Traumatisierte Kinder und Familien mit Fluchterfahrungen

Herausforderungen in der Kita

Co-Autorin:  Annette Naumann


Kindertagesstätten sind zunehmend gefordert, Kinder mit Fluchterfahrungen aufzunehmen. Nicht wenige dieser Kinder haben hoch belastende oder auch traumatische Erfahrungen gemacht. Die Arbeit mit diesen Kindern und ihren Familien ist eine besondere pädagogische und menschliche Herausforderung mit vielen offenen Fragen. Der nachfolgende Artikel beleuchtet diese und stellt Vorgehens- und Umgangsweisen vor, die sich in der Praxis als hilfreich darstellen.


Kindertagesstätten sind je nach Region oder auch Stadtteil in sehr unterschiedlichem Maße dazu aufgefordert, Kinder mit Fluchterfahrungen aufzunehmen. Nicht selten stellt sich diese Anforderung »ad hoc« – losgelöst von Aufnahmeverfahren oder Wartelisten. Wie viele dieser Kinder traumatisiert sind, ist unklar. Selbiges trifft auch im Hinblick auf ihre Eltern zu, insofern diese noch leben bzw. ihr Schicksal bekannt ist. Betrachtet man Hintergründe der Flucht (Krieg, Verfolgung, extreme Armut), die Flucht selbst oder auch Belastungen, die mit der unsicheren Situation im Aufnahmeland verbunden sind, dann ist die Vermutung naheliegend, dass eine nicht geringe Anzahl der Flüchtlingsfamilien traumatisierenden Erfahrungen in Form von Zerstörung, extremer Gewalt, Tod und damit verbundenem Verlust von Bindungsbeziehungen ausgesetzt waren. Für die Kindertagesstätten bzw. ihre Mitarbeiterinnen stellen insbesondere diese traumatisierten, hochbelasteten Kinder eine große Herausforderung dar, mit der es auf der Basis sehr unterschiedlicher Ressourcen und Standortbedingungen umzugehen gilt.

» Geschlossene Räume und laute Knallgeräusche erzeugen bei ihr Angst und tiefe Verunsicherung.«


Ein Beispiel aus dem Kinderhaus ...

Die nun 5-jährige Mayla (1) flüchtete mit ihrer Mutter vor gut 2 Jahren aus Syrien. Zu ihrem Vater, den sie zurücklassen musste, hatte sie ein sehr enges Verhältnis. Immer wieder bringt sie ihre Flucht und Kriegserlebnisse in den Kinderhausalltag ein. Sie spielt Verstecken vor anderen Menschen, legt sich dabei ganz flach auf den Boden, hinter Hecken oder andere Hindernisse, isst Erde. Mit diesen Spielaktivitäten versucht sie, ihre Erlebnisse zu verarbeiten und mitzuteilen. Essen und Trinken sind für sie eine elementar wichtige Angelegenheit. Geschlossene Räume und laute Knallgeräusche erzeugen bei ihr Angst und tiefe Verunsicherung. In ihrer Muttersprache ist sie verstummt. Sie hat eine eigene Sprache entwickelt, nur sehr mühsam gelingt es ihr, Wörter der neuen Sprache zu erlernen. Jede noch so geringe Veränderung im Tagesablauf erzeugt bei ihr große Verunsicherung, die dazu führt, dass sie sich stets rückversichern muss, den tatsächlichen Ablauf noch zu kennen.

Nachdem nach ca. einem Jahr der Aufenthaltsstatus der Familie geklärt werden konnte, wurde ein Antrag auf Frühförderung gestellt, der bewilligt wurde. Mayla kommt mittlerweile fröhlich in die Kindertagesstätte, spricht jedoch weiterhin ihre ureigene Sprache und verliert sich immer wieder in Spielen, die um Fluchtgeschehnisse kreisen. Die Zeitabschnitte, in denen dies geschieht, werden jedoch kürzer und das, was im Alltag des Kinderhauses vor sich geht, scheint für sie zunehmend wichtiger zu werden. Dem Schulbesuch, der im nächsten Jahr ansteht, sieht sie fröhlich entgegen. Mit ihren Möglichkeiten versucht sie, den Fachkräften mitzuteilen, was sie aus dem Schulkinderprojekt alles schon gelernt hat.


Was sind und wie wirken traumatische Erfahrungen?

Es ist für Laien nicht einfach, zu erkennen, ob ein Kind oder Erwachsener traumatisiert ist, da die Auswirkungen vielfältig und nicht immer klar zuzuordnen sind. Ein Kind kann ängstlich, traurig, schreckhaft, aggressiv, in sich zurückgezogen sein, »eingefroren« oder auch ausgesprochen unruhig bzw. übererregt wirken.

» Ein psychisches Trauma ist eine schwerwiegende seelische Verletzung.«

Alltägliche Gegenstände, Geräusche oder auch Gerüche können für traumatisierte Menschen Schlüsselreize (Trigger) sein, die sie in einen emotionalen Ausnahmezustand geraten lassen: die Heißklebepistole, ein Knall, der Hubschrauber, der über die Kita !iegt. Die intensiven Emotionen (Panik), das Außer-sich-Sein sowie die damit verbundenen Verhaltensweisen können auch für Außenstehende verstörend sein.

Traumatische Erfahrungen haben eben nicht nur Auswirkungen auf das Erleben des betroffenen Menschen, sondern auch auf sein Verhalten und damit auf die Beziehungen zu und Interaktionen mit anderen.

Ein psychisches Trauma ist eine schwerwiegende seelische Verletzung. Zentral ist hierbei die im Erleben des Betroffenen eklatante Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den zur Verfügung stehenden individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Einher geht dies mit Gefühlen massiver Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe, wodurch das Selbst- und Weltverständnis nachhaltig erschüttert wird (vgl. Fischer & Riedesser 2003, 82).

Da das kindliche Selbst- und Weltverständnis noch im Aufbau ist, ist die Gefahr der Beschädigung bei einem Kindheitstrauma deutlich größer als bei einem Erwachsenen, der idealerweise auf eine weitgehend stabile psychische Struktur zurückgreifen kann. Traumatische Erfahrungen zersetzen das sich entwickelnde Kohärenzgefühl des Kindes. Es verliert das Vertrauen, dass das eigene Leben gestaltbar, kontrollierbar und verstehbar ist. Aus diesem Grund ist es elementar wichtig, Betroffene dabei zu unterstützen, wieder Vertrauen in die äußere und innere Sicherheit aufzubauen.


Was brauchen Kinder und Familien, die traumatische Erfahrungen gemacht haben?

Kinder und Familien, die hochbelastende, sie traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, brauchen vor allem Sicherheit und Stabilität. Die Kita kann ein im Sinne der Traumapädagogik »sicherer Ort« sein, innerhalb dessen traumatisierte Kinder eine vergleichsweise heile Welt erleben und einfach Kind sein dürfen.

Um ein hoch belastetes, traumatisiertes Kind dabei zu unterstützen, (wieder) ein Sicherheits- und Stabilitätsgefühl wachsen zu lassen, kann auf vieles zurückgegriffen werden, was auch sonst eine qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit auszeichnet. Traumatisierte Kinder brauchen vieles hiervon jedoch in besonderem Maße und in besonderer Ausprägung. Sie brauchen:

  • haltgebende Strukturen, die ihre Kontrollüberzeugung stärken (ein verlässlicher, fester Tagesablauf, wiederkehrende Rituale, Transparenz im Hinblick auf Abläufe, Strukturen und Regeln, Arbeiten in der Kleingruppe ...).

Sie brauchen weiterhin die faktische und emotionale Präsenz einer vertrauten Bezugsperson, die:
  • bindungstheoretisch formuliert als »sicherer Hafen« fungiert
  • feinfühlig die im Verhalten des Kindes verschlüsselten Empfindungen und Nöte zu erkennen vermag (»Dolmetscher/innenkompetenz«) und dem Fühlen und Handeln des Kindes Worte gibt. Der Versprachlichung und somit Symbolisierung innerer Prozesse kommt eine große Bedeutung im Prozess der Entwicklung innerer Sicherheit zu (»Es macht Dir Angst, wenn du einen Hubschrauber hörst ... Hier bist du in Sicherheit ...)
  • den hohen Stresspegel bzw. das hohe Erregungsniveau des Kindes senken hilft (Beobachten: Was hilft dem Kind, sich zu entspannen? Bei starker Erregung in Kontakt treten, das Kind ansprechen, ihm durch achtsamen Körperkontakt (Unterarm), Umarmung, wiegenden Bewegungen das Gefühl von Sicherheit und Schutz und somit eine Möglichkeit zur Beruhigung geben.
  • Auffällige/extreme Verhaltensweisen (Wut, Aggression, »Klammern«) als Ausdruck innerer Not verstehen bzw. als Versuche, wieder Kontrolle zu erlangen. »Time-Intensive« statt »Time-Out« anbieten!)

Hilfreich ist weiterhin ein Team, das:
  • das auffällige und schwierige Verhalten des Kindes durch eine »Traumabrille« zu betrachten und zu verstehen sucht: Wo liegt der »gute Grund« im auffälligen Verhalten des Kindes? Was versucht es auf diese Weise mitzuteilen, für sich sicherzustellen?
  • dem Kind integrierende Anknüpfungspunkte anbietet bzw. ihm ermöglicht, in der Kita etwas aus seiner verlorenen alten Welt wieder zu finden: Was hat es gerne gegessen? Welche Spiele, Lieder kennt es? Gibt es lieb gewonnene Gewohnheiten, denen auch am neuen Ort Raum gegeben werden kann?
  • dem Kind Erfahrungen der Eingestimmtheit, Synchronie und Verbundenheit eröffnet (eben diese werden durch traumatische Erfahrungen zerstört). Hierzu eignet sich das Singen, mit einfachen Instrumenten, Musizieren, Rhythmisieren, den Körper als Instrument einsetzen, Tanzen bzw. sich spielerisch zusammen zur Musik bewegen in besonderer Weise
  • sehr bewusst mit bindungsrelevanten Situationen umgeht (Trennungen, Übergänge)
  • zulässt, dass das Kind seine Fluchterlebnisse mitteilt bzw. spielerisch ausagiert
  • dem Kind vermittelt, dass es ausreichend zu Essen und Trinken gibt

Die Familie bzw. Bindungsperson als »sichere Basis«

Mutter und Vater sind in der Regel die zentralen Bezugspersonen der Kinder und fungieren idealerweise als »sichere Basis« von der ausgehend das Kind sicher explorieren, d.h. die Welt spielerisch entdecken und erforschen kann. Sind die Eltern jedoch ihrerseits traumatisiert, können sie häufig nur bedingt oder auch gar nicht als eben diese sichere Basis fungieren. Naiv betrachtet könnte man glauben, dass die Familie im Aufnahmeland in Sicherheit ist und somit zur Ruhe kommen kann. In einer neuen Umgebung sind die Schrecken der Vergangenheit jedoch weder einfach vergangen noch bewältigt. Psyche und Körper können durch Allerweltgeschehnisse oder auch Erinnerungen in Alarm versetzt werden. Trauer um verlorene Bindungen, kulturelle Codices, der Verlust der Heimat, Zukunfstängste sowie die unsichere Aufenthalts- und Lebenssituation erfordern viel Kraft, sodass die Eltern überfordert sein können, ihren Kindern hinreichend Halt oder auch die dringend benötigte Unterstützung zu geben.

» In einer neuen Umgebung sind die Schrecken der Vergangenheit jedoch weder einfach vergangen noch bewältigt.«

Zu vergegenwärtigen ist sich in diesem Zusammenhang, dass auch aufenthaltsrechtlichen Bedingungen ein gewisses traumatisches Potenzial innewohnt: Wer keinen Aufenthaltstitel hat, womöglich geduldet ist, ist nicht wirklich in Sicherheit. Es handelt sich vielmehr um eine Chronifizierung der Vorläufigkeit, das mit einem Gefühl des ohnmächtig ausgeliefert und abhängig seins verbunden sein kann. Dass sich Kindern die Verunsicherung und emotionale Not ihrer Eltern mitteilt, davon ist auszugehen.

Hiermit wird deutlich, dass auch der Elternarbeit eine große Bedeutung zukommt. Diese ist nicht nur aufgrund von Sprachbarrieren eine Herausforderung (hier können Sprach-Apps ausgesprochen hilfreich sein), sondern auch aufgrund der dazu erforderlichen Zeitressourcen und interkulturellen Kompetenz.

Ein zentrales Ziel der Elternarbeit ist, Vertrauen aufzubauen und Möglichkeiten zu erschließen, die die Eltern stärken, sodass sie ihren Kindern besser als sichere Basis zur Verfügung stehen können. Als hilfreich erweist sich hier, auf ein umfassendes Kooperationsnetzwerk mit unterschiedlichen Akteuren des Stadtteils (Sozialzentrum, Amt für Familie und Soziales, Kinderärzte, therapeutische Praxen, Beratungsstellen ...) zurückgreifen bzw. zu deren (Hilfe-)Angebote Brücken bauen zu können. Das Kinderhaus Sibeliusweg profitiert in diesem Zusammenhang auch von dem seit 2007 existierenden »MOKUMI-Projekt«, ein Angebot der Frühen Hilfen und AWO Kiel: Frauen mit Migrationshintergrund werden zu ehrenamtlichen »mobilen Kulturmittlerinnen « fortgebildet. Diese unterstützen Migrationsfamilien, sind Ansprechpartnerinnen bei Fragen und Problemen, die Kenntnisse über das hiesige Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungssystem bzw. den hier verorteten Hilfsangeboten oder auch Freizeitmöglichkeiten erfordern.

Fazit

Flüchtlingskinder haben Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Ob bzw. inwieweit sich die Fachkräfte den damit verbundenen Herausforderungen gewachsen fühlen, wird nicht unerheblich davon abhängen, welcher Art Unterstützung sie durch Politik, Fachverbände, Träger und Leitung erfahren. Ohne zusätzliche Ressourcen wird es nicht gehen. Diese werden benötigt für entsprechende Fortbildungsangebote (traumaspezifisches und traumapädagogisches Wissen), für Supervisionsangebote zur Gesunderhaltung der Mitarbeiter/innen, vor allem aber für zusätzliche Fachkräfte, die z.B. eine Absenkung der Kinderzahl in der Regelgruppe ermöglichen oder auch Kapazität für die erforderliche intensive Elternarbeit schaffen. Notwendig sind ferner neue finanzielle Strukturen, wie z.B. die Bündelung und Entfristung finanzieller Mittel, um diese vorrangig in Einrichtungen einzusetzen, die eine hohe Problemdichte haben. Viele Flüchtlingskinder und ihre Familien werden länger oder dauerhaft im Land bleiben. Auch aus diesem Grund ist es elementar wichtig, die Betreffenden bei der Entfaltung ihre Potenziale zu unterstützen.


Literatur:

Brisch, K.: (2009): Bindungsstörungen und Trauma, in: Brisch, K.H./Hellbrügge, T. (Hg.): Bindung, Angst und Aggression, Klett-Cotta: Stuttgart, 105 – 131.
Fischer, G./Riedesser, P. (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie, München: Reinhardt.
Scherwath, C./Friedrich, S. (2012): Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung, München: Reinhardt.
v. der Kolk, B. (2015): Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann, Probst: Lichtenau.

Fußnote
1. Der Name wurde aus Datenschutzgründen verändert.


Übernahme des Beitrages mit freundlicher Genehmigung aus
Kita Aktuell ND 2-2016.




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