Neurobiologie im Säuglingsalter

Entstehung von Stressbelastungen und Ressourcen

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorgeburtliche Erfahrungen prägen die spätere Stressbewältigung
  2. Das Stresssystem wird epigenetisch geprägt
  3. Nachgeburtlich erhält das Kind Unterstützung bei der Regulation der Stressantwort
  4. Oxytocin prägt die emotionale Entwicklung
  5. Schwierige Kinder brauchen die liebevolle Fürsorge mehr als andere
  6. Jenseits der frühen Kindheit

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Die Gene und die frühen Erfahrungen eines Kindes prägen die Entwicklung seines Gehirns, seines Temperamentes und seiner späteren Persönlichkeit. Sie prägen, ob es sich zu einem schüchternen oder gar sozial gehemmten, zu einem impulsiven oder auch risikobereiten Menschen entwickelt. Gene und Erfahrungen beeinflussen zudem die Fähigkeit, mit späteren Stressbelastungen umgehen zu können und das Risiko, psychische Erkrankungen oder Verhaltensstörungen zu entwickeln.

Aber wie können sich Gene auf die Hirnentwicklung auswirken? Und wie kann so etwas Immaterielles wie Erfahrungen auf das Gehirn mit seinen Zellen und Molekülen einwirken und wie können Zellen und Moleküle Temperament und psychische Eigenschaften hervorbringen? Um das zu erklären, beginnen wir einmal mit einer noch grundsätzlicheren Frage: Worin unterscheiden sich menschliche Gehirne überhaupt?


Individuelle Nervenzellnetzwerke und individuelle Stoffsysteme

Immer wenn wir fühlen, denken oder handeln und auch dann, wenn wir (fälschlicherweise) glauben, nun gerade nichts zu tun, sind im Gehirn zahlreiche Netzwerke von Nervenzellen aktiv. Schaltkreise aus weit entfernten und benachbarten Zellen werden durch all das, was in uns und um uns herum vorgeht, aktiviert. Sensorische Informationen aus der Umwelt treffen ein, werden miteinander assoziiert und in einen Zusammenhang mit Informationen aus dem Inneren des Körpers, mit Informationen über gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster oder explizite Erinnerungen an vorangegangene Situationen gebracht. Die Informationen werden dabei häufig über chemische Synapsen von einer Zelle zur nächsten übertragen. Viele Zellen verwenden für diese chemische Kommunikation schnell wirksame Neurotransmitter wie Glutamat, Glycin oder GABA.

Menschen unterscheiden sich nicht nur darin, wie ihre Nervenzellen miteinander verschaltet sind, sondern auch in dem Ausmaß, mit dem ihre Nervenzellen von weiteren Stoffen, den sogenannten Neuromodulatoren beeinflusst werden. Diese Stoffe werden beispielsweise dann ausgeschüttet, wenn die Umwelt oder unsere eigenen Bedürfnisse erfordern, dass das Gehirn bzw. bestimmte Teile des Gehirns besonders schnell oder anhaltend reagieren, z. B. weil etwas besonders wichtig oder potentiell gefährlich ist. Das kann sich dabei um eine komplizierte Verkehrssituation, eine bedrohliche zwischenmenschliche Situation oder auch um einen sportlichen Wettkampf handeln.

Entdeckt das Gehirn Hinweise auf entsprechende Situationen, werden diese modulatorischen Stoffe von spezialisierten, häufig in Strukturen des Hirnstamms oder des Mittelhirns lokalisierten Zellen produziert und meist über Nervenfasern an verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt. Dort angekommen, binden die Stoffe an ihre Bindungsstellen, ihre sogenannten Rezeptoren, und beeinflussen die Aktivität anderer Nervenzellen. Und zwar derjenigen Nervenzellen, die gerade mit der Welt um uns herum und den eigenen Bedürfnissen beschäftigt sind. Die Stoffe modulieren, wie wir die Informationen bearbeiten. So kann das Gehirn in gefährlichen Situationen in einen sehr reaktiven Zustand versetzt werden, den wir als „wachsam“ bezeichnen. Die Stoffe machen uns wachsam, aufmerksam, motiviert, flexibel oder euphorisch.

Eigenschaften wie Wachsamkeit, Aufmerksamkeit oder auch die Motivation, sich im sozialen Miteinander auf andere einzulassen, sind – wie wir alle wissen – nicht bei jedem Menschen gleich ausgeprägt. Das liegt unter anderem daran, dass s ich Menschen darin unterscheiden, wie viel von diesen Stoffen in ihren Gehirnen wirksam ist. Sie unterscheiden sich darin, wie gut diese Stoffe abgebaut oder nach ihrer Wirkung wieder zurück in die Zelle transportiert werden, und auch in der Anzahl der Bindungsstellen für diese Stoffe. Der eine Mensch entwickelt daraufhin ein höchst effizientes Cortisolsystem, ein anderer ein herausragend funktionierendes Oxytocinsystem und ein dritter beides.

Gene und Erfahrungen bilden die Grundlage für eine individuelle Hirnentwicklung
Aber wie entstehen diese Unterschiede? Erster Kandidat: Die Gene. Die verschiedenen Vorgänge im Körper (einschließlich derjenigen im naturgemäß dazugehörenden Gehirn) werden, wie wir wissen, durch Gene gesteuert. Die Gene codieren für die verschiedenen Proteine. Dazu gehören auch Proteine, die beschriebene Neuromodulatoren binden und deren Wirkung vermitteln und die diese Stoffe zurück in die Zelle transportieren oder sie etwa abbauen.

Die für diese Proteine codierenden Gene liegen häufig in verschiedenen Formen vor (Polymorphismen). Es werden deshalb bei einigen Menschen mehr und bei anderen weniger oder auch unterschiedliche Bauformen dieser speziellen Proteine gebildet. Die von den Proteinen gesteuerten Prozesse funktionieren daraufhin mehr oder weniger effektiv.

Nehmen wir das häufig beschriebene Gen für den Serotonintransporter. Serotonin ist ein modulatorischer Stoff, zu dessen Wirkungen es gehört, uns weniger impulsiv und stattdessen flexibel und zielorientiert reagieren zu lassen (Worbe et al 2015). Kommt es im Gehirn zu einer Freisetzung von Serotonin in den synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen, dann muss es anschließend über ein Transporter-Protein wieder zurück in die Zelle befördert werden. Ein Bereich des für diesen Transporter codierenden Gens kann in unterschiedlichen Formen vorliegen. Menschen unterscheiden sich deshalb darin, wieviel Serotonintransporter-Protein produziert wird, wie effizient der Rucktransport funktioniert und wieviel Serotonin für eine Wirkung im Spalt verbleibt. Und hierüber, wie gut Serotonin im Alltag die Hirnaktivität und unser Verhalten moduliert.

Hinzu kommt, dass Serotonin ganz erheblich die Hirnentwicklung beeinflusst, und zwar sowohl die Entwicklung des serotonergen Systems selbst als auch derjenigen Gewebe, in denen die Fasern der serotoninfreisetzenden Zellen enden (z. B. Gaspar et al. 2003). Insbesondere diese Wirkung auf die Entwicklung scheint dafür verantwortlich zu sein, dass das genetisch bedingt individuelle Ausmaß der Serotoninfunktion in einem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen steht (Ansorge et al. 2007). Es wurde nämlich beobachtet, dass Menschen mit einembestimmten Allel des Gens für den Serotonintransporter auf negative Lebensereignisse eher mit Depressionen oder Selbstmordgedanken reagieren als Individuen, die von beiden Elternteilen eine andere Genvariante geerbt haben (Caspi et al. 2003b). Die eigenen Gene beeinflussen über diese Wirkung die Neigung eines Menschen, infolge von Stressbelastungen psychische Erkrankungen zu entwickeln.

Ähnliches gilt auch für andere Gene, für weitere Gene des Serotoninsystems ebenso wie für Gene anderer Stoffsysteme. Die Gene geben vor, wie gut die Stoffsysteme funktionieren. Und die Stoffsysteme beeinflussen die Hirnentwicklung oder auch die akute Hirnaktivität, das Erleben, das Verhalten und das Risiko für psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Eine Variante für den Oxytocinrezeptor beeinflusst etwa, wie gut sich ein Mensch in Stresssituationen von anderen trösten lässt und ob er seinen Mitmenschen empathisch gegenübertritt oder eher gefühlsarm durch die Welt geht (für eine Übersicht siehe Kumsta und Heinrichs 2013).

Aber auch Erfahrungen, unser zweiter Kandidat, sind an der Entstehung des individuellen Temperaments erheblich beteiligt. Dieser Einfluss beginnt bereits vorgeburtlich.


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