Kinder geflüchteter Familien in der Kita

Einige Implikationen für die Professionalisierung der Fachkräfte

Welches Bild wird in Deutschland über die Medien von Kindern und Familien mit Fluchterfahrung transportiert? Wie wird Fremdheit konstruiert und wie werden damit Menschen aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen? Dieser Frage geht Petra Wagner in ihrem Beitrag nach und zeigt auf, wie KiTas dem durch Vorurteilsbewusstsein, Offenheit und Empathie begegnen können.


Impression 1: Fotos in einer Zeitschrift für Erzieherinnen und Erzieher, die einen Artikel über die Aufnahme von Kindern mit Fluchtgeschichte illustrieren: Auf der einen Bildseite ist eine Frau mit Kopftuch zu sehen, ein Junge steht neben ihr, eine Mutter mit ihrem Kind im Flur einer Kita? Sie hat den Arm um seine Schulter gelegt und scheint etwas zu ihm zu sagen. Auf der entgegengesetzten Bildseite sind drei Kinder, die abwartend-skeptisch zu ihnen herschauen, Kita-Kinder? Die Bildunterschrift: „Aufgabe der Fachkräfte ist es, eine Brücke zu bauen zwischen den Kindern aus Flüchtlingsfamilien und den Kindern, die schon länger in der Kita sind.“

Impression 2: Erziehungsberatungsstellen in Berlin berichten, dass zunehmend Eltern mit jungen Kindern zu ihnen kommen, weil die Kinder Angst vor Flüchtlingen äußerten. Die Eltern seien meistenteils überrascht darüber und ratlos, was sie dagegen machen könnten.


Dies sind zwei Eindrücke zum Thema „Geflüchtete Kinder in der Kita“. Welche Aussagen entnehmen wir ihnen? Da kommen „Fremde“ in die Kita und die „Einheimischen“ haben etwas zu befürchten? Da ist etwas ganz schwierig und problematisch? Vielleicht gar nicht zu schaffen?

Solche Aussagen scheinen derzeit gegenüber positiven Bildern die Oberhand zu gewinnen. Ihre Wirkmächtigkeit liegt vermutlich darin, dass sie bekannt sind, aus zahlreichen Pressemitteilungen und Medienberichten seit dem Herbst 2015, als viele Menschen nach Deutschland flüchteten.

Flüchtlinge als Bedrohung und Überforderung

In einer Analyse zur Medienberichterstattung jener Wochen heißt es: „Die Flüchtlinge erscheinen als Bedrohung von Ruhe und Ordnung, die deutsche Gesellschaft als überfordert. Sprachlich manifestiert sich dies beispielweise in Worten wie Flüchtlingskrise, Flüchtlingsstrom und Belastungsgrenze.“ (Herrmann 2016, S. 12). Die Autorin bezeichnet dies als das vorherrschende „Narrativ“ und meint damit die Art und Weise, wie mit den Nachrichten Ereignisse organisiert werden, indem sie nach bestimmten Erzählmustern strukturiert und interpretiert werden (ebd.). Sie stellt fest: „Ein wesentliches Merkmal des beschriebenen Narrativs ist es, dass in ihm das Flüchtlingsthema ein deutsches Problem geworden ist. Es spielt auf der deutschen Bühne, alle wichtigen Protagonisten der Erzählung sind deutsche Politiker. (...) Die Flüchtlinge haben in dieser Erzählung kein Gesicht und keine Geschichte“ (ebd., S. 13).

Das Narrativ sorgt für eine Verdrehung der Problemdefinition: Im Vordergrund stehen nicht die Belastungen und Nöte der Geflüchteten, sondern die Überlastung und Überforderung der Deutschen. Nicht die für Geflüchtete unüberwindlichen Grenzzäune sind das Problem, sondern die Belastungsgrenzen der Deutschen. Nicht der Schutz der Menschen vor Gewalt und Elend ist das Anliegen, sondern der „Schutz der Außengrenzen“.

Es ist naheliegend, dass dieses Narrativ auch in der Kita auffindbar ist und auch, dass es die Wahrnehmung von jungen Kindern erreicht. Denn die Kita ist kein Schonraum, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. e. Und Kinder entnehmen ihrem Umfeld von Geburt an eigensinnig und aktiv Informationen, aus denen sie ihr soziales Wissen und ihre „Hierarchiekompetenz“ konstruieren. Es ist ihr Wissen über Menschen bzw. Gruppen von Menschen, wie sie aussehen, was sie tun oder nicht tun, wie sie bewertet werden und wer mit welchem Merkmal anderen über- oder untergeordnet ist. Die Vor-Vorurteile, die Kinder bereits im dritten Lebensjahr äußern, geben Aufschluss über ihre Wirklichkeitskonstruktionen. Wenn ihre Vor-Vorurteile Negatives und Beängstigendes über Geflüchtete enthalten, ist dies angesichts der Massivität und Einseitigkeit der Medienberichterstattung nicht verwunderlich.

In der Kita können solche Fehlinformationen, Manipulationen und Panikmache bestätigt und bedient werden, indem man die Narrative hinnimmt oder reproduziert. Oder aber man erkennt sie als falsch und manipulativ, widersteht der Panikmache und setzt ihnen das entgegen, was die Kita leisten kann: ein Lernort für alle zu sein, wo Gegenerfahrungen gemacht werden, weil die einzelnen Kinder und Familien im Blick sind und konkrete Begegnungen. Während ersteres ohne großes Zutun seinen Gang nimmt, erfordert Letzteres eine bewusste Entscheidung der pädagogischen Fachkräfte. In einem Interview beschreibt eine Erzieherin diese Entscheidung so: „Im pädagogischen Bereich sollten wir Ruhe bewahren, in Kontakt treten und hinhören. Wir sollten uns auf eine Erforschungsreise begeben, in der wir uns selbst reflektieren und den neuankommenden Familien weniger eine Opferrolle oder ähnliches zuschreiben. Wir sollten die Rollen wechseln, von „Expertinnen“ zu denjenigen, die etwas erfahren und lernen“ (ISTA 2017, Kap. 3).

Vielleicht ist mit dem Postulat vom „Brückenbauen“ in der obigen Bildunterschrift etwas Ähnliches gemeint. Die Bilder selbst sind es jedoch, die eine tiefe Kluft zwischen geflüchteten und einheimischen Kindern suggerieren. Denkbar wären ganz andere Bilder: Auf denen Kinder etwas zusammen tun, oder nebeneinander tätig sind. Welchen Sinn hat es also, Kinder „fremd“ zu machen, eine tiefe Kluft zwischen ihnen und „uns“ zu erfinden, um hinterher den Brückenbau zu fordern?

Das Flüchtlingskind, das unbekannte Wesen?

„Fremde werden gemacht“. Diese These vertrat Birgit Rommelspacher schon vor zwanzig Jahren. Eine ihrer Erklärungen: „Fremdheit ist das Bemühen, sich den anderen vom Leib zu halten.“ (Rommelspacher 1997). Und weiter: „In der Konstruktion von Fremdheit werden also die Grenzlinien gezogen, wer zu dieser Gesellschaft „gehört und wer nicht". Dabei spielen die tradierten Feindbilder eine zentrale Rolle. In ihnen verdichtet sich die Geschichte und drücken sich Machtbeziehungen aus. So ist in den Bildern von Menschen mit dunkler Hautfarbe die Geschichte des Kolonialismus eingeschrieben; im Bild vom „fanatischen" und „gefährlichen" Moslem der jahrhundertelange Kampf um politische und kulturelle Hegemonie zwischen Morgen- und Abendland.“

Konstruktionen von Fremdheit scheinen auch im Diskurs um Kinder geflüchteter Familien am Werk. Sind die geflüchteten Menschen so „ganz anders“, erscheinen Sondermaßnahmen und besondere Spezialisierungen erforderlich: Derzeit gibt es Fördergelder für „Flüchtlingsforschung“, eine „Flüchtlingspädagogik“ wird gefordert (Erziehung & Wissenschaft 2016, S. 44), Weiterbildungen zur „Fachkraft für Flüchtlingspädagogik“ werden angeboten.

Die Gefahr ist, dass mit den Sondermaßnahmen für Geflüchtete deren problematische Lebenslage ethnisiert oder personalisiert wird: Die Gründe werden in ihrer Herkunft oder in ihren individuellen Bewältigungsweisen gesehen, nicht aber in den belastenden Lebensumständen. Die Geflüchteten erscheinen noch fremder und letztendlich selbst verantwortlich für ihre Lage.

Es ist dies ein bekannter Mechanismus: Menschen werden selbst zum Problem erklärt, anstatt dass die Probleme erkannt und gelöst werden, die ihr Leben belasten. Den Mechanismus aufzubrechen hieße, Barrieren zu erkennen und abzubauen, die Menschen an gesellschaftlicher Teilhabe hindern. Für Kinder geflüchteter Familien im Bildungssystem hieße es, den Fragen nachzugehen: Wie gehen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen mit geflüchteten Familien und ihren Kindern um? Wie sind die Zugänge geregelt? Welche Hindernisse gibt es? Damit stünde das Bildungssystem auf dem Prüfstand, nicht länger die Geflüchteten selbst. Ziel müsste der Abbau von Bildungsbarrieren sein, das Herstellen von Bildungsgerechtigkeit.

Kinder geflüchteter Familien sind „in erster Linie Kinder“, so eine der ersten Untersuchungen (Bertold 2014). Sie kommt zum Ergebnis, dass begleiteten Kindern geflüchteter Familien die volle Teilhabe im System der Jugendhilfe verwehrt werde. Die Kontaktaufnahme zu den Kindern erfolge jedoch so wie zu allen Kindern: durch freundliche Adressierung, Interesse an ihnen, etwas miteinander machen. Durch Wohlwollen und Empathie.

Empathie braucht inneren Anschluss an eigene Erfahrungen

Empathie ist nichts Kompliziertes: Sich in jemanden hineinversetzen, mitfühlen. Bilder vom anderen als sehr fremd, exotisch, „ganz anders“ können allerdings dafür sorgen, dass die Distanz so groß wird, dass einfaches Mitfühlen erschwert ist. Befürchtungen, etwas falsch zu machen und beispielsweise traumatische Erlebnisse hervorzuholen, verunsichern und führen zur Kontaktmeidung. Das bisherige fachliche Handwerkszeug erscheint unpassend und etwas Neues steht nicht zur Verfügung.

In einer solchen Phase fachlicher Verunsicherung helfen Grundsätze Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, wonach Menschen grundsätzlich mehr Gemeinsames als Trennendes haben. Wichtig ist, sich auf etwas Gemeinsames zu besinnen und von hier aus zu schauen, auf welch unterschiedliche Art und Weise Menschen diese Gemeinsamkeit ausleben. Was sie tun und wie sie es tun, ist dann eine Spielart der Möglichkeiten, die Menschen ergreifen können. Und: Die eigene Art und Weise ist ebenfalls eine Spielart davon! Indem man seine eigene Lebensweise nicht außerhalb der vielfältigen Lebensweisen von Menschen sieht, sondern neben der von anderen Menschen, reduziert man die Distanz, man wird verständnisvoller und milder. Man findet in sich einen Anschluss an die Erfahrungen der Anderen. Eine solche Betrachtungsweise erlaubt einen respektvolleren Umgang mit der Vielfalt:

Anstatt darüber zu klagen, dass die Geflüchteten kein Deutsch können und sie damit in der alleinigen Verantwortung für gelingende Verständigung zu sehen, kann die Situation als eine beschrieben werden, in der beide Seiten es schwer haben, sich mit der anderen zu verständigen! Von wo kennt man das? Wie ist es einem da gegangen? Was hat geholfen? Schon ist man lösungsorientierter, sieht die eigene Verantwortung für gelingende Verständigung, man fordert Sprachmittler/innen oder andere Erleichterungen und grollt nicht den Geflüchteten.

Ortswechsel: Aus welchen Gründen wechselt man seinen Wohnort? Was verliert man, was gewinnt man? Was erschwert ihn, was erleichtert ihn? In einer Fortbildung reflektieren pädagogische Fachkräfte ihre eigenen Erfahrungen mit Ortswechsel.
  • „Man hat mich freundlich aufgenommen in der Familie meines Mannes!“
  • „Ich hatte Heimweh! Jetzt musste ich alles selbst entscheiden, das fand ich nicht leicht!“
  • „Ich war erleichtert! Endlich konnte ich mehr selbst bestimmen!“
  • „Ich verstand die Leute so schlecht. Sobald ich den Mund aufmachte, wussten sie, dass ich nicht von hier bin. Manchmal war ich still.“
  • „Ich musste ganz schön kämpfen um Anerkennung, da gab es lange eine Skepsis, ob ich die Arbeit genauso gut machen kann wie die Einheimischen.“
  • „Ich war ein Kind. Es hieß einfach, wir ziehen jetzt um. Wir Kinder wurden nicht gefragt. Es war ganz schrecklich.“
  • „Meine Großmutter hat mir immer von ihrer Flucht 1945 aus Königsberg übers Haff erzählt. Sie sind mit dem Schiff geflüchtet, Bomben um sie herum. Damals habe ich nie gedacht, dass meine Großmutter verantwortungslos handelt, weil sie mit den kleinen Kindern so eine gefährliche Reise unternimmt! Im Gegenteil, ich habe sie bewundert, weil sie so mutig und handlungsfähig war.“

Die Kolleginnen und Kollegen sind nahe an ihren eigenen Erfahrungen und können sich im zweiten Schritt besser in geflüchtete Familien hineinversetzen. Empathie ist gewachsen.

Mobilisierung vorhandener Kompetenzen im Umgang mit Unterschieden
Man muss nicht alles neu erfinden, wenn Kinder geflüchteter Familien in die Kita kommen. Eine pädagogische Praxis, die Respekt für Unterschiede verknüpft mit einer klaren Positionierung gegen Ausgrenzung und Diskriminierung, gibt Orientierung und lässt die vorhandenen Kompetenzen für neue Fragestellungen mobilisieren.

Pädagogische Fachkräfte können an vorhandenem Wissen ansetzen: Für Bildungsprozesse brauchen Kinder ein positives Selbstbild und die Sicherheit, zugehörig und angenommen zu sein mit dem, was ihre Identität ausmacht. Da gerade junge Kinder sehr stark mit ihren Familien verbunden sind, gehört zu ihrer Identität, dass sie Mitglieder ihrer Familie sind. Zur Stärkung ihrer Identität gehört Wertschätzung gegenüber ihrer Familie und ihrer Familienkultur. Erleben sie dies nicht, so können sie in der Erziehungs- und Bildungseinrichtung kaum das Zutrauen und die Sicherheit entwickeln, die sie brauchen, um sich aktiv und engagiert auf Bildungsprozesse einzulassen.

Vorurteilsbewusste Pädagoginnen und Pädagogen kennen diese Zusammenhänge und überprüfen die Lernumgebung und ihre Interaktion mit Kindern auf implizite und explizite Vorurteile. Sie unternehmen konkrete Schritte, um eine vielfältigere und nicht stereotype Lernumgebung zu schaffen. Sie verabreden im Team, respektvolle Bezeichnungen für Unterschiede zu verwenden und bessere zu finden, wenn sie mit einer Bezeichnung nicht zufrieden sind. Und sie versuchen, ihre Zusammenarbeit mit Eltern vorurteilsbewusst zu gestalten.

Sie wissen, dass angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen und Lebensverhältnisse der Kinder die Strategie der „Gleichbehandlung“ nicht zur Gerechtigkeit führt: Jedem Kind das Gleiche zu geben würde Ungerechtigkeit verschärfen. Also braucht es ein differenziertes Verständnis von Gerechtigkeit und Strategien der „Ungleichbehandlung“, um zu mehr Gerechtigkeit zu kommen, indem Nachteile ausgeglichen werden.

Kommt es in der Kita zu diskriminierenden Äußerungen, so muss eingegriffen werden. Häufig unterschätzen Erwachsene ihren Einfluss in solchen Situationen. Insbesondere die Reaktionen von Autoritätspersonen in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen haben jedoch Signalwirkung, so oder so: Reagieren sie nicht, so signalisieren sie Kindern, dass Ausgrenzung und Diskriminierung akzeptabel seien und dass sie hier keinen Schutz davor erwarten können. Empören sie sich über die Maßen, so kann es sein, dass sie Kinder beschämen, überfahren oder verwirren und ihnen in der Sache wenig Klarheit geben. Was es braucht, ist eine ruhige und dennoch bestimmte Reaktion: Ruhig in der Bezugnahme auf die Kinder und klar in der Positionierung gegen Ausgrenzung und Diskriminierung.

Pädagogische Fachkräfte tragen die Verantwortung für ein ermutigendes Lernklima, das alle Kinder erreicht. Ein inklusiver Bildungsansatz ist gefordert, der aufmerksam ist für alle Aspekte von Vielfalt und sich nicht auf Behinderung beschränkt. Inklusive Ansätze in den Kitas zu unterstützen ist wiederum Aufgabe der Kita-Träger, denn damit verbunden sind intensive Reflexionsprozesse und Verabredungen über Veränderungen im Team.

Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung als inklusives Praxiskonzept ist mit Kitas erprobt und hilft bei der systematischen und schrittweisen Entwicklung einer pädagogischen Praxis nach dem Motto „Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen!“ Bundesweit haben pädagogische Fachkräfte Praxisideen und Methoden entwickelt, um allen Kindern Zugehörigkeit zu vermitteln und sie zur Beteiligung einzuladen. (ISTA/Fachstelle Kinderwelten 2016). Sie beobachten, dass sich diese positiv auf das Wohlbefinden der Kinder auswirkt und ihre Lust am Lernen steigert! Sie schildern, dass eine vorurteilsbewusste Praxis allen Kindern und Erwachsenen zugutekommt.

Ein Beispiel: In einer Berliner Kita stehen die pädagogischen Fachkräfte wie auch die Kinder und Familien unter dem Eindruck der Berichterstattung über Flüchtlinge. Das Team bringt das Thema auf den Tisch: Kinder sprechen darüber, was sie mitbekommen. Eltern berichten, inwiefern sie über Verwandte und Nachbarn betroffen sind. Im Team selbst fragen sich die Kolleginnen, was die medial vermittelten Bilder bei ihnen auslösen. Es beginnt eine intensive und offene Debatte in der Kita, in die alle einbezogen sind und die darin mündet, dass die Kita etwas tun möchte, um Flüchtlingen zu helfen, doch was? Von einer Mitarbeiterin in einer Sammelunterkunft für Flüchtlinge erfahren die pädagogischen Fachkräfte, was Flüchtlinge dringend brauchen. Eine Spendenaktion an zwei Kuchennachmittagen erbringt die dafür notwendige Geldsumme, die stolz überreicht wird.

Kompetenzen pädagogischer Fachkräfte

Es ist die Strukturierung der Interaktionsprozesse im Einzelnen, initiiert von den pädagogischen Fachkräften, die hier bemerkenswert und zukunftsweisend erscheint. Was tun sie genau und mit welcher Orientierung?

Ein relevantes gesellschaftliches Thema aufgreifen
Indem die pädagogischen Fachkräfte das Thema „Flüchtlinge“ aufgreifen, machen sie deutlich, dass sich die Kita nicht von relevanten gesellschaftlichen Themen abschottet – und dass auch Kinder davon nicht abzuschotten sind. Fachkräfte wissen, dass bereits junge Kinder gesellschaftliche Diskurse mitbekommen und daraus ihre eigensinnigen Schlussfolgerungen ziehen. Fachkräfte zeigen, dass es ihre Aufgabe ist, Kindern beim Ordnen ihrer Wahrnehmungen und beim Aufdecken von Fehlinformationen zu helfen. Und sie wagen sich dabei selbst auf bislang unbekanntes Terrain vor, denn sie wissen nicht, wohin sie die Lernreise führt. Sie widerstehen dem Drang, nur Pfade zuzulassen, die sie selbst bereits ausgetreten haben. Lernen ist ein Wagnis mit offenem Ausgang – und sie gehen es ein.

Eltern als Bündnispartner gewinnen
Indem pädagogische Fachkräfte die Eltern ansprechen und mit ihnen gemeinsam Aktivitäten planen, können sie sie als Bündnispartner gewinnen, denen nicht nur das Wohlbefinden ihrer eigenen Kinder ein Anliegen ist, sondern Gerechtigkeit und die Teilhabe aller Kinder. Im Kontakt mit Eltern sind pädagogische Fachkräfte die Experten und Expertinnen für Fragen frühen Lernens, die ihre fachliche Perspektive in die Kommunikation einbringen. Und dabei die Expertise der Eltern wertschätzen.

Den jeweiligen subjektiven Bezug herstellen
Indem jeweils nach der eigenen Motivation und Verbindung zum Thema gefragt wird, erweitern sich bereits EmpathiefähigkeitEmpathiefähigkeit|||||Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit empathisch auf andere Menschen oder Tiere einzugehen. Dazu gehört es Gedanken, Emotionen, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale zu erkennen oder zu verstehen. Auch eigene Reaktionen auf Gefühle, wie Mitleid, Trauer und Schmerz gehören dazu.

und kollektives Wissen: Eine Kollegin erinnert sich an ihre Flucht aus der DDR in die BRD als Fünfjährige, eine andere Kollegin an die Flucht aus dem Iran nach Deutschland. Ein Junge sagt in der Gesprächsrunde: „Meine Eltern sind auch geflüchtet! Da war ich noch nicht geboren!“ Er offenbart detailliertes Wissen über die Flucht seiner Eltern aus Ost- nach West-Berlin. Es sind Erfahrungen, die jetzt Raum bekommen und für Überraschung sorgen, denn das hat man voneinander nicht gewusst! Solche Erfahrungsrunden bringen Themen, die zunächst weit entfernt erschienen, herein in die Gemeinschaft der Lernenden, sind sie doch nah am eigenen Erleben. Gemeinsamkeiten werden sichtbar, wiegen schließlich mehr als die Unterschiede.

Sich in Andere hineinversetzen
Indem zur Perspektivenübernahme aufgefordert wird, können Zuschreibungen und gut gemeinte, aber dysfunktionale Hilfemaßnahmen aufgedeckt und unterlassen werden. Die schnelle Spendenbereitschaft wird gebremst: Was brauchen die Menschen wirklich? Wie ist ihre Situation? Wer kann uns Auskunft geben? Nach Gesprächen mit Betroffenen und Sachkundigen wurden gespendete Gegenstände kritisch hinterfragt – und nicht weiter gegeben: Das paillettenbestickte Oberteil. Der überdimensional große Plüschteddy, zu groß für ein Leben auf engstem Raum in der Sammelunterkunft. Nicht alle Lebensverhältnisse sind gleich und sie müssen es auch nicht sein. Was gut für dich ist, ist es nicht unbedingt für jemand anderen. Respekt für Verschiedenheit heißt, die Situation der Anderen zu verstehen und zu akzeptieren, wenn andere als die gewohnten Maßnahmen ratsam sind.

Konkretes solidarisches Handeln anregen
Indem der Impuls aufgegriffen wird, etwas für Flüchtlinge zu tun, zeigt sich die Kita-Gemeinschaft als pro-aktiv und verantwortlich über die Wände der Kita hinaus. Kinder erleben, dass ihre Eltern in der Kita wichtig sind. Dass sie mit anderen Eltern und den Fachkräften zusammen etwas Bedeutsames tun, erkennbar daran, dass sie viel darüber sprechen, in der Kita und zuhause, und dass sie sich außerhalb der üblichen Zeiten in der Kita aufhalten. Sie haben einen Missstand aufgedeckt und beschlossen, etwas dagegen zu tun. Diese Botschaft ist für Kinder außerordentlich wichtig: Wenn man feststellt, dass etwas nicht gerecht oder nicht akzeptabel ist, kann man mit anderen zusammen etwas tun, um Abhilfe zu schaffen. Es stimmt nicht, dass man nichts tun kann. Man muss nicht alles hinnehmen, man kann sich wehren!

Reflektieren und handeln und reflektieren und handeln...
Nicht blinder Aktionismus und auch nicht endlos zögern und grübeln – sondern die Situation analysieren, Schlüsse ziehen, Entscheidungen treffen und ins Handeln kommen, die Resultate wiederum reflektieren usw. Indem pädagogische Fachkräfte so vorgehen, kommt es zu wirklichen Veränderungen, auch wenn sie in kleinen Schritten besteht: Erwachsene und Kinder haben mehr voneinander erfahren. Sie haben anderen Menschen geholfen. Sie sind stolz, denn es ist ihnen gelungen, dies gemeinsam zu machen: „Gemeinsam sind wir stark, gemeinsam können wir etwas zum Wohle von Menschen bewirken!“

Wo und wie können pädagogische Fachkräfte diese Kompetenzen erwerben? Auf keinen Fall alleine, sondern nur gemeinsam mit Anderen: Im Kitateam als Lerngruppe. Im Dialog mit Eltern. Im Kontakt mit der Sammelunterkunft für Geflüchtete im Sozialraum. Engagement in anderen Initiativen mit derselben Zielstellung.

Beispielhaft sei das Berliner Bündnis „Willkommen KONKRET für junge Kinder geflüchteter Familien“ genannt, eine Initiative von Einzelpersonen und Organisationen, die sich für Bildungsrechte von jungen Kindern geflüchteter Familien stark macht. Bei monatlichen Runden Tischen kommt man zusammen und knüpft das Netzwerk im besten Sinne: Infos, Tipps, Handlungsbedarf werden ausgetauscht, Maßnahmen wie Veranstaltungen, Positionspapiere, Erklärungen werden beschlossen und in Arbeitsgruppen geplant. Das Bündnis bestärkt, befeuert und verhilft den Beteiligten zur Klärung von Positionen, die sie in den öffentlichen Diskurs um geflüchtete Menschen kompetent einbringen können. (www.willkommen-konkret.org).

Literatur

  • Bertold, T. (2014): In erster Linie Kinder. Flüchtlingskinder in Deutschland. Deutsches Komitee für UNICEF e.V. https://www.unicef.de/blob/56282/fa13c2eefcd41dfca5d89d44c72e72e3/fluechtlingskinder-in-deutschland-unicef-studie-2014-data.pdf (Zugriff 28.11.2016).
  • Institut für den Situationsansatz, Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2017): Angekommen? – Willkommen! Kinder und Familien mit Fluchterfahrung in der Kita. Fortbildungsbausteine für die pädagogische Praxis. Beziehbar über: www.situationsansatz.de (im Erscheinen).
  • Institut für den Situationsansatz, Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2016): Inklusion in der Kitapraxis. 4 Bände. (Zusammenarbeit mit Eltern, Lernumgebung, Interaktion mit Kindern, Zusammenarbeit im Team) Berlin.
  • Derman-Sparks, L., A.B.C. Task Force (1989): Anti-Bias Curriculum. Tools for Empowering Young Children. NAEYC, Washington D.C.
  • Derman-Sparks, L., Olsen Edwards, J. (2010): Anti-Bias Education for Young Children and Ourselves. Washington.
  • Wagner, P. (Hrsg.) (2013): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg.
  • Herrmann, F. (2016): Das Märchen vom überkochenden Brei. Narrative in der medialen Berichterstattung zum Flüchtlingsthema im Herbst 2015. In: Communicatio Socialis, 49. Jg. 2016, H. 1, S. 6-20, http://ejournal.communicatio-socialis.de/index.php/cc/article/view/1161/1159 (Zugriff am 8.8.2016).
  • Erziehung und Wissenschaft (2016): „Wir brauchen eine Flüchtlingspädagogik“, Gespräch mit Philip Anderson. Heft 10/2016, S. 44, https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/wir-brauchen-eine-fluechtlingspaedagogik/ (Zugriff am 28.11.2016).
  • Rommelspacher, B. (1997): Fremde werden gemacht. Nicht Fremdheit macht aggressiv, sondern Aggression macht die anderen fremd. Fremdheit ist das Bemühen, sich den anderen vom Leib zu halten, http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr312.htm (Zugriff am 8.8.2016).


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 06-2016, S. 36 -41


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