Positionspapier zur Mehrsprachigkeit

In der Diskussion um die Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem weichen die sprach- und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse häufig von der Herangehensweise der Politik und dem Tenor der gesellschaftspolitischen Debatte ab. Einer Initiative des Zentrums für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin folgend, wenden wir uns als eine Gruppe von Wissenschaftlern und Bildungsexperten aus der Praxis mit den folgenden vier Thesen an die Öffentlichkeit. Sie sind im Vorfeld der vom Zentrum für allgemeine Sprachwissenschaft und der Botschaft der Republik Türkei ausgerichteten Konferenz "Die Zukunft der Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem: Russisch und Türkisch im Fokus" vom 03. -04. März 2016 in Berlin entstanden.


1. Die Sprachen der Zuwanderer müssen angemessen im Sprachenangebot des deutschen Bildungssystems repräsentiert sein.

Die sprachlichen Ressourcen von rund einem Drittel aller Schülerinnen und Schüler bleiben bislang weitgehend ungenutzt. Noch immer spielen viele Sprachen der Zuwanderung eine marginale Rolle im Schulsystem. Als „herkunftssprachlicher Unterricht“ oder „muttersprachlicher Unterricht“ werden sie in den meisten Bundesländern in den Nachmittag verbannt, führen als AGs ein kümmerliches Dasein und bleiben unbenotet. Gleichzeitig hat der Europäische Rat bereits im März 2002 das Erlernen der Grundkenntnisse von zwei weiteren Sprachen durch alle Bürgerinnen und Bürger als sprachenpolitisches Ziel formuliert. Auch die KultusministerkonferenzKultusministerkonferenz|||||Die KMK  ist die ständige Konferenz der Länder in der BRD, wurde 1948 gegründet und ging aus der "Konferenz der deutschen Erziehungsminister" hervor. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der zuständigen Minister/Senatoren der Länder für Bildung, Erziehung und Forschung. Da nach dem Grundgesetzt und sog." Kulturhoheit der Länder" die Zuständigkeiten für das Bildungswesen bei den einzelnen Ländern liegt, behandelt die KMK Angelegenheiten von  überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer "gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, sowie der Vertretung gemeinsamer Anliegen".  empfiehlt 2011 in einem Papier die Stärkung der Fremdsprachen¬kompetenz, sowie 2013 bilingualen Unterricht. Diesem Ansatz folgend sprechen wir uns entschieden dafür aus, das schulische Sprachenangebot um Sprachen der Zuwanderer zu erweitern. Der Sprachenunterricht, insbesondere in den großen Sprachen der Zuwanderer wie Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch und anderen, ist als ein Angebot für alle Schülerinnen und Schüler zu etablieren, das denselben Status wie die traditionell angebotenen Fremdsprachen genießt. Darüber hinaus sind bilinguale Angebote und sprachliche Schulprofile weiterzuentwickeln und v.a. noch mehr für die Schüler anzubieten, die diese Sprachen als Familiensprache sprechen. Die Ausbildungen von Lehrerinnen und Lehrern für diese Sprachenangebote sind entsprechend an den Universitäten zu etablieren, Lehrmaterialien sind zu entwickeln, die die Spezifik der Lernsituation in Deutschland berücksichtigen.


2. Sprachbildung ist eine Querschnittsaufgabe in der Schulbildung


Die Zuwanderung durch Flucht hat das Thema der Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache wieder stark in die Öffentlichkeit geschoben und die Bundesländer reagieren unterschiedlich auf diese Herausforderung. Mit Blick auf die Erfahrungen der „Ausländerklassen“ in den 1970er Jahren warnen wir dringend davor, Vorbereitungsklassen für sprachliche Seiteneinsteiger als segregierende Dauereinrichtungen zu manifestieren: Sprache ist zwar Schlüssel zur Integration, aber vor allem ist soziale Integration der Schlüssel zur Sprache! Daher muss die frühzeitige Integration in die Regelklasse konstitutives Element jeder Sprachförderung sein. Wir begrüßen es, dass in vielen Bundesländern die Sprachbildung als Querschnittsaufgabe aller Fächer Eingang in die curricularen Rahmenrichtlinien gefunden hat. Dies darf jedoch nicht damit einhergehen, Förderbedarf auf der Grundlage von Attributen wie „nichtdeutsche Herkunftssprache“, „Migrationshintergrund“, „Zuwanderungs¬geschichte“ zu unterstellen. Förderbedarf kann nur mit wissenschaftlich erprobter, valider und wiederholter Sprachstandfeststellung bestimmt werden. Die Herkunft, Familiengeschichte bzw. die Zwei- oder Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern sollen als Bereicherung angesehen werden, auf welche die Schule angemessen reagieren muss; sie dürfen nicht pathologisiert werden.


3. Die Sprachbildung beginnt vor der Schule


Die Sprachbildung beginnt in der Familie; Eltern sollen ermuntert und unterstützt werden, Kindern ein anregendes sprachliches Umfeld in der Sprache oder den Sprachen zu geben, die sie selbst als Familiensprachen bevorzugen, denn nur so kann ein natürlicher Erstspracherwerb gelingen. Auch für den Aufbau der frühkindlichen Bindung, einer positiven emotionalen Mutter- bzw. Eltern-Kind-Beziehung, spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Ist die Erstsprache des Kindes nicht das Deutsche, dann kommt einem frühen Kita-Besuch mit kompetenter Sprachförderung im Deutschen eine essenzielle Bedeutung zu. Denn die frühe Entwicklung der Kompetenz im Deutschen ist ein wesentlicher Faktor für den späteren Erfolg in der Schule. Die Erzieherinnen und Erzieher haben dabei eine bedeutende Aufgabe, für die sie besser ausgebildet und weitergebildet werden müssen. Und da Kinder Sprache auch von Altersgenossen lernen, ist es wichtig, dass sie mit Kindern interagieren, die Deutsch als Erstsprache sprechen; darauf sollte bei der Zusammensetzung von Kita-Gruppen geachtet werden. Die familiensprachlichen Fähigkeiten der Kinder sollten durchaus auch in der Kita Wertschätzung erfahren und vermittelt werden; eine zusätzliche Weiterförderung der Erstsprache auch außerhalb der Familie ist für die Kontinuität der Entwicklung in dieser Sprache wichtig. Die Mehrsprachigkeit in Deutschland stellt auch neue Herausforderungen an die Diagnostik von Sprachstörungen, für welche die Kindermedizin und Logopädie zusammen mit Sprachwissenschaftlern angemessene Test- und Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Zuwanderungssprachen entwickeln müssen.


4. Die Debatte um Mehrsprachigkeit muss getrennt von der Debatte um Spracheinstellungen geführt werden


Der öffentliche Blick auf die mehrsprachigen Verhältnisse ist stark von Spracheinstellungen und Zuschreibungen beeinflusst. Eine englisch-deutsche oder französisch-deutsche Zweisprachigkeit scheint mehr wert als eine arabisch-deutsche, russisch-deutsche oder türkisch-deutsche. Einstellungen und Vorurteile, die hier manifest werden, verbinden vorschnell Sprache mit sozialen, ethnischen und/oder kulturellen Unterstellungen. Ein entspannter und angstfreier Blick auf mehrsprachige Verhältnisse und die bildungspolitischen Maßnahmen, die sie regeln sollen, muss sich von derartigen Zuschreibungen frei machen. Diese Reflexion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe; sie muss Teil jeder Lehramtsausbildung werden und gehört in die Schulen und Bildungseinrichtungen.


Mitwirkende in alphabetischer Reihenfolge:

  • Prof. Dr. Anka Bergmann, Fachgebietsleiterin Fachdidaktik Russisch, Humboldt-Universität zu Berlin
  • PD Dr. Natalia Gagarina, Koordinatorin des Berliner interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.en Verbundes für Mehrsprachigkeit (BIVEM), Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin
  • Dr. Insa Gülzow, Abteilung Forschungskommunikation, Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin
  • Dr. Gürsel Gür, Erziehungsttaché, Türkisches Generalkonsulat in Berlin
  • Prof. Dr. Manfred Krifka, Institutsleiter des Zentrums für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin
  • Prof. Dr. Christoph Schroeder, Professor für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Potsdam
  • Reyhan Thomas, Bildungskoordinatorin, Yunus Emre Enstitüsü, Türkisches Kulturzentrum Berlin
  • Natalie Topaj, Berliner interdisziplinärer Verbund für Mehrsprachigkeit (BIVEM), Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin
  • Michael Wüstenberg, Schulleiter des Lessing-Gymnasiums Berlin
  • Prof. Dr. Cemal Yildiz, Botschaftsrat für Bildungswesen, Botschaft der Republik Türkei Berlin