sich der Diskussion mit uns stellen. Genau genommen gibt es erst seit zwei Jahren seitens der BindungsforscherInnen zaghafte Ansätze, sich die vorhandene Literatur anzusehen und mit uns zu diskutieren.

Ich selbst machte im vergangenen November in einer öffentlichen Diskussion an der Universität Leipzig eine solche gute Erfahrung mit dem Bindungsforscher Ross Thompson. Unsere Vorträge und die anschließende Diskussion – in englischer Sprache – sind übrigens in ganzer Länge im Internet hochgeladen. (Geben Sie dafür die Suchbegriffe »Attachment Theory: Past, Present & Future« auf YouTube ein. Anm. JG).

  • Es ist nicht ungewöhnlich, dass VertreterInnen bestimmter Disziplinen zumindest phasenweise unter sich bleiben und nicht am Austausch mit VertreterInnen anderer Disziplinen interessiert sind.

Das würde ich so nicht sagen. Wissenschaft ist doch gerade durch Offenheit charakterisiert und kann durch unterschiedliche Sichtweisen vorangebracht werden. Das schließt natürlich nicht aus, dass es auch schön ist, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Ich denke, man braucht beides. Bei den BindungsforscherInnen beobachten wir eine völlige Abschottung von dem Rest der Wissenschaft. Ein Phänomen, das den Austausch verhindert, ist z.B., dass sich BindungsforscherInnen ausschließlich mit Studien befassen, die das von ihnen entwickelte Methodeninventarium verwenden.

  • Das ist natürlich schon extrem. Insbesondere junge ForscherInnen suchen nach Orientierung. Wer hat Sie in Ihrem Werdegang beeinflusst?

Wissen Sie, als ich in den 1960er-Jahren studierte, waren wir sehr frei – und sehr orientierungslos. Die Art von Förderung, die heute selbstverständlich ist, existierte nicht. Man suchte sich selbst seinen Weg. Mir persönlich kam das entgegen. Ich besuchte viele Kongresse, besorgte mir Informationen zu allem, was mich interessierte und selbstverständlich las ich viel. Eine echte Offenbarung war für mich »Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie« von Norbert Bischof. In diesem Buch stellt er eine von ihm entwickelte Bindungstheorie vor. Ich weiß, dass er diese sehr gern mit BindungstheoretikerInnen diskutiert hätte. Darum jedoch bemühte er sich vergeblich. Auch die mikroanalytischen Verhaltensanalysen der EntwicklungsforscherInnen Hanus und Mechthild Papoušek haben mich fasziniert und in der Entwicklung meines methodischen Vorgehens geprägt. Besonders beeinflusst haben mich später auch die Arbeiten der US-amerikanischen PsychologInnen Robert und Sarah LeVine mit denen ich mittlerweile seit Jahrzehnten im Austausch bin.

  • Was schätzen Sie an deren Forschungen?
Sie alle sind Kultur- und EntwicklungspsychologInnen bzw. AnthropologInnen, die längere Zeit in anderen Kulturen lebten, deren Sprachen lernten, ihr Verhalten minutiös beobachteten und deren Auffassung von guter Beziehung, Bindung und Erziehung zu verstehen versuchten. An Bischof schätzte ich vor allem seine evolutionär begründete Theorie und an den Papoušeks, deren empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Ansatz. Mich faszinierte, dass sie – auch die Feinregulation – nicht nach vorgefertigten Konzepten beobachteten, bevor sie Analysen machten. Die Arbeit der LeVine’s finde ich wegweisend. Sie lebten in Kenia und vielen anderen Teilen der Welt und fanden und erforschten dort alternative Konzepte von Beziehungen und Sozialisationszielen. Sie alle haben sich übrigens niemals der Bindungstheorie angeschlossen, sondern im Gegenteil profunde Kritik geübt.

  • Heute sind Sie selbst eine renommierte Entwicklungs- und Kulturpsychologin, leiteten viele Jahre die Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) und wurden vor drei Monaten von der Society for Research in Child Development (SRCD) für Ihr Lebenswerk und herausragende Beiträge zum Verständnis internationaler, kultureller und kontextueller DiversitätDiversität|||||siehe Diversity in der kindlichen Entwicklung geehrt. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir eine Entwicklungspsychologie, die Entwicklung systematisch kulturinformiert darstellt und selbstverständlich, dass mein neues Buch die erhoffte Diskussion fördert und dabei hilft, in der pädagogischen Praxis familien- und kindorientierter vorzugehen. Das würde die Leitungen und Fachkräfte dabei unterstützen, ein zeitgemäßes, unsere Lebenswelt abbildendes, kultursensitives Eingewöhnungsmodell oder besser gesagt, Eingewöhnungsmodelle zu entwickeln. Es kann nicht ein Modell für Alle das beste sein!

Eine Münchner Krippenleiterin drückte mir gegenüber ihre Meinung dazu neulich am Telefon pragmatisch und charmant zugleich aus. Sie sagte: »Ach wissen Sie, von den Eingewöhnungsmodellen muss man sich lösen, wenn man g’scheit ist!«

  • Trifft das Ihre Einschätzung?

Ja, auf jeden Fall. Das Berliner und das Münchner Eingewöhnungsmodell sind von einem kultursensitiven Eingewöhnungsmodell noch weit entfernt. Beide gehen, getreu den Annahmen der Bindungstheorie, davon aus, dass ein Kind eine wichtigste erwachsene Bezugsperson hat – meist hat man dafür die Mutter im Blick –, die während der Eingewöhnungszeit durch eine Bezugserzieherin oder einen Bezugserzieher zu ersetzen ist. Im Münchner Modell spielt zwar die Kindergruppe auch eine Rolle, die Bedeutung der erwachsenen Bezugsperson wird dadurch jedoch nicht geschmälert.

Viele Kinder haben nicht die eine wichtigste erwachsene Bezugsperson. In den meisten Familien hat es doch auch den Vater, Omas und Opas, die beste Freundin oder den besten Freund oder in kinderreichen Familien auch eine enge Beziehung zu einem oder mehreren Geschwistern.

Es ist notwendig, dass dieses Wissen in die Modelle einfließt, um Praxis und Theorie, Realität und Modell wieder in Deckung zu bringen und die Arbeit der hoch engagierten Fachkräfte und Leitungen zu unterstützen, statt einzuengen.
Viele Einrichtungen sind aufgrund praktischer Erfahrungen mit der als Qualitätsmerkmal ausgegebenen Eingewöhnungs- oder Übergangspraxis unzufrieden. Eine Fachberaterin hates kürzlich mir gegenüber so zusammengefasst: »Diese Modelle gehen an den Bedürfnissen der Kinder, der Familien, der ErzieherInnen und der Einrichtungen vorbei.« Allerdings haben verschiedene Einrichtungen sich auf den Weg gemacht und entwickeln eigene Modelle, bei denen, wie eine Leiterin einmal zu mir sagte, zwar »noch Luft nach oben ist«, die aber bereits mehrere Schritte in die richtige Richtung gehen.

  • Das Problem ist also, dass das Berliner und das Münchner Eingewöhnungsmodell für nur sehr wenige Kinder genau richtig sind?

Für das eine oder andere Kind sind sie vielleicht genau richtig. Dennoch, das in unseren Kitas üblicherweise praktizierte Eingewöhnungsszenario – Kinder werden in einem fremden Raum an eine fremde Erwachsene, in Anwesenheit der Mutter oder einer anderen erwachsenen Bindungsperson, gewöhnt – kann als weniger systematische Variante des Fremde Situation Tests betrachtet werden. Nur: Im Fremde Situation Test soll das Kind gestresst werden und in der Eingewöhnungssituation soll das Kind entspannt und beruhigt werden? Da muss man sich doch fragen – wenn bitteschön das Kindeswohl im Mittelpunkt unseres Interesses bleiben soll – was hier falsch läuft.

  • Was nun? Wie können wir kultursensitiv eingewöhnen?

Wir müssen genauer auf das einzelne Kind schauen und das bedeutet, das Kind im Kontext seiner Familie und seiner bisherigen Erfahrungen verstehen lernen. Wir müssen fragen: Was braucht dieses Kind, um an einem ihm fremden Ort anzukommen und sich dort – im Einklang mit seiner Familie – wohlzufühlen. Konkret könnten wir uns z.B. bewusst machen, dass Kinder – unabhängig davon, aus welcher Kultur sie kommen – in der Regel keine Angst vor anderen Kindern haben und über Gruppeneingewöhnung nachdenken, wie sie in einigen Einrichtungen bereits erprobt werden. Oder wir könnten uns auf die Bedeutung der Ortsidentität besinnen und Kinder dabei unterstützen, sich nicht nur mit der Einrichtung, sondern auch mit dem Ort, der Landschaft in der sie leben, vertraut zu machen.

Auf jeden Fall sollten wir nicht an einer Doktrin festhalten, die in der Praxis häufig nicht funktioniert. Wir bewegen uns hier inmitten eines Dschungels impliziter, häufig nicht bewusster und in jedem Fall emotional tief verankerter Vorannahmen, bzw. Werte, die wir nicht infrage zu stellen gewohnt sind – wie z.B. dass Bindung und Bildung von jungen Kindern durch Erwachsene erfolgen muss. Eine Doktrin, ein pädagogisches Konzept kann nicht für alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit, ihren unterschiedlichen Lebensformen und unterschiedlichen Kulturen das Beste sein.






Hintergrund: Fremdenfurcht - Immer ein gutes Zeichen?


Fremdenfurcht gilt – hierzulande – als notwendiger Teil der Bindungsentwicklung. Wenn Kinder gegen Ende des ersten Lebensjahres unbekannten Personen gegenüber »fremdeln«, erkennen wir, dass sie eine spezifische Bindung zu einer (oder wenigen) Bezugsperson(en) aufgebaut haben. Kindern oder auch kleinwüchsigen Menschen gegenüber bleibt diese Reaktion häufig aus.

Vermutlich ist Fremdenfurcht ein Teil unserer phylogenetischen Ausstattung. Das heißt, sie ist im Laufe der Menschheitsgeschichte als – sinnvolle – Anpassung an die Umwelt entstanden und jeder Mensch trägt sie als Prädisposition in sich. Fremdenfurcht erfüllt eine generelle Schutzfunktion für das kleine Kind – sich keinen Gefahren auszusetzen. Sie taucht jedoch nicht automatisch im Verhaltensrepertoire zu einem bestimmten Entwicklungszeitpunkt auf, sondern lediglich, wenn sie durch spezifische Erfahrungen aktiviert und getriggert wird. Fremdenfurcht wird also durch bestimmte Sozialisationsstrategien begünstigt. Ebenso ist vorstellbar, dass es Sozialisationsstrategien gibt, die das Auftreten von Fremdenfurcht verhindern.

Begünstigt wird Fremdenfurcht in dem Familienmodell und der Sozialisationsstrategie der westlichen Mittelschichtfamilie, in der auch die Bindungstheorie beheimatet ist. Das bedeutet, Kinder werden relativ spät in der Biografie ihrer Eltern geboren und haben wenige Geschwister. Eine sichere ökonomische Grundlage, aufgrund höherer formaler Bildung, ermöglicht den Eltern, in der Regel der Mutter, viel Zeit mit dem Baby zu verbringen und ihre exklusive Aufmerksamkeit auf das Baby auszurichten. Babys, die in diesem Kontext aufwachsen, haben im ersten Lebensjahr eher begrenzte soziale Kontakte und entwickeln daher exklusive Bindungsbeziehungen mit entsprechender Furcht vor ungewohnten, unvertrauten und fremden Personen. Diese Sozialisationsstrategie bildet allerdings auf einer weltweiten Skala die absolute Ausnahme: Sie trifft auf etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung zu.

Die überwiegende Mehrheit der Kinder lebt in anderen Familienmodellen und macht entsprechend andere soziale Erfahrungen. Leider gibt es längst nicht so viele Forschungsbefunde aus anderen Kulturen, wie aus der westlichen Mittelschicht – schließlich gehört die überwiegende Mehrzahl der WissenschaftlerInnen und ForscherInnen dieser sozialen Gruppierung an und untersucht in erster Linie VersuchsteilnehmerInnen aus der gleichen Umwelt.

Einige Befunde, die völlig andere Sozialisationsmodelle beschreiben, gibt es jedoch. Die US-amerikanische Anthropologin Alma Gottlieb beispielsweise hat lange Zeit bei der Volksgruppe der Beng an der Elfenbeinküste gelebt. Alma Gottlieb beschreibt das Sozialisationsumfeld der Beng-Kinder folgendermaßen: »Die Beng glauben, dass jedes Kind die Reinkarnation eines Vorfahren ist. Dies wiederum beeinflusst, wer in welcher Beziehung zu den Säuglingen und Kleinkindern steht. Beispielsweise werden die Babys in den Dörfern ständig getragen und es kommt selten vor, dass man dort ein Baby schreien hört. Sobald es anfängt zu weinen, wird es hochgehoben und, wenn die Mutter da ist, sofort gestillt. Es gibt keinen festen Stillplan, das Baby wird gefüttert, wenn es schreit. Wenn die Mutter nicht in der Nähe ist, nuckelt das Baby an der Brust einer anderen Frau wie an einem Schnuller.« (Link) Beng-Kinder werden direkt nach der Geburt vom ganzen Dorf begrüßt und wandern dabei von Arm zu Arm der Dorfbewohner. Bindungen entwickeln sie zu mehreren Personen, und zwar bevorzugt zu anderen Kindern. (siehe auch den Artikel von Bettina Lamm »Geschwisterkulturen« in Betriff KINDER 3-4/2018). Fremdenfurcht ist bei den Beng – wie in vielen dörflichen Kulturen nicht westlicher Länder – unbekannt.

Heidi Keller



Das Buch "Mythos Bindungstheorie" ist beim verlag das netz erschienen.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genemhigung aus Betrifft Kinder






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