Inklusion: "Behinderung entsteht im Blick der anderen"

Im Interview mit Karsten Herrmann erläutert Prof. Dr. Ulrike Graf, Leiterin der nifbe-Forschungsstelle Primarpädagogik, wie Behinderung erst im Blick der anderen entsteht und wie ein Perspektivwechsel zur Ressourcenorientierung und inklusiven Diagnostik gelingen kann.

 

  • Sie sagen, dass Behinderung erst im Blick der anderen entsteht. Was meinen Sie damit?


graf 150Zunächst ist dies die Erfahrungsdefinition eines Mädchens. Fanny, leicht kognitiv und geringfügig körperlich beeinträchtigt, wurde vom Leiter ihrer Einrichtung danach gefragt, wo für sie die Behinderung läge, geantwortet: „Im Blick der anderen." Ich ergänze: Kompetenz auch.

Pädagogisch verdichtet sich die Frage in den Formulierungen, ob Menschen behindert sind oder behindert werden. Ebenso will die Unterscheidung der Begriffe beeinträchtigt und behindert zur Klärung beitragen, indem sie das sozialkonstruktivistische Verständnis von Behinderung verdeutlichen. Beeinträchtigungen gelten als natürlich, während Behinderungen aus gesellschaftlichem Handeln resultieren, so Heiner Bielefeldt. Das gesellschaftliche Handeln manifestiert sich z.B. in materiellen Ressourcen wie mangelnden Rampen für Menschen mit Gehbeeinträchtigungen; es fand sich ebenso im bisherigen verpflichtenden (!) selektiven Schulsystem. Behinderungen werden aber auch im individuellen Handeln konstituiert, das im Denken und Sprechen beginnt. Selbst eine Studentin, die eine inklusiv arbeitende Theatergruppe beforschte, fand sich plötzlich mitten in dieser Dynamik wieder. Sie hatte bei den zu führenden Interviews darauf verzichtet, neben Geschlecht und Alter der Personen zu vermerken, ob die Person eine Behinderung hat oder nicht. Das tat sie in dem Bemühen, auch in ihren Forschungen inklusionssensibel zu handeln, denn sie wollte sich selbst vor der Vor-Einstellung bewahren, eine Person als behindert anzusehen. Nun sind manche Phänomene, die als Behinderung anerkannt sind, augenscheinlich – z.B. Trisomie 21 –, manche anderen nicht. Wieder andere Beeinträchtigungen sehen nur die Menschen auf den ersten Blick, die entsprechende Hilfsmittel identifizieren können. Die Studentin erkannte ein recht unauffällig angebrachtes Implantat, welches das Hörvermögen unterstützt, so dass ihr plötzlich bewusst wurde, wie sehr diese „Information" sie in ihrer Wahrnehmung prägte. Denn sofort stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen „im Kopf geschehen", ich drücke es einmal bewusst so aus.

Oder denken Sie an das Phänomen, dass Fremde an der Ampel mit der Begleitperson des Menschen, der im Rollstuhl daneben sitzt und über dessen Ausdrucksfähigkeiten keine Klarheit besteht, ansprechen; oder mit dem im Rollstuhl sitzenden Erwachsenen in Babysprache Kontakt aufnehmen.

Die aktuellen Inklusionsvorgaben adressieren Menschen als gleichwertig in allen Unterschieden. So dürfen Menschen mit jedweder Beeinträchtigung grundsätzlich ein Gymnasium besuchen. Auf der Ebene individuellen Handelns bleibt es ein Weg fortwährender Professionalisierung. Denn wir wissen Folgendes: Wen Lehrkräfte für weniger leistungsstark halten, den rufen sie in Lehrer-Schüler-Gesprächen weniger auf – meist aus zwei Motiven: um den fachlichen Fortgang des Unterrichts zu sichern und die Kinder vor Misserfolgen zu bewahren. Die Frage ist aber: Wie können Unterrichtsformen so gestaltet werden, dass in der Balance der Schulwoche und des Schullebens alle mit ihren Möglichkeiten partizipieren und die Erfahrung machen, ihr Können zum gemeinsamen Thema beizutragen?

 

 

  • In unserer Gesellschaft und in unserem Bildungssystem stehen allerdings noch immer die Differenz und das Defizit im Vordergrund. Wie kommen wir hin zu einem Verständnis der Verbundenheit und der Ressourcenorientierung?


Zunächst einmal mit Geduld. Verbundenheit und Ressourcenorientierung halte ich im gesellschaftlichen Bereich für ein Mehrgenerationenprojekt und im individuellen Leben für ein ständiges Entwicklungsfeld.

Ich beginne mit der Ressourcenorientierung: Sie ist eine Frage von Haltung und Strategiewissen. Will ich ressourcenorientiert denken und handeln? Und wenn ja, wie geht das? Zunächst gehört das Aufspüren eigener Wahrnehmungsgewohnheiten dazu. Sehe ich, dass ein motorisch unruhiges Kind heute schon wieder keine Minute ruhig sitzen konnte? Oder sehe ich – konkreter gefasst und die Umstände berücksichtigend –, wann das Kind etwas ruhiger sitzen konnte? Ressourcen beziehen sich auf individuelles Können, soziale Unterstützungsmöglichkeiten und strukturelle Gegebenheiten. Ressourcenorientierte Fragen nehmen in den Blick, unter welchen Kontextmerkmalen ein Kind etwas besser kann.

Die eigene Schulsozialisation hielt für viele von uns eher Erfahrungen einer Defizitkultur bereit. Es ist also manch biografisch-reflexive Arbeit nötig. Immer wieder habe ich von Studierenden, mit denen ich in konkreten Projekten dazu gearbeitet habe, nach langen Bemühungen um ressourcenorientierte Beobachtungen und Formulierungen die Frage gehört: Darf ich jetzt endlich auch einmal etwas Negatives schreiben? Durften sie nicht. In der Frage regte sich der professionelle Auftrag, die fachlichen Noch-Defizite der SchülerInnen zu identifizieren; ja der Bildungsauftrag verlangt sogar, diese präzise erfassen zu können, um entsprechende Förderung und Forderung anzubieten. Aber: Erstens ist das Verhältnis der Rückmeldung von Können und von zu bearbeitenden fachlichen Entwicklungsfeldern ein Thema der Ressourcenorientierung; und zweitens die Reihenfolge. Ich habe mich einmal für die Priorität des Könnens ausgesprochen: Lehrkräfte können es sich zum Prinzip machen, bei der Leistungsrückmeldung zuerst Gelungenes ins Wort zu fassen; es wird schon klar: Noten sind hier kein geeignetes Instrument mehr. Zudem öffnen Rückmeldungen von Erfolgen das Gegenüber für den Dialog. Wir alle teilen das grundlegende Bedürfnis nach Anerkennung. Es ist so leicht zu bedienen. Es gibt vielfältige Erfahrungen, dass SchülerInnen, die eine solche Dialogkultur über Leistung kennen, sagen: Ich bin eher bereit, meine Noch-Defizite, meine Entwicklungsfelder zu hören, wenn ich weiß, dass meine Lehrkraft auch sieht, was ich kann.

Ressourcenorientierung beginnt also mit der Identifikation eigener Wahrnehmungsgewohnheiten, setzt sich fort in der Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, hat die Kenntnis der Sache zur Voraussetzung (denn nur mit ihr können Erfolge erkennt und benennt werden) und bedeutet die ständige Schulung darin, die Thematisierung von Ressourcen und Noch-Defiziten so zu moderieren, dass die Ressourcen zur Geltung kommen und die Wege öffnen, sich auf die nächsten Lernschritte einzulassen.

Bleibt die Frage, wie wir zu mehr Verbundenheit finden. Wir Menschen teilen das doppelte Bedürfnis nach Normalität und Besonderheit. Vanessa Macchia spricht von der „besonderen Normalität". So widersprüchlich es klingen mag: Wir haben das gleichzeitige Bestreben „wie (alle) andere(n) zu sein und [uns] von allen anderen zu unterscheiden" (Balzer 2012). Sichtbar wird dies z.B. in der Label-Kultur: In unserer Gesellschaft gibt es sehr große Freiheiten, die eigene Kleidung zu wählen. Was passiert? Menschen uniformieren sich freiwillig, indem sie bestimmte Marken bevorzugen, mit denen sie sich im selben Atemzug wieder abgrenzen von anderen Labelfans.

In inklusiven Kontexten treffen die individuellen Erscheinungsformen einer besonderen Normalität in größerer Bandbreite aufeinander. Hilfreich kann sein, nicht nur in Graden von Behinderung zu denken, sondern auf konkrete Spurensuche zu gehen und sich zu fragen: Was kann ich? Wo habe ich schon Grenzen erfahren, die in meinen Kräften, meinen Voraussetzungen, meinen Fähigkeiten lagen? Wie erging es mir damit? Welche Hilfen haben mich vorangebracht? Und im Fall negativer Erfahrungen: Was hätte mir geholfen?

Wenn wir uns klar machen, dass jeder Mensch Möglichkeiten und Grenzen hat, denken wir in Gemeinsamkeiten. Damit ist nicht gemeint, andere bei Traurigkeit oder Wut über eigenes Unvermögen leichtfertig zu trösten, z.B. einem Kind im Rollstuhl zu erzählen, dass man selbst auch schon mal einen Gips hatte; das wird zynisch ankommen und ist meist Ausdruck eigener Unsicherheit. Das Gewahrsein für eigene Möglichkeiten und Grenzen kann die Empathie für die Grenzen anderer stärken; es kann im Nachdenken über die Unterstützung, die einem selbst ein Bedürfnis gewesen ist oder wäre, Verständnis für die andere Person vertiefen. Solche Überlegungen bedeuten unter Umständen „psychischen Machtverlust", denn jetzt kann sich niemand mehr über das Helfenkönnen alleine definieren. Verbundenheit hat also einen Preis. Sie kostet das Aufgeben von Hierarchien, die sich über größere Handlungsmöglichkeiten des Helfenkönnens ergeben. Aber in den Bedürfnissen, die wir haben, treffen wir uns: die einen, indem sie helfen wollen, die anderen, indem sie Hilfe benötigen. Beide Bedürfnisse sind gleich viel wert! Es gibt viele Helfen-Könnende, die sich über lange Wege beschenkt fühlen von Fähigkeiten der Menschen, die so angewiesen auf sie sind. Das kann nur zulassen, wer sich auf Augenhöhe unserer Bedürftigkeit begegnet.

Die besondere Normalität verbindet uns. Inklusive Kontexte bieten einen erweiterten Erfahrungsraum dafür, dieses Bedürfnisse zu bedienen.

 

  • Sie fordern auch eine „inklusive Diagnostik". Was verbirgt sich dahinter?


Inklusive oder inklusionskompatible Diagnostik ist in jedem Fall keine Selektionsdiagnostik, die dazu betrieben wird, Kinder in Schulen auszusondern, in denen sie – im Sinn größerer Homogenisierung – mit ihren graduell größeren Behinderungen unter sich sind. Inklusionskompatible Diagnostik anerkennt, dass alle zur gemeinsamen Lerngruppe gehören. Sie diagnostiziert Entwicklungs- und Lernstände ebenso wie Lernprozesse mit aller gebotenen Fachkenntnis um aufeinander aufbauende Kompetenzbereiche. Hier sind Fachkräfte gefordert, das nötige Repertoire im Kopf zu haben, um im Alltag des pädagogischen Kontextes das Können des Kindes zu erkennen, die Zonen seiner nächsten Entwicklung zu identifizieren und didaktisch Wege zu kennen, die dem Kind die Brücke dorthin bahnen. Inklusionskompatible Diagnostik stellt nicht die Zugehörigkeit in Frage, sondern schafft Voraussetzungen, um individuell zu fördern. Begleitet wird sie von der Haltung, dass jedes Kind hier „richtig" ist, wie Boban & Kruschel es ausdrücken; dass Diagnostik also nicht zur Zuschreibung verkehrt wird, die stigmatisiert, sondern dass jedes Kind ungefragt dazugehört.

 

  • Welche Rolle spielt die Multiprofessionalität in Ihrem Konzept der Inklusion?


Inklusion führt KollegIinnen zusammen, die einander in selektiven Systemen eher an den „Scharnieren" der Umschulung begegneten, an denen sie die Kinder zu besonderer Förderung jeweils aneinander überwiesen haben. Jetzt treffen sich verschiedene Professionen direkt beim Kind. Sie stehen vor der Aufgabe, sich aus ihren bisherigen Arbeitskontexten heraus gemeinsam zu verständigen, was Inklusion heißen kann und wie sie gelebt zu werden vermag. Dabei spielen Verlustprozesse im Hinblick auf berufsbezogene Identitäten eine Rolle (keine Förderlehrkraft mehr im Sinn einer Klassenlehrerin zu sein; die eigene Schulform aufzugeben); Verteidigungstendenzen können sich aus Gründen des Befremdens bemerkbar machen („der bisherige Weg war gut"; „wir sind hier in der Regelschule"); Einsicht in bisher wenige oder mangelnde Kenntnisse über angrenzende pädagogische Professionen können zu Abwehrreaktionen führen, die dann eher mit eigener Unsicherheit zu tun haben; auch unterschiedliche Qualifikationswege bringen immer wieder Bewertungsempfindungen ins Spiel.

Können die eigenen Ängste realisiert und die fachlichen Reibungen produktiv gestaltet werden, entstehen Wachstumsräume für die eigene Professionalität. Es geht nicht um die Frage, wer alleine Recht hat, sondern um Folgendes: Wie können alle im multiprofessionellen Team mit ihrer je eigene Expertise dem Kind dienen?

In diesem Sinn hat die Inklusionsvorgabe ein neues Feld ständiger Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen im Alltag vor Ort eröffnet.

 



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