Der lange Arm der frühen Kindheit

Soziale Lage und Bildung

(Festvortrag anlässlich des 40jährigen Bestehens der Deutschen Liga für das Kind)

Ich freue mich, ein wichtiges Thema, vielleicht eines der wichtigsten in unserer Zeit, heute aufzugreifen und mit Ihnen diskutieren zu dürfen. 40 Jahre Deutsche Liga für das Kind heißt auch: 40 Jahre Deutsche Liga für uns alle. Die bestehenden großen Unterschiede mahnen uns, nicht inne zu halten und die Arbeit der deutschen und internationalen Liga für das Kind engagiert zu unterstützen. Zum Geburtstag alles Gute, vor allem aber die Kraft, sich weltweit für unsere Kinder und damit für das Wohl unserer ganzen Gesellschaft einzusetzen.

Ich wurde gebeten, über den langen Arm der frühen Kindheit zu sprechen, also darüber, wie unser heutiges Leben von unserer Herkunft geprägt wird. Natürlich wird es das immer, und es wäre befremdlich, wenn dem nicht so wäre. Was mich und uns hier aber umtreibt, sind herkunftsbezogene systematische Unterschiede und Ungleichheiten im Zugang zu wichtigen Gütern, insbesondere zu einer qualitativ hochwertigen Bildung, verstanden in einem sehr breiten Sinne. Bildung ist ein Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit, für Erwerbschancen, gute Arbeit, Gesundheit, ein langes Leben und für das Empfinden von Glück und Zufriedenheit. Den Zugang zu Bildung zu öffnen und die Qualität von Bildung zu verbessern, ist daher eine der vordringlichen staatlichen Ansinnen und Aufgaben. Es geht um individuelle „Ermächtigung“ und gesellschaftliche Imperative.

Individuelle Ermächtigung statt sozialer Auslese

Individuelle Ermächtigung heißt, Menschen zu befähigen, an Gesellschaft und Gemeinschaft teilzuhaben. Dazu werden kognitive, soziale und emotionale Inhalte in Familien, persönlichen Netzwerken, Kindergarten, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetrieben an die Menschen weitergegeben. Eine solch breit verstandene Bildung ermöglicht soziale und politische Teilhabe und den Zugang zum Arbeitsmarkt.

In Deutschland hängen die Bildungschancen und Bildungsergebnisse von Kindern stark von der sozialen Lage und dem Bildungsstand ihrer Eltern ab. Kinder aus bildungsfernen Sozialschichten und mit Migrationshintergrund haben auch bei gleichen kognitiven Leistungen schlechtere Bildungs- und Berufsausbildungschancen als Kinder aus mittleren und hohen sozialen Schichten. Bereits in der Grundschule sehen wir deutliche Unterschiede im Kompetenzerwerb. Kinder aus Akademikerfamilien erreichen durchschnittlich eine höhere Lesekompetenz als Kinder aus Familien, in denen kein Elternteil einen Hochschulabschluss besitzt.

Vergleichen wir Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, zeigt sich ein ähnliches Bild. Diese Bildungsungleichheiten setzen sich in der Sekundarstufe fort. Die soziale Herkunft bestimmt wesentlich, welche Schulform die Kinder besuchen: Während 58 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien auf das Gymnasium gehen, trifft dies nur auf 27 Prozent der Kinder von Facharbeitern und sogar nur auf 19 Prozent der Kinder un- und angelernter Arbeiter zu (Prenzel et al. 2013, S. 269). Damit sind die Chancen von Kindern aus Akademikerfamilien für einen Gymnasialbesuch fast viermal so hoch wie für Facharbeiterkinder und fast sechsmal so hoch wie für Kinder von Un- und Angelernten.

Diese Ungleichheiten finden wir auch bei den erworbenen Kompetenzen. Während sieben Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien unzureichende Kompetenzen aufweisen, sind es bei Facharbeiterkindern 16 Prozent und bei Kindern un- und angelernter Arbeiter sogar 22 Prozent. Bleiben wir noch in der Sekundarstufe und schauen auf den Migrationshintergrund. Von den 15-Jährigen mit Migrationshintergrund besuchten nur 29 Prozent ein Gymnasium, bei jenen ohne Migrationshintergrund waren es hingegen 40 Prozent (ebd., S. 298).

Enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg

Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist nicht zwingend. Dies bestätigt der Blick in die Nachbarländer. In Dänemark, Estland, Finnland, Luxemburg und Schweden beispielsweise beeinflusst die soziale Herkunft den Bildungserfolg nicht so stark wie in Deutschland. Die Erfolgsquoten im Sekundarbereich II unterscheiden sich zwischen Schülern, deren Eltern über einen Abschluss im Tertiarbereich verfügen, und Schülern, deren Eltern einen Abschluss unterhalb des Sekundarbereichs II haben, in den meisten Ländern deutlich weniger als in Deutschland, in Finnland lediglich um zwei Prozentpunkte. Ein vergleichbares Bild sehen wir bei den kognitiven Kompetenzen (European Commission 2013).

Länder, in denen die Bildungsergebnisse wenig durch das Elternhaus vorgeprägt werden, investieren besonders in die frühen Lebensjahre von Kindern und lassen sie wesentlich länger zusammen lernen. Auch die Ausbildung der Lehrkräfte wurde in diesen Ländern massiv durch Anreizsysteme wie Weiterbildung, freie Zeit für die Schülerinnen und Schuler oder Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte verbessert. Schwache Schülerinnen und Schüler werden mit gezielten Maßnahmen gefordert, die Autonomie der Schulen wurde erhöht.

Diese Beispiele zeigen deutlich, dass sich Bildungsarmut nicht mit einem Begabungsansatz rechtfertigen lasst und sozialer Selektivitat in Bildungssystemen mit guten institutionellen Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden kann. Gerade Bildungsarmut ist in Deutschland aber ein gravierendes Problem: 13 Prozent der heute 25- bis 34-Jahrigen haben keinen Sekundarabschluss. Oft wird behauptet: Es braucht dieses „Zehntel Bildungsarmer. Ein bestimmter Anteil der Gesellschaft kann nicht gebildet und ausgebildet werden.

Ein Blick auf andere europäische Länder belegt jedoch: Bildungsarmut ist vermeidbar. In 15 von 28 Mitgliedstaaten der EU ist der Anteil von Jugendlichen ohne Schulabschluss niedriger als in Deutschland. Dies lässt sich nicht einfach mit dem Argument wegwischen, dass den Jugendlichen in anderen Ländern der Schulabschluss „nachgeworfen“ wird, also keine Leistung dahintersteckt. Diesen Ländern gelingt es, ein gutes durchschnittliches Leistungsniveau zu erzielen. Bildungsarmut lässt sich also vermeiden, ohne die Qualität von Bildung in einem Land zu verringern.

Auswirkungen auf vielen Lebensebenen

Welche langfristigen Auswirkungen haben diese Unterschiede über den gesamten Lebensverlauf hinweg, was hat es auf sich mit dem langen Arm der Kindheit? Ich gehe auf vier Punkte ein: die Lebenserwartung bei guter Gesundheit, das Einkommen und Vermögen, die sozialen Netzwerke und die Kompetenzen in der Gestaltung eines zufriedenen Lebens.

Die Lebenserwartung bei guter Gesundheit unterscheidet sich sehr zwischen Menschen mit hoher und niedriger Bildung (Allmendinger & von den Driesch 2015). Dies hat viel mit der Ernährung zu tun, da gut gebildete Menschen starker auf Nahrungsmittel achten, und zwar unabhängig von ihrem Einkommen (Allmendinger 2017). Und es hat etwas mit ihren Tätigkeiten zu tun, die selten mit Schichtarbeit und unsicheren Arbeitsverhältnissen einhergehen und damit körperlich wie seelisch weniger belastend sind (Allmendinger & Haarbrucker 2017).
Hinzu kommt: Die Zeiten sind vorbei, in denen sich Partnerschaften über Bildungsunterschiede hinweg formieren. Immer häufiger ist festzustellen, dass sich gleich zu gleich gesellt. Das „marriage premium“ steigert die eigene privilegierte Lebenslage, oder umgekehrt, die eigene marginalisierte Lebenslage. Diese wiederum übertragt sich auf die Kinder. Hinzu kommen Freundeskreise und Netzwerke, die diese Spaltung der Gesellschaft noch weiter treiben. Die sozialen Netzwerke werden immer wichtiger, aber auch gefährlicher, da sie soziale Schließungsprozesse noch zementieren. Das heißt auch: Die mit Bildung einhergehende bessere Ernährung und besseren Arbeitsverhältnisse kommen meist im Doppelpack. Da Menschen, die in Partnerschaften leben, eine besonders hohe Lebenserwartung haben, kommt dieser Effekt noch hinzu.

„Was wenige haben, ist auf dem Arbeitsmarkt ein besonders wertvolles Gut. Mit diesem intuitiv einleuchtenden Argument wird gerne davor gewarnt, zu vielen Menschen das Abitur oder ein Hochschulstudium zu ermöglichen. Diesem Zusammenhang kann man empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. nachgehen und die Bildungsrenditen in Deutschland über die Zeit untersuchen: Führte die Bildungsexpansion zu niedrigeren Bildungsertragen? Die Bildungsexpansion in Deutschland hatte keine geringeren Bildungsrenditen zur Folge, im Gegenteil: Die Lohnspreizung zugunsten von Akademikern ist heute größer denn je. Es besteht kein Automatismus zwischen dem Anteil von Menschen mit hoher Bildung und den Bildungsrenditen (Allmendinger & von den Driesch 2015).

Die Globalisierung und die sich ausbreitende Wissensgesellschaft fuhren zu einem hohen Bedarf an gut ausgebildeten Menschen. Eine Sättigung ist nicht in Sicht. Der Übergang von der Ausbildung in die erste feste Stelle gelingt im hohen Qualifikationsbereich meist relativ zügig und unproblematisch. Das Premium für gut gebildete Menschen bleibt auch zu Zeiten bestehen, in denen mehr Menschen über eine gute Bildung verfugen. Dagegen verlieren niedrig gebildete Menschen massiv an Boden. Die Einkommens- und Vermögensschere ist immer auch eine Bildungsschere.

Kommen wir nun zu den Kompetenzen in der Gestaltung eines zufriedenen Lebens. Die Vermächtnisstudie (Allmendinger 2017) zeigt, dass gut gebildete Menschen eher offen für Neues sind niedrig gebildete Menschen, die dazu tendieren, in eine Art Angststarre zu verfallen und im Status Quo zu verharren. In Zeiten, die mit massiven Veränderungen einhergehen, ist Angststarre gefährlich. Auch daher müssen wir etwas für die Bildung unserer Kinder tun.

Gut gebildete Menschen leben länger und gesünder

Natürlich kann ich es bei dieser Aufzählung nicht belassen. Es muss ja um Ansatzpunkte gehen, Kindern und Jugendlichen mit geringer Bildung zu helfen. Dies ist präventiv am besten möglich durch eine entsprechende Fürsorge und durch finanzielle Investitionen in Schulen, für mehr Lehrerinnen und Lehrer, für Sozialpädagoginnen und Sozialpadagogen. In der Bildungskette heißt das, die Standards für Kindergärten zu erhöhen, Personal besser zu bezahlen, die Eltern mitzunehmen, Stadt/Land-Unterschiede abzubauen und die vielen erfolgreichen Modellprojekte in die Fläche zu bringen. Es heißt, Ganztagsschulen einzurichten, die verlässlich sind und ein gutes und breites Angebot vorhalten. Es meint, Schulen zu betreiben, in denen Menschen aus vielen sozialen Schichten und vielen kulturellen Hintergründen zusammen kommen und lernen, die Einstellungen Anderer zu verstehen. Es muss darum gehen, Schulen mehr Zeit zu geben, soziale Kompetenzen und das Demokratielernen in CurriculaCurricula|||||Ein Curriculum ist ein Lehrplan, Modulplan oder Lehrprogramm, das Aussagen über Lehrziele und Ablauf des Lehr- Lern – Arrangement gibt und auf einer Didaktik aufbaut. und den Schulalltag zu integrieren. Wir müssen eine Vergleichbarkeit zwischen Schulen und insbesondere zwischen Bundesländern veranlassen, dazu gehört meines Erachtens auch die Abschaffung des Kooperationsverbots.

Eine gute Bildung brauchen wir jeden Tag. Gut gebildete Menschen leben länger und gesünder, sie sind eher politisch und sozial engagiert. Eine bessere Bildung führt zu mehr Teilhabe, auch jenseits des Arbeitsmarkts. Bildung ist auch wichtig für die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt, heute mehr denn je. Die Arbeit geht uns in absehbarer Zeit nicht aus, eher fehlen uns die Menschen. In Deutschland steigt der Seniorenquotient rapide. Im Jahr 1960 kamen 16 Menschen über 64 Jahre auf die Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 64 Jahren; fünfzig Jahre später sind es bereits 32 Menschen (2010). Damit einher geht eine rasche Steigerung sozialstaatlicher Ausgaben für die Alterssicherung und die Gesundheit. Dieses Ausgabenwachstum beschädigt die „fiskalische Demokratie (Streeck & Mertens 2010, S. 10). Der frei verfügbare Teil des Gesamtbudgets sinkt damit immer mehr – von 62 Prozent (1970) auf 20 Prozent (2009).

Um der Jugend ihre Chancen zu bewahren, sollte man das Budget für Bildung erhöhen, solange dies noch möglich ist. Selbst wenn wir nur die absolute Zahl gut Gebildeter von heute halten wollen, muss deren Anteil entsprechend steigen. Ressourcen hat Deutschland noch viele, jedes Jahr verschwinden allein 250.000 Jugendliche im Übergangssystem. Angst vor einem Verfall an Bildungsqualität müssen wir dabei nicht haben.

Die Deutsche Liga für das Kind hat sich diesen Aufgaben verschrieben. Wir brauchen sie sehr und noch lange.

LITERATUR

  • Allmendinger, J. (2017): Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. München.
  • Allmendinger, J, von den Driesch, E. (2015): Bildung in Deutschland. Elf Mythen – elf Tatsachen. In: Reiner Hoffmann & Claudia Bogedan (Hrsg.): Arbeit der Zukunft. Möglichkeiten nutzen – Grenzen setzen. Frankfurt a.M., S. 37-51.
  • Allmendinger, J., Haarbrucker, J. (2017): Arbeitszeiten und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung der IG Metall 2017. WZB Discussion Paper.
  • European Commission (2013): PISA 2012: EU performance and first inferences regarding education and training policies in Europe.
  • Prenzel, M., Salzer, C., Klieme, E., Koller, O. (Hrsg.) (2013): PISA 2012. Fortschritte und Herausforderungen in Deutschland. Münster.
  • Streeck, W., Mertens, D. (2010): An Index of Fiscal Democracy. Max Planck Institute for the Study of Societies, Discussion Paper, Köln.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 06-17, S. 18-21
Foto auf facebook: Inga Haar



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