Hier fühl ich mich wohl!

Ko-Autorinnen:

Damit Kinder Neues lernen, müssen sie sich wohlfühlen. Woran Fachkräfte das erkennen, untersucht ein neues Forschungsprojekt.

Das Wohlbefinden von Kindern ist essenziell für ihre gesunde Entwicklung. Kinder, die sich sicher fühlen und entspannt den Alltag bewältigen, können sich positiv auf äußere Bildungsimpulse einlassen. Das Wohlbefinden ist der Schlüssel für gelingendes Lernen und für die Förderung von Chancengerechtigkeit. Doch wann fühlen sich Kinder wohl? In der Studie „Stimulation oder Stress? Wohlbefinden von Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr in Kindertageseinrichtungen“ (StimtS) der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Universität Leipzig wird die Perspektive des Kindes in den Fokus gestellt: Sie untersucht, wie das Wohlbefinden junger Kinder in Kindertagesbetreuung erfasst werden kann, welche Rolle dabei Gruppenformen spielen und wie Bedingungen, zum Beispiel das Temperament des Kindes, familiäre Strukturen oder die Qualität der Betreuung beeinflussend wirken.

Was bedeutet wohlfühlen?

Eine einheitliche, konkrete Definition von „sich wohlfühlen“ gibt es nicht. Im Alltagssprachgebrauch wird „sich wohlfühlen“ gleichwertig zu den Formulierungen „Zufriedenheit“ und „glücklich sein“ verwendet. In der Fachterminologie unterscheidet man zwischen dem Verständnis vom Wohlbefinden Erwachsener und dem von Kindern. Die Erfassung des kindlichen Wohlbefindens ist besonders komplex, da junge Kinder sich sprachlich noch nicht explizit mitteilen können und sie stets in Abhängigkeit verschiedener Erwachsener stehen. Kinder können oftmals nicht eigenhändig Situationen steuern oder sie ändern, wenn sie es wünschen. Sie brauchen aufmerksame Erwachsene an ihrer Seite, die ihre Bedürfnisse er-kennen und entsprechend darauf einwirken. Kindliches Wohlbefinden beinhaltet also mehr als ein rein körperliches Versorgtsein. Es schließt mit ein, dass sich ein Kind darauf verlassen kann, getröstet zu werden, wenn es notwendig ist, es sprachliche und geistige Anregung erfährt und Spielmaterialien und Spielpartner zur Verfügung stehen, mit denen es Spaß haben und lernen kann.

Eine wissenschaftliche Beschreibung des kindlichen Wohlbefindens umfasst fünf Domänen: das physi-kalische, das psychische, das kognitive, das soziale und das ökonomische Wohlbefinden. Dabei beziehen sich einige dieser Bereiche stärker auf objektiv feststellbare Aspekte. Hierzu zählen unter anderem familiäre Faktoren wie der Bildungsstand der Eltern, die finanzielle Lage der Familie, deren Wohnumfeld und die häusliche Wohnsituation. Andere gehören zum Begriff des sogenannten subjektiven Wohl-befindens, das anhand direkter Äußerungen eines Kindes, dessen Verhaltensweisen sowie persönlicher Einschätzungen erschlossen werden kann.

Je jünger ein Kind ist, desto mehr muss es sich auf einfühlsame Bezugspersonen verlassen können, die seine Bedürfnisse erkennen.

FOLGENDE REFLEXIONSFRAGEN KÖNNEN HILFREICH SEIN:
➤ Was brauchen Kinder in den ersten Lebensjahren? Woran können wir das erkennen?
➤ Welchen emotionalen Ausdruck zeigen die Kinder in unserer Obhut? Gibt es Kinder, die häufiger niedergeschlagen, antriebslos oder wütend und aufgebracht sind? Gibt es Kinder, die häufiger starke Ängste zeigen?
➤ Welche verbalen und nonverbalen Signale nehmen wir wahr? Verstehen wir, was die Kinder uns mitteilen möchten?
➤ Wie reagieren wir auf kindliche Signale?
➤ Wofür interessieren sich einzelne Kinder besonders? Wann sind sie besonders engagiert oder in ihr Spiel vertieft?
➤ Inwieweit nehmen die Kinder am Gruppen-geschehen teil? Gibt es Kinder, die meist für sich alleine sind?
➤ Sind besonders häufige Kontakte oder besondere Beziehungen zwischen einzelnen Kindern beobachtbar?
➤ Wie gelingt es uns, das Wohlbefinden aller Kinder zuverlässig im Blick zu behalten?

Zur Analyse dieser Aspekte wurden 140 Kinder zwischen 12 und 35 Monaten aus 35 verschiedenen Einrichtungen in Berlin untersucht. Während des freien Spielens am Vormittag wurden sie bis zu 45 Minuten gefilmt. Anhand dieser Videos war die exakte Beobachtung des kindlichen Verhaltens möglich. Die Beziehungsqualität wurde zwischen der pädagogischen Bezugsperson und den Kindern gemessen, das kindliche Temperament bei den Eltern und den pädagogischen Fachkräften erfragt.

Beobachtung verschiedener Verhaltensparameter

Zur Analyse wurde ein vierteiliges Beobachtungsverfahren angewendet. Es erlaubt, im kindlichen Spiel-, Interaktions- und Ausdrucksverhalten systematisch Hinweise auf Wohlbefinden, Unwohlsein und Stress zu identifizieren. Hierfür wurden die vier Skalen Emotionaler Ausdruck, Soziale Teilhabe, Emotionale Sicherheit und Aktivierung von Bildungspotenzialen entwickelt. Beispielsweise wurde der Bereich des emotionalen Ausdrucks anhand von Beobachtungen der Körpersprache, Stimme und Mimik bewertet und, je nach auftretendem Verhalten, einer der vier Emotionskategorien negativ erregt/angespannt; niedergeschlagen; entspannt/zufrieden/ausgeglichen oder positiv erregt zugeordnet. Den Kindern wurden zusätzlich Speichelproben entnommen, um sie auf das Stresshormon Cortisol zu untersuchen.

Erste Ergebnisse belegen, dass sich der Großteil der Kinder, 73 Prozent, nahezu die gesamte Beobachtungszeit über entspannt zeigte. Einige Kinder erlebten aber auch Momente der Niedergeschlagenheit oder deutlichen Unwohlseins.

Wohlbefinden ist in allen Gruppenorganisationen möglich

Bei der Studie wurden auch die Gruppenorganisationsformen, in denen die Kinder betreut werden, untersucht: Liegt eine geschlossene Gruppenstruktur vor? Ob und zu welchen Anlässen wurden die Gruppen zeitweilig geöffnet? Oder arbeitet die Einrichtung nach dem offenen Konzept? Das Ergebnis: Es finden sich keine eindeutigen Belege für die Überlegenheit einer der untersuchten Gruppenorganisationsformen in Bezug auf das kindliche Wohlbefinden und die Bindungssicherheit. Kindliches Wohlbefinden kann in geschlossener Gruppenarbeit als auch in offenen und teiloffenen Konzepten gewährleistet werden.

Weitere Befunde zeigen, dass sich die untersuchten Kinder stark in ihren Mustern der sozialen Teilhabe unterscheiden: So gibt es Kinder, die hauptsächlich beobachten oder sich anderen annähern, wohingegen ihre Peers eher in eine Gruppenaktivität involviert sind. Eine sichere Bindung an ihre Bezugsperson in der Kita konnten wir bei rund 60 Prozent der Kinder feststellen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Mehrzahl der untersuchten Berliner Krippenkinder wohlfühlt. Allerdings macht ein Teil der Kinder auch Erfahrungen, die ihr Wohlbefinden einschränken und das Risiko dauerhaften Stresserlebens bergen. In die¬sen Fällen werden zum Beispiel ihre Bedürfnisse nach Trost, emotionaler Zuwendung oder Anregung nicht befriedigt. Kindliches Wohlbefinden zu unterstützen ist eine zentrale Verantwortung aller pädagogischen Akteure. Es erfordert ein genaues Hinschauen und die Bereitschaft zur regelmäßigen Reflexion des eigenen Verhaltens und der pädagogischen Arbeit.


Zum Weiterlesen:
Susanne Viernickel, Rahel Dreyer, Kristin Stammer, Lisa Vestring, Ulrike Wieland & Elena Wiens (2018). Stimu¬lation oder Stress? Wohlbefinden von Kindern im zweiten und dritten Lebens¬jahr in Kindertages¬einrichtungen. IFAF, 2018


Praxisnahe Projekte und weitere Informationen zu der Studie gibt es zum Download auf:
www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/stimts


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus

"Meine Kita" 01-19, S. 7-9


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