Bildungshäuser als Modell der Übergangs-Gestaltung

In der Frühkindlichen Bildung spielt der Übergang von der Kita in die Grundschule eine zentrale Rolle – denn durch die verschiedenen Aufträge und Kulturen der beiden Institutionen bringt der Übertritt erhebliche Veränderung in der Lebens- und Lernumwelt des Kindes mit sich. Bei belasteten oder ungenügend vorbereiteten Kindern kann die Bewältigung dieser Veränderung gefährdet sein und der Übertritt kann zu einem Bruch in der Bildungsbiographie führen.

Im Rahmen des Baden-Württembergischen Modellprojektes „Bildungshaus für Drei- bis Zehnjährige“ wird Kindern über einen Zeitraum von sieben Jahren daher die Chance gegeben gemeinsam zu lernen und zu spielen. Durch die intensive Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule soll den Kindern von Anfang an eine kontinuierliche Bildungsbiographie ermöglicht werden. Das Projekt wird seit 2007 an 32 Standorten mit 32 Grundschulen und 48 Kindergärten durchgeführt und vom ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaft und Lernen wissenschaftlich begleitet.

Im Gespräch mit Karsten Herrmann geben die wissenschaftlichen Projektleiterinnen Dr. Petra Arndt und Dr. Kerstin Kipp nähere Auskunft zu den Zielen, der praktischen Umsetzung des noch laufenden Modellprojektes und den Zwischen-Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung des „Bildungshaus 3 – 10“ (gefördert von BMBF und ESF).

 

  • Was steckt an wissenschaftlichen Erkenntnissen hinter dem Bemühen, den Übergang von der KiTa in die Grundschule möglichst fließend zu gestalten? Lauert hier ansonsten tatsächlich schon die erste Sollbruchstelle in der Bildungsbiographie eines Kindes?


kipp 125Kipp: Es gibt Kinder, denen der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule schwer fällt. Die angegebenen Häufigkeiten variieren je nach Studie zwischen 4 und 50 Prozent. Internationale Studien zeigen, dass einmalig stattfindende Schulbesuche angehender Erstklässler oder ein von der Schule angebotener Tag der offenen Tür nicht die erwünschte positive Wirkung haben. Möglicherweise ist eine intensivere Form der Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule notwendig, um den Kindern den Übergang zu erleichtern. Mehrere wissenschaftliche Studien haben verschiedene Formen der Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule untersucht. Es finden sich Hinweise darauf, dass eine Kooperation die Professionalität von Erzieherinnen und Erziehern sowie von Lehrkräften verbessern kann. Wenn sich hierdurch die pädagogische Qualität der Einrichtungen verbessert, dann könnten hiervon auch die Kinder profitieren. Frühere Untersuchungen  zeigten jedoch uneinheitliche Ergebnisse in den Bereichen der Sprache und des rechnerischen Denkens (Settertobulte und Hurrelmann, 2008)

  • Was sind die zentralen Ziele ihrer wissenschaftlichen Begleitung?

arndt 125Arndt: Ein Ziel der wissenschaftlichen Begleitung durch das ZNL ist die Unterstützung der Bildungshausstandorte während der Entwicklung einer engen Kooperation und die Evaluation des Bildungshausprojektes. Die Unterstützung – häufig als Coaching bezeichnet – orientiert sich an den Zielen des jeweiligen Bildungshauses und unterstützt in Zielfindung und Umsetzung. Zugleich erlaubt die enge Begleitung eine Dokumentation der Entwicklungs- und Kooperationsprozesse. Das zweite Ziel der wissenschaftlichen Begleitung  ist die Wirkungsanalyse. Wir untersuchen, ob und wie sich das „Bildungshaus 3 -10“ auf die Qualität von Schulen und Kindergärten, die Arbeitssituation der Pädagoginnen und Pädagogen und auf die Entwicklung der Kinder auswirkt.


  • Wie kann man sich die intensive Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule in den Bildungshäusern nun konkret vorstellen?

Arndt: Die Bildungshäuser bieten den beteiligten Kindern aus Kindergarten und Grundschule ein- bis mehrmals wöchentlich gemeinsame Lern- und Spielarrangements an, die sowohl in der Schule als auch im Kindergarten stattfinden können. Zu Beginn eines jeden Bildungshausjahres steht das Kennenlernen und das soziale Miteinander im Vordergrund. In dieser Phase können soziale und emotionale Kompetenzen gefördert werden, die sicherlich für die gelingende Bewältigung von Übergängen wichtig sind. Im weiteren Verlauf des Bildungshausjahres decken die Bildungsarrangements eine große inhaltliche Spannbreite ab. Themen aus dem sachunterrichtlichen Bereich spielen eine große Rolle, da sich diese so aufbereiten lassen, dass sie für verschiedene Altersgruppen gleichzeitig geeignet sind. Sport- und Bewegungsangebote, Musik, kreatives Gestalten und auch Theater haben sich als geeignet erwiesen, weil sie es sowohl jüngeren als auch älteren Kindern ermöglichen ihre Fähigkeiten einzusetzen und sich als kompetent zu erleben. In allen diesen Bildungssituationen spielt Sprache fast automatisch eine Rolle. Zwischen Schul- und Kindergartenkindern entsteht spontan oder auch durch Patensysteme ein sprachlicher Austausch. Zusätzlich werden sprachliche Aktivitäten gezielt in die Bildungshausarrangements einbezogen, so dass Sprache und sprachliche Bildung in der Summe über alle Bildungshausaktivitäten ein sehr hohes Gewicht hat. Aber auch Mathematik, Fremdsprachen und Religion werden in die Angebote integriert.

Richtig erfassen kann man den Mehrwert der gemeinsamen Lern- und Spielarrangements allerdings erst, wenn man das Miteinander der Kindergarten- und Grundschulkinder betrachtet. Im gemeinsamen Tun können Kindergartenkinder am Beispiel der Schulkinder lernen, die sich in verschiedenen Bereichen in der „Zone der nächsten Entwicklung“ befinden. So können sich Kindergartenkinder leicht abschauen, wie jemand, der auch nicht viel mehr Kraft hat als sie selbst die Säge und den Hammer handhabt, wie Schulanfänger Anlauttabellen und Rechenschieber nutzen usw. Oft sieht es so aus, als würden die jüngeren „nur“ interessiert zuschauen – und plötzlich erlebt man, dass sie sich eine neue Fertigkeit abgeschaut haben, die sie nun gezielt einsetzen können. Umgekehrt erfahren sich Schulkinder mit ihren Kompetenzen in Bildungshausarrangements als Experten, Wissende und Unterstützende und erfahren vermehrte Anerkennung und Aufmerksamkeit für ihre Fähigkeiten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Lesen und Schreiben. Selbst Schreibanfänger sind in Bildungshaussituationen die kompetenten Partner, die oft als einzige in der Lage sind etwa die Beschriftung eines Bildes vorzunehmen. Kinder, auch wenn sie weniger gut lesen, erfahren in Vorlesesituationen – und sei es nur das Vorlesen einer kurzen Anleitung für eine Aufgabe – eine hohe Anerkennung, die ihnen im schulischen Kontext als sog. „schwächere Leser“ häufig versagt bleibt.

  • Es geht also primär um die Vergrößerung der Schnittmengen zwischen den beiden Institutionen und nicht um deren Verschmelzung?

Arndt: Ja, es geht tatsächlich darum, dass für die Kinder ein Raum geschaffen wird, in dem sie selbst zwischen den Themen und Arbeitsweisen des Kindergartens und der Schule wählen können, sich sozusagen frei zwischen diesen Welten hin und her bewegen können. Die Idee ist, dass Kindergartenkinder sich schon einmal so weit, wie sie sich selbst trauen, an die Schule herantasten können. Gleichzeitig wird Schulanfängern durch den Rückbezug zum Kindergarten ein Gefühl der Kontinuität ermöglicht. Sie können sich sich aufgrund ihrer neuen Lernerfahrungen und Kompetenzen als stark und kompetent wahrnehmen.

  • Geht es in den Bildungshäusern denn trotzdem auch um die Entwicklung eines gemeinsamen Bildes vom Kind und einer gemeinsamen Entwicklungs- und Lernkultur – oder ist das aufgrund der unterschiedlichen Systeme illusorisch?

Kipp: Tatsächlich sind Kindergärten und Grundschulen verschiedene Institutionen und haben unterschiedliche gesellschaftliche Aufträge. Nichtsdestotrotz sind im „Bildungshaus 3 – 10“ Annäherungsprozesse innerhalb der pädagogischen Arbeit zu beobachten. Die pädagogischen Fachkräfte der Kindergärten und der Schulen tauschen sich regelmäßig aus, sowohl im gesamten Bildungshaus-Team als auch in Tandems. In einer unserer Befragungen gaben 77 % der MitarbeiterInnen an, dass sie hierdurch mehr Verständnis für die Haltung und Einstellung der pädagogischen Fachkräfte aus dem jeweils anderen Bildungsbereich entwickelt haben. Außerdem nehmen über 70 % der MitarbeiterInnen wahr, dass ihr Blick auf das einzelne Kind durch den Austausch vielfältiger und facettenreicher geworden ist.

  • Wo sehen Sie aus dem Projektverlauf heraus entscheidende Ansatzpunkte für das Zusammenwachsen von Kita und Grundschule?

Arndt: An die baden-württembergischen Bildungshäuser wurde von Anfang an die Anforderung gestellt institutionsübergreifende Lern- und Spielarrangements mindestens für Kinder des letzten Kindergartenjahres und der ersten Klassen anzubieten. Um diese Situationen schaffen zu können bedarf es der intensiven Zusammenarbeit der ErzieherInnen und Lehrkräfte. Vorbereitung, Durchführung und Reflektion der Aktivitäten finden gemeinsam statt. Hierzu treffen sich die jeweils zuständigen ErzieherInnen und Lehrkräfte alle ein bis zwei Wochen und arbeiten intensiv pädagogisch aber auch organisatorisch zusammen.

Das Bildungshaus beinhaltet für die beteiligten ErzieherInnen und Lehrkräfte die Herausforderung, dass eine Einigung über die gemeinsame Vorgehensweise bei der Durchführung der Angebote erzielt werden muss. Hierzu müssen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in pädagogischen Überzeugungen und pädagogischem Handeln herausgearbeitet werden, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dieser Prozess ist ein entscheidender Faktor für das Zusammenwachsen der Professionen. Zusätzlich gibt es im Durchschnitt monatlich Treffen aller beteiligten PädagogInnen zur Abstimmung allgemeiner Entscheidungen und zum Erfahrungsaustausch sowie häufig zusätzliche Treffen auf Leitungsebene. Die Kooperation findet also auf verschiedenen Ebenen statt. Das hat sicherlich einen stabilisierenden Effekt.

  • Welche Rolle spielen die Eltern in den Bildungshäusern?

Kipp: Für jedes einzelne „Bildungshaus 3 – 10“ ist und war es essentiell, dass es von den Eltern mitgetragen wird. Zu Beginn des Modellprojekts waren bei manchen Eltern sorgenvolle Töne zu hören: „Ist mein Kindergartenkind nicht überfordert, wenn es regelmäßig mit älteren Kindern aus der Schule spielt und lernt?“ oder „Wenn mein Schulkind so viel Zeit mit den Kindergartenkindern verbringt, dann fehlt ihm doch die Zeit zum Lernen!“. Trotz solcher Bedenken war aber schon zu Beginn des Modellprojektes die Unterstützung und Akzeptanz von Seiten der Eltern insgesamt eher positiv. Nach der Beobachtung unserer Begleiterinnen und Begleiter der Bildungshäuser nimmt die Akzeptanz der Eltern seither von Jahr zu Jahr zu. Fragt man die Eltern selber, so sind sie hoch zufrieden mit den kooperierenden Kindergärten und Grundschulen.
 
  • Wo liegen die größten Stolpersteine für eine gelingende Zusammenarbeit?

Arndt: Eine der größten Herausforderungen ist sicherlich der Umgang mit der Unterschiedlichkeit der beiden Institutionen sowohl hinsichtlich pädagogischer Fragen als auch hinsichtlich praktischer, organisatorischer und rechtlicher Aspekte. Die Problematik tritt nicht nur im Bildungshaus auf sondern eigentlich bei allen Kooperationen zwischen Kindergarten und Grundschule. Hier ist eine Offenlegung und Akzeptanz der Unterschiedlichkeit wichtig, die Wertschätzung des jeweils anderen Ansatzes, der sich aus dem gesellschaftlichen Auftrag ergibt und letztlich die Entwicklung geeigneter Strategien, um gemeinsame Lösungen zu finden. Außerdem muss auf allen Ebenen festgelegt werden, wer für welche Bereiche die Verantwortung trägt. Während in den Einzeleinrichtungen Schule und Kindergarten Verantwortung, Leitung usw. geklärt sind, ist das für das Bildungshaus zunächst nicht der Fall. Hinzu kommen je nach Standortbedingungen unterschiedliche äußere Faktoren von organisatorischen Hürden wie langen Wegen zwischen den Einrichtungen und fehlenden Räumlichkeiten bis hin zu fehlender Unterstützung durch das Umfeld. Die wissenschaftliche Begleitung hat es ermöglicht, wesentliche Aspekte des Arbeitsprozesses der interdisziplinären Teams systematisch abzubilden. Hieraus entsteht derzeit eine Handreichung, die die genannten und weitere Herausforderungen aufgreift und Hilfestellung bei ihrer Bewältigung gibt.

  • Wie geht es weiter und welche Schlüsse ziehen Sie auf der strukturellen und inhaltlichen Ebene aus diesem Projekt für die zukünftige Gestaltung des Übergangs von der KiTa in die Grundschule?

Kipp: Die Bildungshäuser werden noch bis zum Sommer 2014 von uns, dem ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen, begleitet. Danach schließt sich ein weiteres Jahr an, in dem wir die gesammelten Daten weiter auswerten und veröffentlichen werden. Jetzt können wir schon sagen: man braucht beides, den Austausch zwischen den pädagogischen Fachkräften und die gemeinsamen Aktivitäten der Kindergarten- und Grundschulkinder. Auch wenn der Austausch der Fachkräfte Zeit kostet, so halten die Fachkräfte diesen Austausch für wichtig und wertvoll. Inwiefern die Kinder in Bezug auf sprachliche und mathematische Fertigkeiten profitieren, können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Unsere erste Gruppe von Kindern im Bildungshaus, die wir vier Jahre lang begleitet haben, zeigt aber beachtenswerte Ergebnisse. In der ersten Klasse profitierten die Kinder durch das Bildungshaus in Bezug auf ein verbessertes Klassenklima und höhere Lernfreude. Mädchen zeigten darüber hinaus ein verbessertes Selbstkonzept der Schulfähigkeit, höhere Anstrengungsbereitschaft und eine positivere Schuleinstellung.

Unsere ersten Ergebnisse sprechen also dafür, dass die verzahnte pädagogische Arbeit im „Bildungshaus 3 – 10“ ein erfolgversprechender Weg ist, um Kindern den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule zu erleichtern.


  • Vielen Dank für das Gespräch!



Zu den Personen

  • PD Dr. Kerstin Kipp arbeitet am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm. Dort leitet sie gemeinsam mit Dr. Petra Arndt die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts „Bildungshaus 3 – 10“ des Landes Baden-Württemberg. Sie ist Diplom-Psychologin und Sprechpädagogin (DGSS). 2003 hat sie an der Universität des Saarlandes promoviert und 2011 im Bereich der kognitiven Neuropsychologie habilitiert. Der Schwerpunkt ihrer Forschung lag im Bereich der Entwicklung des Lernens und des Gedächtnisses in der Kindheit und Jugend. Im Rahmen des „Bildungshaus 3 – 10“ geht es nun um die Gestaltung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule, ein Projekt in dem die Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis geschlagen wird.

  • Dr. Petra Arndt arbeitet am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm. Dort leitet sie gemeinsam mit PD Dr. Kerstin Kipp die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts „Bildungshaus 3 – 10“ des Landes Baden-Württemberg. Sie hat Neurobiologie und Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum studiert und dort auch promoviert. Ihre Forschungsinteressen lagen im Bereich kognitive Neurowissenschaften und Psychologie, mit den Schwerpunkten kindliche Entwicklung, Lern- und Teilleistungsstörungen und neurobiologische Grundlagen von Lernprozessen. Im Projekt „Bildungshaus 3 – 10“ steht nun die Evaluation einer Intensivkooperation von Kindergarten und Grundschule im Vordergrund.





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