Hilde Nohl (1895-1992)

nohl 150Hilde Nohl (Quelle: Ida-Seele-Archiv)Zu den gänzlich in Vergessenheit geratenen Frauen der Vorschulpädagogik gehört Hilde Nohl. Dabei war sie maßgebend und innovativ an der Entwicklung und Etablierung des Schulkindergartens (Schkg.) als eine notwendige Vorschuleinrichtung beteiligt. Sie hatte lange Zeit als Schulkindergärtnerin in Berlin und nach dem Zweiten Weltkrieg in Göttingen gewirkt.

Ihre Veröffentlichungen zur Schulkindergartentheorie sind „mehr von den praktischen Problemen her bestimmt und geben einen Überblick über die Ziele und die Methoden der Arbeit“ (Hebenstreit 1974, S. 21).


Leben und Wirken

1892 heiratete der seit zehn Jahren verwitwete Gymnasiallehrer und Altphilologe Hermann Nohl die sehr viel jüngere Elise Simon, "die ihm zu den drei Kindern aus erster Ehe (Herman, Johannes und Ella) noch die beiden Töchter Lotte und Hilde schenkte" (Blochmann 1969, S. 18). Hildes ältester Halbbruder war der bekannte Pädagoge und Philosoph Herman Nohl, der wie kein anderer seiner zeitgenössischen Fachkollegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik, die moderne Schul- und Sozialpädagogik beeinflusst hatte. Er war es auch, der den "Namen Schulkindergarten in die pädagogische Literatur" (Zorell 1968, S. 57) einführte.

Hildegard Marie, von frühester Kindheit an Hilde gerufen, wurde am 31. Mai 1895 in Berlin geboren. Dort verlebte sie glückliche Kinder- und Jugendjahre. Neben der Pflege der Musik beschäftigte sie sich in ihrer Jugend mit Fragen der Literatur, Naturwissenschaften und Pädagogik, sicher dazu angeregt von ihrem Halbbruder Herman, zu dem sie zeitlebens ein inniges Verhältnis hatte. Nach der Absolvierung des Lyzeums und der Ausbildung zur Kindergärtnerin und Jugendleiterin am renommierten „Pestalozzi-Fröbel-Hauses“ übernahm die ausgebildete Fröbel-Kindergärtnerin die Leitung "eines Schulkindergartens, dessen Arbeit durch die Kindergartenpädagogik im Sinne Fröbels bestimmt war. Die Kinder dieser Einrichtung wechselten nach deren Besuch entweder zur Normalschule oder zur Hilfsschule über. Auch für die letzteren, so betonte Hilde Nohl, sei der Besuch des Schulkindergartens von Nutzen, da ihnen nun ein zweimaliges Sitzenbleiben erspart bliebe und gleichzeitig die Normalschule von hemmenden Elementen befreit sei" (zit. n. Brunner 1987, S. 29).

Als sich 1944 die Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt verstärkten und Hilde Nohls Wohnung in Schutt und Asche lag, übersiedelte sie zu ihrem Bruder Herman nach Göttingen. Nach 1945 bot ihr das Land Brandenburg die zentrale nohl doku 1500Leitung und den Ausbau von Schulkindergärten im Ministerium an. Hilde Nohl zog es aber vor in Göttingen zu bleiben. Dort übernahm sie im April 1946 die Leitung des städtischen Schulkindergartens an der "Pestalozzischule", dem sie bald eine sog. "Fröbelklasse" angliederte und in der sie selbst "unterrichtete". Ihr „Unterrichtsstil“ fand hohe Anerkennung. Selbst im Ausland kamen Interessierte nach Göttingen, um ihre „Methode“ kennenzulernen (s. Dokument links).

Ihre letzten Lebensjahre verlebte Hilde Nohl in einem Wohnstift. Sie starb im hohen Alter von 97 Jahren am 15. Dezember 1992 in Göttingen.

Ziel, Zweck und Pädagogik des Schulkindergartens

Über die Entstehung des Schulkindergartens, "auch Vorklasse und Vorbereitungsklasse genannt", und seiner "Grundtypen" schrieb Hilde Nohl:

"Die ersten Schkg. wurden im Jahre 1907 von der Schulbehörde Berlin Charlottenburg eingerichtet. Vier Jahre später, im Jahre 1910, trat die erste Vorklasse des PestalozziPestalozzi||||| Johann Heinrich Pestalozzi`s (1746 - 1827) pädagogisches Ziel war es eine ganzheitliche Volksbildung zu erreichen, und die Menschen in ihrem selbstständigen und kooperativen Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen zu stärken. Er legte Wert auf eine harmonische und ganzheitliche Förderung von Kindern in Bezug auf intellektulle, sittlich-religiöse und handwerkliche Fähigkeiten. Grundidee ist dabei, ähnlich wie in der Montessori-Pädagogik, dass die Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu helfen.   -Fröbelhauses ins Leben. Beide Einrichtungen hatten dasselbe Ziel und arbeiteten an denselben Kindern; ihre Ausgestaltung und Handhabung aber waren verschieden. Die Charlottenburger Schulkindergärten wurden von Lehrerinnen geleitet, die in die Idee des Kindergartens Einblick bekommen hatten, die Vorklassen des Pestalozzi-Fröbelhauses wurden von Jugendleiterinnen geführt.

Für Hilde Nohl ist der Schkg. vordergründig eine sonderpädagogische Einrichtung, in die schulpflichtige, aber nicht schulreife Kinder aufgenommen werden. Diese werden entweder auf die Normal- aber auch auf die Hilfsschule vorbereitet. Ihrem Verständnis entsprechend lag ihrer Schulkindergartenarbeit die Ansicht zugrunde, „das die nicht-schulreifen Kinder als ‚rückständig‘ einordnet und sich bemüht, ihnen dabei zu helfen ‚normal‘ zu werden. Es geht also darum, aufgetretene Ausfallerscheinungen nachträglich zu ‚reparieren‘“ (Hebenstreit 1979, S. 26). Hilde Nohl sprach von zwei Grundtypen der Schulkindergartenarbeit:

„die schulmäßige Art, die in den zurückgestellten Kindern Schulkinder sieht, sie bewußt in den Schulrahmen eingliedern will und ausschließlich Klassenstunden erteilt“ und „die kindergartenmäßige Art, die versucht, durch Spiel und Arbeit in jedem Kind das nachzuholen und zu entwickeln, was in ihm ruht, einzeln, in kleineren oder größeren Gruppen, auch in der Gemeinschaft" (Nohl 1928, S. 137).

Das Ziel beider Grundtypen ist jedoch gleich, nämlich, „die Kinder schulreif zu machen, ihnen das zu geben, was ein unter günstigen häuslichen Verhältnissen aufgewachsenes, normales sechsjähriges Kind beim Schuleintritt von selbst mitbringt. Demzufolge erwachsen seine Aufgaben aus den Mängeln und Schwächen der Kinder: bewußte körperliche Kräftigung, Beseitigung oder Reduzierung der organisch bedingten Gebrechen und Leiden, Erlernung des richtigen Sprechens, Förderung der geistigen und seelischen Kräfte" (ebd., S. 138).

Anderen Orts schrieb sie fast 30 Jahre später über die Validierung des Schulkindergartenkindes:

„Bei meinen Beurteilungen gehe ich von dem sechsjährigen normal entwickelten Kinde aus, welches unter günstigen häuslichen Verhältnissen aufgewachsen ist. Dies Kind kann sich einfügen, es kann von außen gestellte Aufgaben sehr wohl geistig erfassen als auch willig übernehmen; es kann sich auf längere Zeit hindurch dieser Aufgabe widmen. Es kann sich verständlich ausdrücken und sich auch in größerer Kindergemeinschaft frei äußern. Seine Handgeschicklichkeit ist so weit entwickelt, daß es mit Bleistift und Schere richtig umgehen kann“ (Nohl 1955, S. 36).

1925 veröffentlichte Hilde Nohl in der renommierten "Zeitschrift für Kinderforschung" einen ausführlichen Bericht über "Ziele und Wege des Schulkindergartens". Dieser wurde erneut Ende der 1950er Jahre im Zuge der Diskussion um die Notwendigkeit von Schulkindergärten von ihrem Bruder Herman Nohl in einem Sonderheft publiziert, der die Broschüre seiner jüngsten Halbschwester widmete, "die von frühauf bis heute unermüdlich für den Schulkindergarten gekämpft und gearbeitet hat" (Nohl, o. J., S. 5). Neben der unbestreitbar geistigen Förderung der Kinder, lag für Hilde Nohl einer der Hauptaufgaben des Schulkindergartens darin, "die Kinder nach jeder Richtung hin aufnahmefähig zu machen" (Nohl o. J., S. 40). Diesbezüglich betonte sie den besonderen Wert die „Spielpflege“ im Sinne Friedrich Fröbels, als die fördernde Bildungsform:

"Die Kinder spielen was sie mögen, verschiedenartiges Spielzeug ihrem Alter und ihrer Neigung entsprechend steht ihnen zur Verfügung. Die Mädchen spielen in der Puppenecke, die Jungen mit Kaufladen oder Pferdestall. Hierdurch werden sie in die Verrichtung des täglichen Lebens eingeführt, z.B. lernen die Mädchen beim Anziehen der Puppen schleifen binden und Knöpfe zumachen. Daneben gibt die Leiterin den Kindern mannigfache Spiele und Beschäftigungen, die darauf angelegt sind, sie das im Spiel zu lehren und zu vertiefen, was sie sich in den Stunden erarbeitet haben: Farben, Formen und Zahlen. Die freie Wahlbeschäftigung läßt eine freiere Gruppierung der Kinder zu, kleine Spielgruppen entstehen, die Kinder zerstreuen sich in die verschiedenen Zimmer: während sich hier zwei Kinder in eine Ecke verzogen haben und gemeinsam ein Bilderbuch begucken, baut sich dort ein Kind einen bunten Stern. Andere scharen sich um ein Angelspiel: hier gilt es die roten Fische zu angeln und der Fischer ruft froh: 'Ich habe den roten Fisch'. Wieder andere spielen Farbdomino" (ebd., S. 41).

Um die Schulreife eines Kindes feststellen zu können, sollten die erzieherisch Verantwortlichen um zwei Aspekte wissen, „welches Neue beim Schuleintritt das Kind erwartet. Es ist vor allem die Klassengemeinschaft mit einem einheitlichen Ziel (im Vergleich zum Kindergarten, in dem das Kind zwar auch in einer Gemeinschaft lebt, aber – jedenfalls in einem gut geleiteten Kindergarten – sich eigengesetzlich entfalten kann, ohne Zwang und vor allem ohne Wertung). Das Zweite, was an das Kind beim Schuleintritt neu herantritt, sind die ihm von außen gestellten Aufgaben. Um eine Aufgabe übernehmen zu können, muß das Wollen dazu vorhanden sein, muß das geistige Verstehen der Aufgabe gewährleistet sein, muß eine gewisse sprachliche Ausdrucksfähigkeit vorhanden sein, muß Konzentrationsfähigkeit und zuletzt Ausdauer in genügendem Maße entwickelt sein“ (ebd.).

Keine Aufnahme in einen Schkg. fanden organisch kranke Kinder (z. B. Tuberkulose, Epilepsie), ferner Kinder deren Schulfähigkeit vorzugsweise durch ärztliche und gesundheitliche Maßnahmen gefördert werden kann (z. B. Kuraufenthalt), ferner schwergeschädigte Kinder. Während der Zeit der Nazi-Diktatur forderte Hilde Nohl unmissverständlich, dass der Schkg. nur eine Einrichtung für "erbgesunde Kinder" sei:

"Wenn der Besuch des Schulkindergartens verpflichtend wäre, so würden ihm die von der Schule zurückgestellten schulpflichtigen Kinder ohne weitere Schwierigkeiten zugeführt. Der Schulkindergarten würde in festem Zusammenhang mit der betreffenden Volksschule als eine ihrer Klassen stehen... Die ungeklärte Lage des Schulkindergartens steht einer gedeihlichen Arbeit entgegen, weil keine Stelle für ihn ganz verantwortlich ist. Er bedarf also dringend der völligen Einordnung in den Schulaufbau, um das zu erreichen, was er seinem Ziele nach erreichen möchte: Schutz und Pflege dem erbgesunden, durch ungünstige Umwelt verkümmernden Kinde, Anleitung der unwissenden Eltern zur Hilfeleistung bei der Entwicklung der gehemmten Kinder" (Nohl 1935, S. 37).

nohl foto 250Musikunterricht in einem Berliner Schulkindergarten (Quelle: Ida-Seele-Archiv)In alle ihren Veröffentlichungen betonte Hilde Nohl stets die Notwendigkeit und Wichtigkeit der (Eltern-) Mütterberatung als wesentlichen Anteil am Gelingen der pädagogischen Arbeit des Schkgs.:

"Durch Hausbesuche, Mütterabende, gemeinsame Feste wird der enge Zusammenschluß zwischen Elternhaus und Schulkindergarten geknüpft, der doppelt wichtig ist, um die Eltern bereit zu machen, die im Schulkindergarten eingeschlagenen Erziehungswege am Nachmittag fortzuführen. Ich erwähne nur die Notwendigkeit, das Selbstvertrauen der Kinder nicht durch Mißachtung ihrer kleinen Sachen, die sie im Schulkindergarten gearbeitet haben und mit nach Haus nehmen, zu zerstören - oder unsere stotternden Kinder durch falsches Ermahnen in ihrer Verkrampfung immer wieder zurückzustoßen" (Nohl 1954, S. 110).

Literatur

  • Blochmann, E.: Herman Nohl in der pädagogischen Bewegung seiner Zeit. 1879-1960, Göttingen 1969
  • Brunner, S.: Der Schulkindergarten und seine Erziehungs- und Bildungsaufgaben in Vergangenheit und Gegenwart, Freising 1987 (unveröffentl. Diplomarbeit)
  • Hebenstreit, S.: Schulkindergarten – Modell ausgleichender Erziehung?, Kronberg Ts. 1974
  • ders.: Der Übergang vom Elementar- zum Primarbereich, Paderborn 1979
  • Klika, D.: Herman Nohl. Sein "Pädagogischer Bezug" in Theorie, Biographie und Handlungspraxis, Köln/ Weimar/ Wien 2000, S. 141 ff.
  • Nohl, H.: Ziele und Wege des Schulkindergartens, in: Zeitschrift für Kinderforschung 1925/H. 4
  • dies.: Aus der Arbeit an einem Berliner Schulkindergarten, in: Wegweiser für Schulverwaltung und Schulaufsicht, Langensalza 1927/H. 10
  • dies.: Der Schulkindergarten, in: Nohl, H./Pallat, L. (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik. Die Theorie der Schule und der Schulaufbau. Vierter Band, Langensalza 1928
  • dies.: Der Schulkindergarten in Berlin, in: Kindergarten 1935/H. 2
  • dies.: Ziele und Wege des Schulkindergartens, in: Nohl, H. (Hrsg.): Der Schulkindergarten. Sein Wesen und seine Arbeitsweise, Weinheim o. J.
  • Nohl, H. (Hrsg.): Der Schulkindergarten. Sein Wesen und seine Arbeitsweise, Weinheim o. J.
  • dies.: Der Schulkindergarten, in: Die Sammlung 1954/H. 2
  • dies.: Der Schulkindergarten, in: Blätter des Pestalozzi-Fröbel -Verband 1955/H. 1
  • Zorell, E.: Der Schulkindergarten, in: Brem, K. (Hrsg.): Pädagogische Psychologie der Bildungsinstitutionen. Bd. II Die Unterrichtsinstitutionen, München 1968