Hoffnungsträger KiTa & Co

Bestandsaufnahme und Ausblick



Auf Grundlage des aktuellen nationalen Bildungsberichts werfen Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Mariana Grgic und Christiane Meiner-Teubner als ForscherInnen des Deutschen Jugendinstituts (DJI) einen Blick auf die Lage im frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsbereich – auf erfüllte oder enttäuschte Erwartungen, auf genutzte Chancen und weiter bestehende Herausforderungen:

Gesellschaftliche Reformen sind stets begleitet von Hoffnungen und Sorgen. Das Feld der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bildet da keine Ausnahme: Der Ausbau der Kindertagesbetreuung im vergangenen Jahrzehnt war immer auch geprägt von einer Mischung aus Zuversicht und Skepsis – bei Verantwortlichen, Betroffenen sowie Beobachterinnen und Beobachtern. So erwarteten manche Beteiligte, dass sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die Schaffung einer ausreichenden Zahl an Plätzen im frühkindlichen Bildungsbereich verbessern sowie – damit verbunden – die Erwerbstätigkeit von Frauen steigen werde. Betont wurde auch immer wieder, dass ein früher Einstieg in die Kindertagesbetreuung die Bildungschancen von Kindern aus benachteiligten Familien erhöhen werde. Demgegenüber warnten Skeptikerinnen und Skeptiker vor einem dramatischen Bedeutungsverlust der Familie für Kinder. Im Folgenden soll deshalb eine kurze Bilanz gezogen werden: Welche in den Ausbau der frühkindlichen Bildungsangebote gesetzten Hoffnungen haben sich erfüllt, welche nicht? Welche Befürchtungen wurden von der Realität bestätigt, welche nicht? Dabei zeichnet der Beitrag vier ausgewählte Entwicklungstendenzen nach.

Die Institutionalisierung der Kindheit schreitet voran – dennoch verlieren Eltern nicht an Bedeutung

Das traditionelle westdeutsche Muster einer Familienkindheit, die allenfalls punktuell von institutioneller frühkindlicher Betreuung ergänzt wurde, verliert an Prägekraft. Vor allem in Westdeutschland ist eine stärkere Institutionalisierung erkennbar: Immer mehr Kinder starten immer früher in die institutionelle Betreuung, die überdies immer längere Zeiten umfasst. Dementsprechend sinkt die Zahl der Kinder, die gar keine Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen oder nur halbtags in Einrichtungen bleiben, kontinuierlich, während gleichzeitig die Nachfrage nach Ganztagsplätzen steigt. In der Summe führt das dazu, dass Kinder inzwischen tendenziell mehr Zeit in den Kindertageseinrichtungen verbringen als in der Grundschule.

Auf diese Weise wird die Kindertagesbetreuung zu einer selbstverständlichen Station der kindlichen Normalbiografie. Dabei ist – entgegen mancher Befürchtungen – jedoch nicht erkennbar, dass der Staat „übergriffig“ wird und in die familiäre Sphäre hineinregiert. Eher deuten empirische Befunde darauf hin, dass beide Seiten, die Kita und die Familie, an Bedeutung gewinnen. So zeigen die Zeitverwendungserhebungen des Statistischen Bundesamtes, dass die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern zusammen sind, im vergangenen Jahrzehnt um rund 10 Prozent zugenommen hat, was der These von einer „Defamilialisierung der Kindheit“ widerspricht. Offensichtlich sind Eltern – übrigens Mütter und Väter – heutzutage zeitlich etwas stärker präsent im Leben ihrer noch jungen Kinder. Dies gelingt ihnen nur, weil sie sich zugleich für andere Dinge wie Freunde, Ruhepausen und Schlaf etwas weniger Zeit nehmen als früher. Kita und Eltern sind somit – zumindest in zeitlicher Hinsicht – keine Konkurrenten, sondern ergänzen sich.

Der U3-Ausbau erfüllt viele Elternwünsche – aber nicht alle

Der Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter 3 Jahren lässt sich im Wesentlichen mit zwei Motiven begründen. Frühkindliche Bildungsangebote übernehmen eine Betreuungsfunktion und erleichtern Eltern zugleich die Erwerbsarbeit. Darüber hinaus ermöglichen sie gezieltere Prozesse einer frühen Bildung. Beim ersten Aspekt – der Betreuungsfunktion – lassen sich für das vergangene Jahrzehnt enorme Fortschritte verzeichnen: Die Angebote für Kinder unter 3 Jahren wurden ebenso rasant wie nachhaltig ausgebaut. Allein zwischen 2013 und 2015 wuchs die Zahl der entsprechenden Plätze nochmals um fast 100.000 (siehe Abbildung 1). Und im Lichte eines leichten Geburtenanstiegs sowie der aktuellen Zuwanderung von schutz- und asylsuchenden Familien mit kleinen Kindern wird auch der Bedarf an Plätzen für Kinder ab 3 Jahren bis zum Schuleintritt wieder ansteigen.

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Diesen Ausbau hätte zur Jahrtausendwende wohl kaum jemand für möglich gehalten. Dennoch zeigt sich, dass immer noch ein Teil der elterlichen Wünsche nicht gedeckt werden kann. So belegen Untersuchungen, dass ein kleiner Teil der Eltern trotz Rechtsanspruch und Betreuungswunsch leer ausgeht: Etwa 3 Prozent äußern einen unerfüllten Betreuungswunsch für ihre 1- und 2-jährigen Kinder. Zudem wünschen sich weitere Eltern einen Platz, konnten aber bislang noch keinen finden, der ihren Wünschen entspricht. Daher ist auch bei den Plätzen für unter 3-Jährige ein anhaltender Ausbaubedarf erkennbar, nicht nur aufgrund der seit einigen Jahren wieder steigenden Geburtenzahlen und der aktuell verstärkten Zuwanderung, sondern auch aufgrund der noch nicht vorhandenen vollständigen Bedarfsdeckung.

Des Weiteren bleiben auch bei denen, die bereits einen Platz in der Kindertagesbetreuung haben, Elternwünsche offen. Das betrifft beispielsweise die Betreuungszeiten: Ein Teil der Eltern muss Kita-Plätze buchen, die formal als Ganztagsplätze mit mehr als 7 Stunden Betreuungszeit gelten. Allerdings wünschen sich Eltern zu einem geringeren Anteil so lange Betreuungszeiten für ihre Kinder, und auch nur gut die Hälfte dieser Eltern nutzt die gebuchten Zeiten in vollem Umfang.

Soziale Disparitäten in der Kita-Nutzung werden nur teilweise abgebaut

Die zweite Funktion der Kita – die Bereitstellung frühkindlicher Bildungsangebote – zielt auch auf den Abbau sozialer Disparitäten. Die gesellschaftlich häufig artikulierte Hoffnung ist, dass sich die Chancen benachteiligter Kinder verbessern, wenn sie frühzeitig in eine gute Kita oder Tagespflege gehen. Um dies empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. zu prüfen, sind mindestens zwei Fragen relevant: die nach der Beteiligung an früher Bildung sowie nach den Auswirkungen derselben.

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Die gute Nachricht dabei ist, dass die Bildungsbeteiligung in der Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund seit langem ansteigt. Inzwischen ist es fast selbstverständlich, dass alle Kinder – auch aus zugewanderten Familien – ab dem Alter von 3 Jahren eine Kita besuchen. Die weniger gute Nachricht lautet, dass sich diese Entwicklung bei den Kindern unter 3 Jahren vorerst so nicht beobachten lässt. Hier ist in den vergangenen Jahren die Schere in punkto Inanspruchnahme zwischen den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund eher auseinandergegangen (siehe Abbildung 2).

Noch schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob sich bei benachteiligten Kindern die erhofften Effekte der Nutzung frühkindlicher Bildungsangebote einstellen. Dazu kann man die Untersuchungen zum Sprachförderbedarf bei Kindern im Vorschulalter in den Blick nehmen. Hier deuten Ergebnisse aus den Bundesländern – die eine Vielzahl von nur teilweise vergleichbaren Erhebungsinstrumenten verwenden – darauf hin, dass die Quote der Kinder mit Sprachförderbedarf im Deutschen seit einigen Jahren konstant bei etwa 25 Prozent liegt. Angesichts steigender Bildungsbeteiligung im frühen Kindesalter hätte man erwarten können, dass sie leicht zurückgeht. Dennoch sollte dieser Befund nicht pauschal als Beleg für die Unwirksamkeit der frühkindlichen Bildung verstanden werden.

Die Kindertagesbetreuung ist eine der wichtigsten Wachstumsbranchen – trotzdem werden Standards beim Personal nicht abgebaut

Im Arbeitsfeld Kindertagesbetreuung sind inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen beruflich tätig. Unübersehbar zählt dieser Teilarbeitsmarkt zu den am stärksten wachsenden hierzulande. Vor dem Hintergrund dieses Booms, der schon mehrere Jahre andauert, wurden immer wieder zwei Sorgen formuliert: zum einen, dass der U3-Ausbau schlicht am fehlenden Personal scheitern würde; zum anderen, dass als Preis des Ausbaus in jedem Fall eine Absenkung der Personalstandards durch die Beschäftigung gering qualifizierter Kräfte zu erwarten wäre.

Bis zum heutigen Tage hat sich keine der beiden Befürchtungen erfüllt. So gelang es Trägern, Kommunen und Bundesländern auf unterschiedliche Weise das entsprechende Personal zu rekrutieren. Zum einen haben sich die Ausbildungszahlen zur Erzieherin und zum Erzieher spürbar auf ein neues Allzeithoch erhöht. Zum anderen sind Fachkräfte, die das Arbeitsfeld zwischenzeitlich verlassen hatten – vor allem wegen eigener Kinder –, vermehrt zurückgekehrt. Auch wenn immer wieder Klagen über einen Mangel an Fachkräften vor Ort zu hören sind, kann von einem bundesweiten Personalnotstand, wie er beispielsweise wiederholt in der Pflege konstatiert wurde, bisher keine Rede sein.

Ebenfalls nicht zu beobachten ist vorerst ein Abbau der Personalstandards. Zwar haben einzelne Bundesländer die Zugangshürden zum Arbeitsmarkt etwas erleichtert, dennoch ist bisher nicht erkennbar, dass dies das Qualifikationsniveau in den Einrichtungen verändert hätte. Nichtsdestotrotz besteht beim Personalbedarf ein „Restrisiko“. Vor allem wenn Kitas künftig noch vermehrt Kinder aus schutz- und asylsuchenden Familien aufnehmen und dadurch mehr Plätze benötigen, kann dies einen weiteren Personalbedarf nach sich ziehen. In einem Arbeitsmarkt, der derzeit schon an einigen Orten an seine Kapazitätsgrenzen stößt, kann dies zu Problemen führen.

Ein kleiner Ausblick

Der Ausbau der frühkindlichen Bildungsangebote ist sicherlich eine der zentralen sozialstaatlichen Veränderungen der jüngeren Zeit. Die Muster von Kindheit verändern sich dabei ebenso wie die familiären Erwerbsmöglichkeiten. Und einen Abbau sozialer Disparitäten und Kompetenzunterschiede kann man sich durch diese Entwicklung zumindest erhoffen. Nach einem Jahrzehnt des außergewöhnlichen Wachstums deuten sich inzwischen zwar Notwendigkeiten des politischen Nachsteuerns an. Doch die Kluft, die sich noch vor einigen Jahren zwischen elterlichen Wünschen und institutionellen Realitäten auftat, ist unübersehbar kleiner geworden.“
Das Autorenteam

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung
aus DIPF informiert Nr. 24 / Oktober 2016