Anna Borchers (1870-1918)
Die blinde Anna Borchers, die in der Ausbildung von Diakonissinnen zu Kindergärtnerinnen / Hortnerinnen tätig war, ohne selbst Diakonissin zu sein, hat die „christliche (evangelische) Kinderpflege“ maßgebend beeinflusst. Ihre pädagogischen Ideen, die sie rege publizistisch verbreitete, fanden auch „nach ihrem plötzlichen Tod im Jahr 1918 […] weiterhin Anerkennung“ (Wasmuth 2011, S. 271). Geboren wurde Anna Borchers am 11. Juni 1870 in Königshütte (heute Chorzów). Obwohl aus einer kinderreichen Bergmannsfamilie stammend, erhielt sie eine gute Bildung und Erziehung. Vor allem ihre Musikalität wurde von den Eltern unterstützt. Nach dem frühen Tod der Mutter und dem bald darauf folgenden des Vaters, ereilte Anna Borchers ein weiterer schwerer Schicksalsschlag: sie verlor im Alter von 15 Jahren ihre Sehkraft. Nachdem sie eine Blindenunterrichtsanstalt absolviert hatte, ließ sie sich in einem Seminar in Breslau zur Lehrerin ausbilden. Anschließend unterrichtete Anna Borchers, sie war gerade 23 Jahre alt, die zukünftigen Diakonissinnen im „Adalbert-Diakonissenhaus“ in Kraschnitz (heute Krosnice). Ihre Aufgabe war, die Schülerinnen auf ihre spätere Arbeit in „christlichen Kleinkinderschulen“ vorzubereiten. Nach einem längeren Studienaufenthalt in Frankreich, folgte Anna Borchers einen Ruf an das Diakonissenmutterhaus „Bethesda“ in Grünberg (heute Góra). Dort zeichnete sie wiederum für die Schulung junger Diakonissinnen für ihre spätere Berufsarbeit in der „christlichen Kinderpflege“ verantwortlich. Um ihren Schülerinnen eine praxisnahe Ausbildung zu ermöglichen, gründete Anna Borchers einen „Volkskindergarten“. Bald darauf rief sie noch einen Hort, ein Säuglingsheim sowie eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Kinderpflegerinnen ins Leben. Am 6. Oktober 1918 verstarb Anna Borchers unerwartet an den Folgen eines Gehirnsschlags in Grünberg.Der Kindergarten als Erziehungsanstalt/-stätte
Die Pädagogin war der Ansicht, dass das Kind in die Familie und zur Mutter gehöre. Krippen, Kleinkinderschulen, Bewahranstalten, Kindergärten etc. waren für sie in erster Linie „Hilfs- und Ergänzungseinrichtungen für das Elternhaus“ (Borchers 1907, S. 6). Trotzdem bedürfe es einer „guten“ Kleinkinderpädagogik: Für Anna Borchers „die Fröbel’sche Pädagogik, die deshalb in den christlichen Erziehungsstätten eingeführt werden sollte“ (Wasmuth 2011, S. 268 f). Auf keinen Fall sollte der Kindergarten eine „bloße Wohltätigkeitsanstalt“, sondern eine „Erziehungsanstalt/-stätte“ sein. Diesbezüglich vertrat Anna Borchers die Ansicht, dass die institutionalisierte frühkindliche Erziehung ganzheitlich sein muss und sie die Entwicklung aller kindlichen Kräfte anzuregen und zu unterstützen hat:
„Die Kindergärtnerin halte immer fest den Zweck des Kindergartens im Auge. Der Kindergarten soll eine Erziehungsanstalt sein, er darf nicht zur bloßen Wohltätigkeitsanstalt herabgedrückt werden. ‚Bete und arbeite’ sei das tägliche Losungswort für die Kindergärtnerin und die ihr anvertrauten Kinder […] Wie jede Kinderstube, so muß der Kindergarten eine Erziehungsstätte sein. Da erziehen heißt: alle angeborenen Kräfte des Kindes zu entwickeln, so muß auch im Kindergarten dieses Ziel erstrebt werden. Die körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte des Kindes sollen im Kindergarten in jeder Weise entwickelt werden“ (Borchers 1912, S. 50).
Für Anna Borchers hatte die sittliche Erziehung des Kindes, „die Bildung des Willens zum Guten, zur Tugend“ (Borchers 1907, S. 31), oberste Priorität. Darum ist es Aufgabe der Erziehung, durch Zucht, aber auch durch Beispiel und Gewöhnung, durch Gebete, Lob und Tadel, durch Belehrung, Belohnung sowie Strafe, kindliche Untugenden wie beispielsweise Trotz und Eigensinn, Hochmut und Eitelkeit, Lügen und Schwindeln, Stehlen, Naschhaftigkeit, Trägheit etc. zu bekämpfen und damit zu beseitigen (vgl. Borchers 1907, S. 10 ff.).
Spiel als höchste Stufe der Kindesentwicklung
Die Pädagogin war eine überzeugte Fröbelpädagogin. Demzufolge hatte sie stets die erziehliche Bedeutung des kindlichen Spiels thematisiert:
„Friedrich Fröbel, der große Kinderkenner, spricht sich über das Spiel der Kinder in seiner ‚Menschenerziehung’ in folgender Weise aus: ‚Spielen, Spiel ist die höchste Stufe der Kindesentwicklung, der Menschenentwicklung dieser Zeit […] Spiel ist das reinste geistige Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe, und ist zugleich das Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens, des inneren, geheimen Naturerlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum Freude, Freiheit und Zufriedenheit, Ruhe in sich und außer sich, Frieden mit der Welt.’ Fördern wir darum das innere Bedürfnis des Kindes, fördern und fordern wir darum das kindliche Spiel, denn es ist in der Tat das reinste geistige Erzeugnis […] Das Kind spielt, um die Zeit zu benutzen, nicht um sie zu vertreiben“ (zit. n. Berger 1995, S. 20 f).
Spiel fördere, wie Anna Borchers resümierte, u. a. die Entwicklung der körperlichen sowie geistigen Kräfte, es helfe ferner Schüchternheit und Empfindlichkeit zu überwinden und gebe Einblicke in das kindliche Seelenleben (vgl. Wasmuth 2011, S. 273).
Patriotische Infiltrierung
Anna Borchers ist auch ein Beispiel für die politische Infiltrierung der öffentlichen Kleinkindererziehung im Deutschen Kaiserreich. „Patriotische Feiern“ waren seinerzeit fester Bestandteil des erzieherischen Alltags. In ihrer Schrift „Feststunden mit unseren Kleinen“ empfiehlt die Pädagogin beispielsweise für eine „Patriotische Feier“ folgendes Kinderlied:
„Ihr Knaben alle, groß und klein,
wir wollen rechte Deutsche sein,
marschieren nach Soldatenbrauch,
dann freut sich unser Kaiser (König) auch.
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
einst schützen wir den deutschen Rhein, den deutschen Rhein!
[…]
Wenn Gott und freudig schenkt den Sieg,
wir froh heimkehren aus dem Krieg,
dann kann sich uns’re Mutter freu’n
und stolz auf ihre Jungen sein!
Treu schützen wir den deutschen Rhein, den deutschen Rhein“ (Borchers 1905, S. 22).
Literatur
- Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch, Frankfurt/Main 1995
- Ders.: Borchers, Anna, in: Bautz, T. (Hrsg.): Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon, XX. Band, Nordhausen 2002, Sp. 242-250
- Borchers, A.: Feststunden mit unseren Kleinen, Dresden 1905
- Dies.: Handreichung für die Erziehungsarbeit in Familie und Anstalt. Mit einem Anhang von Karl Fliedner, Dresden-Blasewitz 1907
- Dies.: Wegweiser für die praktische Arbeit in Kindergarten und Kleinkinderstube, Dresden-Blasewitz 1912
- Wasmuth, H.: Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen. Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland, Bad Heilbrunn 2011
- Zuletzt bearbeitet am: Montag, 31. Oktober 2016 08:26 by Karsten Herrmann