Bildungs- und Lerngeschichten

Um Kinder in ihren Bildungsprozessen zu begleiten, bedarf es Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren in Kindertageseinrichtungen. Bildungs- und Lerngeschichten sind eine Möglichkeit um dem Bildungsauftrag der KiTas gerecht zu werden und Bildungsprozesse durch stärkenorientierte Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren zu unterstützen.

Bildungs- und Lerngeschichten („learning stories") sind in Neuseeland entstanden mit dem Hintergedanken Bildungsprozesse ganzheitlich zu betrachten und Lernprozesse in Geschichten wiederzugeben. Dabei werden Alltagssituationen von einzelnen Kindern von pädagogischen Fachkräften sachlich aufgeschrieben und durch 4 „Lerndispositionen" strukturiert. Die Beschreibungen werden im gesamten Team diskutiert und gemeinsam wird überlegt, welche weiteren Anreize für das Kind sinnvoll sein können. Parallel wird dies in verschiedenen Formen wie z.B. in einem PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. dokumentiert und für die Kinder zugänglich aufbewahrt.

 

Hintergrund und Entwicklung der Bildungs- und Lerngeschichten

Die Entwicklung der „Bildungs- und Lerngeschichten" ist verbunden mit dem 1998 eingeführten Curriculum in Neuseeland, das insbesondere dazu gedacht war einen gelingenden Übergang vom Elementarbereich in den Primarbereich zu gestalten. Helena May und Margaret Carr koordinierten die Arbeit, die an der University of Waikato angesiedelt war.

Inhalte die besonders in den Fokus gerückt wurden sind (vgl. Deutsches Jugendinstitut 2005, S. 4):

  • Bewahrung von Vielfalt
  • Partizipation der Mütter und Väter
  • Interkulturelle Verständigung
  • Spiel und Ökologie
  • Entwicklung eines offenen Curriculums
  • Bekenntnis zu einer bikulturellen Gesellschaft
  • Einbeziehen von Sprache, Kultur und Werten der Maori und Nicht-Maori

1994 wurde das Curriculum an ca. 20 Einrichtungen für Kinder erprobt und bis 1996 überarbeitet und als Endfassung herausgegeben. Das Curriculum ist dabei nicht in Lernbereiche gegliedert, sondern orientiert sich an Grundprinzipien, die weiterhin in verschiedene Dimensionen und Ziele aufgeteilt sind. Als vier grundlegende Prinzipien werden genannt (vgl. Deutsches Jugendinstitut 2005, S. 5):

  • Ermächtigung – Kindern Lernmöglichkeiten ermöglichen
  • Ganzheitliche Entwicklung – Ganzheitliche Betrachtung des Lernprozesses
  • Familie und Gemeinde - Familie und Umfeld als integraler Bestandteil
  • Beziehung – Lernen durch Beziehung zu Personen, Dingen oder Orten

Die Altersgruppen sind dabei eingeteilt von 0 bis 18 Monate / 18 Monate bis 3 Jahre und 3 bis 5 Jahre.

In den „Entwicklungs- und Lerngeschichten" werden fünf „Dimensionen" besonders betont, die querliegend zu den genannten Prinzipien betrachtet werden und eine zentrale Rolle einnehmen.

Das Gefühl von Zugehörigkeit: Kinder als auch ihre Familien fühlen sich wertgeschätzt und zugehörig

Wohlbefinden, sowie emotional als auch physisch: Wohlbefinden und Gesundheit des Kindes werden angestrebt, geschützt und erhalten

Explorations- und Forschungslust: Verständnis von Lernen durch aktive Erkundung und Erforschung der Umwelt

Kommunikation / sich- verständigen können, verbal als auch nonverbal: Sprache, verbal als auch durch Symbole der eigenen und anderer Kulturen als wichtiges schützenwertes Gut

Möglichkeit der Partizipation und Beteiligung: Jedes Individuum hat gleiche Lernchancen und Mitwirkung wird wertgeschätzt

 

Fünf Lern-DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen. en

Auch der Begriff Disposition wird nach Carr verwendet und dabei speziell mit fünf Lern-Dispositionen gearbeitet, die im weiteren Vorgehen der Bildungs- und Lerngeschichten von Bedeutung sind.

Folgende Dispositionen werden benannt (vgl. Carr 2001, S. 23):

  • Interesse zeigen: z.B. durch verschiedene Äußerungen oder Körperhaltungen Interesse an Gegenständen, Personen oder Situationen zeigen etc.
  • Engagiert sein: z.B. Kind setzt sich aktiv mit Dingen oder Personen auseinander, lässt sich schwer ablenken, zeigt Freude, wirkt versunken „vergisst die Zeit", etc.
  • Standhalten bei Herausforderungen und Schwierigkeiten: z. B. Kind gibt bei Schwierigkeiten nicht auf, versucht Problemlage zu durchdenken und Lösungen zu finden, hält Frust aus, macht nach Enttäuschung oder Störung weiter etc.
  • Sich ausdrücken und mitteilen: z.B. Kind nutzt verschiedene Formen um sich mitzuteilen wie malen, singen, Rollenspiele, Gespräche, stellt Fragen, kommuniziert mit anderen Kindern etc.
  • An einer Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen: z.B. gemeinsam mit anderen einen Plan entwerfen, Ideen austauschen, Vorschläge machen, dabei eigene Ideen einbringen aber auch andere zu Wort kommen lassen, andere Sichtweisen anerkennen können, kompromissbereit sein, andere Kinder zur Interaktion auffordern etc.

Diese Lerndispositionen werden genutzt um die Beobachtungen der Handlungen der Kinder in den Bildungs- und Lerngeschichten zu strukturieren.

 

Ganzheitlichkeit und Prozessorientierung

Im Unterschied zu standardisierten Beobachtungsverfahren geht es bei den Bildungsgeschichten nicht nur darum den ganzheitlichen Lernprozess der Kinder zu betrachten, sondern sie werden auch in „Geschichten" festgehalten und bedienen sich somit einer narrativen Methode. Es wird dabei versucht, nicht einzelne Aspekte von Lernprozessen zu identifizieren, sondern diese im ganzen Umfeld zu betrachten. Das bedeutet, dass unter anderem auch der Raum und Zeitpunkt, die Interaktionspartner, die Stimmung des Kindes, die Jahreszeit oder Sonstiges was von Belang sein kann mit in die Geschichte aufgenommen und somit gewürdigt wird. Der Vorteil hierbei ist, dass das Kind seine Stärken im Alltag zeigen kann und nicht vorher festgelegte Attribute hin geprüft und Defizite festgestellt werden.

Die Arbeit mit Lerngeschichten umfasst vier Arbeitsschritte, die von Margaret Carr mit den 4D's beschrieben wird (s. Carr 2001, S. 106):

  • Discribing ( Beschreiben)
  • Discussing (Diskutieren)
  • Documenting (Dokumentieren)
  • Deciding ( Entscheiden)

 

1. Beschreiben

Beim Beschreiben beobachtet eine pädagogische Fachkraft ein Kind in einer Alltagssituation und notiert dabei möglichst objektiv und sachlich wie genau die Situation ist und welche Handlungen des Kindes stattfinden.

Beispiel:
Emma entdeckt mehrere tote Hummeln draußen unter einem Blühstrauch. Sie geht in die Hocke und schaut sich die Hummeln an. Auch als Nora sie ruft schaut sie sich weiter die 3 Hummeln am Boden an. Nach ca. 30 Sekunden tippt sie mit dem Finger gegen eine der Hummeln. Sie ruft nun Nora herbei und sagt: Komm mal –hier sind tote Tiere, hier sind tote Bienen. Zu zweit schauen sie sich in der Hocke die Tiere an. Mehrere Kinder kommen dazu. Gemeinsam rätseln sie ob es Hummeln oder Bienen sind und warum sie gestorben sind.

Im Anschluss an die Beschreibung der Situation wird ein Formblatt ausgefüllt, auf welchem Notizen zu den oben genannten Dispositionen gemacht werden: z.B Emma wirkte sehr interessiert als sie die Hummeln entdeckte, sie ging in die Hocke um sie näher anschauen zu können. Auch als sie gerufen wurde, war sie weiter engagiert bei der Betrachtung der toten Tiere. Emma ruft ihre Freundin, sie macht auf das Problem aufmerksam und sucht Interaktionspartner, etc.

Bei diesen Beschreibungen/ Lerngeschichten sollte möglichst darauf geachtet werden, dass verständliche einfache Formulierungen und Inhalte genutzt werden, damit auch Kinder dies verstehen können. Grundsätzlich können Bildungs- und Lerngeschichten sehr vielseitig gestaltet sein, z.B auch durch direkte Ansprache des Kindes oder durch das Verwenden von Bildern und Videomaterial. Grundsätzlich sind es Dokumente, die einen Lernprozess in einer alltäglichen Situation eines Kindes festhalten.

Margaret Carr benennt es folgendermaßen: "Eine Lerngeschichte ist erstmal eine Geschichte. Sie erzählt eine Geschichte für ein Kind, für die Familie, für Gäste und für uns selber als Lehrende der Kinder. Es gibt nicht den einen richtigen Weg dies zu tun."

Eine Möglichkeit eine Lern- und Bildungsgeschichte aufzubauen ist folgende: Der Geschichtenschreiber schreibt in der Ich–Person, um dem Erzählenden eine Stimme zu geben: „Ich habe dich neulich beobachtet, als du die toten Hummeln entdeckt hast."

Es folgt eine sachliche Beschreibung von den genauen Handlungen, die beobachtet werden konnten. „Du hast dich in die Hocke gesetzt und eine Weile gewartet, dann hast du das Gras etwas zur Seite gehalten, damit du besser sehen kannst."

Anschließend kann ein Absatz folgen, der die Überschrift „Bedeutung" („What it means") trägt: „Emma, du hast entdeckt, dass Tiere tot sein können und hast dich gefragt, woran sie sterben..."

Abschließend kann man eine leere Seite oder Absatz einfügen, wo Platz ist für Sichtweisen der Eltern zu dieser Geschichte. Man kann sie z.B fragen, was sie von der Geschichte halten, was Ihnen dazu einfällt oder was Ihnen an den Handlungen ihres Kindes besonders gut gefällt. Dies wird dann dazu geschrieben: „Emma, ich finde es toll wie du dich für Tiere interessierst." Oder „Ich lese ihr die Geschichte oft vor, weil sie sich gerne daran erinnert wie es war, herauszufinden warum die Hummeln gestorben sind, inzwischen haben wir eine Hummelburg im Garten, Emma schaut oft ob dort schon Hummeln wohnen."

 

2. Diskutieren

In einem weiteren Arbeitsschritt werden die gemachten Beschreibungen im kollegialen Team diskutiert. So können verschiedene Sichtweisen zusammen getragen und anhand einer ganz konkreten Situation besprochen werden. Auch die Sichtweisen vom Kind selber und von den Eltern können miteinbezogen werden. Es wird dabei versucht den Entwicklungsprozess des Kindes genauer zu beschreiben. Dies wird schriftlich festgehalten, z.B anhand der Fragen: Hat das Kind neue Lösungsstrategien ausprobiert? Sind die Fähigkeiten komplexer geworden, wurden z.B. neue Wörter genutzt, hat es neue SpielpartnerInnen dazu gewonnen, konnte es Kompromisse eingehen?

 

3. Entscheiden

Beim Entscheiden geht es darum, wie auf das Verhalten des Kindes reagiert werden kann, damit es die neuen Entwicklungsschritte und die gefundenen Dispositionen verfestigen oder neue Dinge ausprobieren kann. Gemeinsam wird versucht Situationen oder Anreize zu schaffen, die es dem Kind ermöglichen weiter Interesse zu zeigen, engagiert zu sein, Herausforderungen standzuhalten, sich mitzuteilen und auszutauschen und in einer Lerngemeinschaft Verantwortung zu übernehmen

Beispiel:

Die Erzieherin überlegen ob sie eine Mutter ansprechen, die als Imkerin arbeitet. Sie möchten versuchen das Thema Insekten und Insektensterben weiter zu bearbeiten und dazu jemand in die Kita einladen oder auch einen Bienenstand außerhalb besuchen. Weiterhin wäre es möglich ein insektenfreundliches Beet anzulegen, eine „Hummelburg" oder ein Insektenhotel zu basteln

 

4. Dokumentation

Der Prozess und die Bildungs- und Lerngeschichte wird dokumentiert, z.B. in einem Portfolio. Hierbei werden unter anderem Fotos und Bilder zusammen mit Beschreibungen und Geschichten festgehalten. Fragen, Ideen und Kommentare des Kindes sind ebenso Bestandteil und können weiterhin hinzugefügt werden. Gerade durch wiederholtes Betrachten und erneutes Zurückerinnern, werden Lernprozesse verfestigt und erneut in Gang gesetzt. Es können aber auch Fotos z.B vom Besuch bei einer Imkerin an den Wänden ausgestellt werden. Wichtig ist, dass das Portfolio für das Kind ständig zugänglich ist und es „dem Kind gehört". Es dient als ständiger Anreiz um mit dem Kind, den Eltern oder anderen Bezugspersonen in einen Dialog über die Bildungsprozesse zu gelangen.

Bildungs- und Lerngeschichten bieten sich außerdem an um den Übergang vom Elementar- zum Primarbereich im Dialog mit allen pädagogischen Fachkräften zu gestalten. Dies war unter anderem eines der Ziele, die bei der Entstehung des Curriculums in Neuseeland angestrebt wurde. Das Portfolio kann dabei als Anreiz für gemeinsame Gespräche für die Fachkräfte dienen.

Das Deutsche Jugendinstitut hat 2007 zu dem Thema Bildungs- und Lerngeschichten ein Projekt durchgeführt, in dessen Rahmen 25 Kindertageseinrichtungen kooperierten mit dem Ziel den Ansatz der Bildungs- und Lerngeschichten bundesweit zu verbreiten. Weiterhin wurden in Rahmen des Projektes 120 MultiplikatorInnen in Workshops ausgebildet und entwickelte Beobachtungs- und Fortbildungsmaterialien wurden publiziert. In den Materialien und Projektheften lassen sich viele weitere Anregungen, Hintergründe und konkrete Beispiele finden. (weitere Informationen siehe weblinks.)

 

Literaturverzeichnis und Weblinks