Kultur ist die Brille, durch die wir die Welt sehen

Inhaltsverzeichnis

  1. Zwei kulturelle Grundmodelle
  2. Kinderzeichnungen als kultureller Gradmesser
  3. Kultursensitive Sprachbildung und -förderung
  4. Fazit und Literaturtipps

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Viele japanische Eltern sind zufrieden, wenn ihr Kind beim täglichen Abschied in der Krippe herzzerreißend weint –, denn dies zeigt ihnen, dass sie vermisst werden. Afrikanische Mütter sehen es als seelische Grausamkeit an, wenn Säuglinge deutscher Eltern mit einem darübergestülpten Plastikgestell voller Rasseln und Klingeln auf dem Rücken im Wohnzimmer liegen oder ganz alleine in ihrem Zimmer schlafen müssen. Und deutsche Eltern wiederum halten es schlichtweg für Körperverletzung, wenn afrikanische Kinder schon in den ersten Monaten in einen Eimer gesetzt werden, um möglichst früh das Sitzen zu trainieren.

Diese drei Schlaglichter zeigen bereits, dass sich die Erziehungspraktiken und –ziele in verschiedenen Kulturen stark voneinander unterscheiden können. Hier gibt es keine universelle Norm und kein »gut« oder »schlecht«, denn diese Vorstellungen haben sich in bestimmten kulturellen Kontexten entwickelt und können jeweils als Anpassung an die gegebene Situation gesehen werden – und es kann vorausgesetzt werden, dass alle Eltern das Beste für ihre Kinder möchten!  Kultur ist dabei nicht nur von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich, sondern in jedem Land selbst gibt es unterschiedliche Kulturen, die durch Tradition, Religion, Sprache und insbesondere auch sozio-ökonomische Faktoren bestimmt werden.

Das Wissen um den prägenden Einfluss von Kultur ist in unserer globalisierten Welt mit ihren vielfältigen Migrationsbewegungen heute wichtiger denn je - und auch in Deutschland als einem Zuwanderungsland wird die interkulturelle Kompetenz zunehmend zu einer Schlüsselkompetenz. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die frühkindliche Bildung und Entwicklung in der Kindertageseinrichtung und auf eine gelingende Integration von Anfang an.

Eine der international renommiertesten kulturvergleichenden Forscherinnen ist die Psychologin Prof. Dr. Heidi Keller, die an der Universität Osnabrück lehrt und die Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) leitet. „Kultur ist die Brille, durch die wir die Welt sehen“ unterstreicht sie und bemängelt zugleich, dass diese Erkenntnis mit ihren weitreichenden Konsequenzen für die chancengerechte institutionelle Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern „noch längst nicht ausreichend berücksichtigt wird“. Denn nicht nur Erziehungs- und Sozialisationsziele würden sich je nach Kultur unterscheiden, sondern auch ganz grundlegende Wahrnehmungs-, Denk- und Sprachstile.