Spiel / Spieltherapie

Spiel ist ein schillernder Begriff, nach Ludwig Wittgenstein ein Begriff mit verschwommenen Rändern. Spiel ereignet sich in der unbelebten und belebten Natur (Spiel der Wellen, Spiel der Tiere). Der Mensch spielt in allen Lebensaltern und in allen Lebenslagen, und die Spiele sind sehr unterschiedlich: Bewegungs- und Sportspiele, Glücksspiele, Liebesspiele, Konstruktions- und Bauspiele, Symbol- und Rollenspiele, Strategiespiele u.a.m. Die meisten dieser Spielarten können in angeleiteter oder freier Form, als Individual- oder Gruppenspiel stattfinden.

Angesichts dieser Vielfalt verwundert es nicht, dass keine allgemeingültige Spiel-Definition  existiert. Viele Autoren führen deshalb bestimmte Struktur- und Verhaltensmerkmale auf, an denen man i.d.R. ein Spiel erkennt, von denen jedoch nicht immer alle auftreten müssen. Damit liefern sie zwar keine Definition, aber immerhin eine Beschreibung. Die wichtigsten Struktur- und Verhaltensmerkmale von Spiel sind:

  1.  Ambivalenz, d.h., das Spiel pendelt zwischen einem aktiven Bewältigen und Erkunden der Umwelt und einem Sich-Lösen und Entfernen sowie zwischen Spannung und Lösung, ohne sich ganz festzulegen;
  2. Distanz zur Realität, d.h., das Spiel ist anders als die gewöhnliche Welt, ist eine Quasi-Realität, die durch Spielregeln aus der Alltags-Realität ausgegrenzt ist;
  3. Freiraum, d.h., das Spiel ist frei von Sorgen und materiellem Gewinnstreben, frei auch von den Sanktionen der umgebenden Realität, ist ein entspanntes Feld;
  4. spontanes Engagement, d.h., der Spieler spielt freiwillig, aus Freude und Spaß, um des Spiels selbst willen, das er als intensive Gegenwart erlebt;
  5.  Antithetik, d.h., das Spielmotiv ist sehr häufig die Herausforderung durch einen Gegner oder eine Aufgabe, die Spannung und Ungewissheit schafft. Seit den 1970er Jahren wird noch ein Merkmal hinzugefügt:
  6. das Spiel mit Spielpartnern stellt eine Interaktions- und Kommunikationssituation von seltener Dichte, ein soziales Ereignis dar; zu seinem Gelingen verlangt es vom Spieler, dass er seine Fähigkeiten zu sozialer Kommunikation und Interaktion mobilisiert und damit übt.

Aufgrund der genannten Merkmale wird das Spiel mit dem sog. Flow-Erleben in Verbindung gebracht, ein bei Menschen in Extrem-Leistungsbedingungen (z.B. Künstlern, Felskletterern, Chirurgen) identifiziertes holistisches Gefühl, bei dem das Handeln als einheitliches Fließen von einem Augenblick zu nächsten erlebt wird und Handlung und Bewusstsein selbstvergessen verschmelzen.

Eine Spieltheorie, die Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte, gibt es aufgrund der Komplexität des Begriffes Spiel nicht. Wie das bekannte Schiller-Wort, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, zeigt, ist Spiel oft sehr idealistisch beschrieben worden. Demgegenüber wenden sich die vorliegenden Theorien des Spiels Einzelaspekten zu, die sich wechselseitig ergänzen, wenn auch nicht immer widerspruchsfrei. In davon abgehobener Bedeutung stellt die mathematische Spieltheorie Modelle zur Konfliktlösung und Entscheidungsfindung vor.

Die Entwicklungspsychologie beschreibt die Bedeutung des Spiels für die kognitive, emotionale, soziale und motorische Entwicklung des Kindes. Diese wurde insbesondere auch von den sowjetischen Spielpädagogen betont. Dabei werden einander ähnliche phasenhafte Abfolgen kindlichen Spielverhaltens festgestellt, die allerdings nicht mit den Phasenaltern der älteren Entwicklungspsychologie gleichgesetzt werden dürfen. Sinnvoll sind sie – flexibel  angewandt – als Hilfe für die Entwicklung von optimalen altersangemessenen Spielangeboten. Besonders weiterführend wurde Lev Wygotskys Begriff der Zone der nächsten Entwicklung: Im Spiel wächst das Kind über sich hinaus und erprobt vorahnend, was ihm in seiner späteren Entwicklung möglich sein wird.

In den materialistischen Theorien wird Spiel als eine realitätsorientierte und gesellschaftlich-historisch bedingte Tätigkeit vorgestellt. Betont wird ein dialektisches Verhältnis zwischen Spiel und Arbeit.

Auch Rolf Oerters Konzeption aus den 1990ern ist realitätsorientiert; zentral wird der Gegenstandsbezug des Spiels. Im übergeordneten Gegenstandsbe-ug erscheinen die Spielmotive als verdichtete Thematisierungen kindlicher existentieller Themen (z.B. groß sein wollen). Vergleichbar zu Lev Wygotskys Zonen bildet sich im Spiel eine neue, für die Weiterentwicklung bedeutsame Erfahrungsgrundlage.

Die Lern- und Motivationspsychologie untersucht die aktive Seite des Spiels; Neugierverhalten und Spannungssuche werden als auslösende Elemente gesehen. Gegenstände und Umwelten regen Spiel an, wenn sie solche Diskrepanzen zum Bekannt-Vertrauten schaffen, dass ein mittlerer Spannungsgrad entsteht; wird er zu hoch oder zu niedrig, zerstört er das Spiel. Das Pendeln des Spiels um diesen mittleren Spannungsgrad beschreibt Heinz Heckhausen als Aktivierungszirkel. Diese Theorie unterscheidet aber nicht deutlich zwischen Spiel und Exploration.

Die Psychoanalyse versteht Spiel nicht unbedingt als freudige und lustvolle Tätigkeit, sondern als eine Möglichkeit der Bewältigung übermächtiger, meist passiv erlittener und bedrohlicher Situationen durch ihre aktive Wiederholung. In der Nachfolge entstanden verschiedene Formen der Spieltherapie.

In einer Weiterentwicklung stellt Donald Winnicott das Konzept des intermediären Raumes vor, mit dem Spiel als ein Ereignis zwischen innerer und äußerer Welt beschrieben wird. Gerd Schäfer differenzierte diesen Ansatz in den 1980er Jahren weiter aus. In einer anderen Weiterentwicklung fügte Erik H. Erikson dem psychoanalytischen Wiederholungsdrang das spielerische Element der Freude am Selbstausdruck hinzu und kann diese durch seine Methode der Spielkonstruktion eindrucksvoll belegen.

Phänomenologie und Anthropologie verstehen Spiel als grundlegendes, d.h. nicht auf andere Gründe rückführbares Phänomen menschlichen und tierischen Lebens, das sie anschaulich und in der Fülle seiner Erscheinungen beschreiben: Frederik J. J. Buytendijk, der auf die spielerische Dynamik abhebt; Johan Huizinga, der kulturelle Erscheinungsformen als Spiel begreift; Gustav Bally, der entspanntes Spiel im Gegensatz zu gespanntem Triebverhalten als U-sprung der Freiheit sieht; Hans Scheuerl, der für das Spiel bestimmte phänomenologische Kennzeichen erarbeitet und seine Erscheinungsformen pädagogisch typisiert. Die phänomenologischen Beschreibungen zeigen, dass eine Fülle historischer Traditionen und Gebräuche im Spiel weiterlebt, dass daneben aber ständig aktuelle Ereignisse zu Spielinhalten werden.

Kulturvergleichende Studien weisen Zusammenhänge zwischen den Strukturen einer Gesellschaft und Art und Vielfalt der praktizierten Spiele nach. Brian Sutton-Smith stellt die Konflikt-EnkulturationEnkulturation|||||Unter Enkulturation versteht man  das automatische Verinnerlichen und Hereinwachsen in die eigene Kultur. Dies beginnt als Sozialisationsprozess vom neugeborenen Säugling zum kulturell integrierten Erwachsenen.-Hypothese vor: Die grundlegenden Konflikte  einer Kultur schlagen sich in der antithetischen Struktur ihrer Spiele nieder, und im Durchspielen dieser Antithesen werden die Kinder dazu befähigt, mit eben diesen Konflikten umzugehen: Annäherung – Vermeidung, Erfolg – Versagen u.a.m. In seinem umfänglichen Lebenswerk arbeitet Sutton-Smith diese Dialektik bzw. Bipolarität des Spiels weiter aus. 1997 entfaltete er in sieben Paradigmen die AmbiguitätAmbiguität|||||Wird auch als  Mehrdeutigkeit oder Doppeldeutigkeit verwendet, z.B. wenn ein  Bild oder Satz auf verschiedene Arten und Weisen verstanden werden kann. Dazu gehören unter anderem auch Anspielungen. des Spiels; dieses erscheint als ein Kommunikationssytem, das die im Überlebenskampf notwendige kulturelle Variabilität hervorbringt.

Die Theoretiker des Spiels sind sich weitgehend darin einig, dem Spiel wichtige Freiheitspotentiale zuzuschreiben: die Freiheit von den Zwängen der Situation aufgrund seiner Möglichkeit, veränderte Bedeutungszuschreibungen, veränderte Rahmungen vorzunehmen; die Widerständigkeit gegen die Zwecke der Realität (einschließlich Lernziele) aufgrund seines penetranten Beharrens auf Erfüllung der Gegenwart (Diethart Kerbs); und die Freiheit gegenüber Autoritäten aufgrund seiner Möglichkeit, sich widerspenstig und aufmüpfig gegen die Wirklichkeit und ihre Machträger zu verhalten (sog. bottom-up play, Don Handelman). Spiel ist also für das Mensch-Sein eine zentrale Kategorie.

In der gesellschaftlichen Praxis ergeben sich Einschränkungen. In den 1970er Jahren wurde die Möglichkeit diskutiert, Spiel als Methode für soziales Lernen und als Motivationshilfe für kognitives Lernen zu benutzen. Später erschien die Frage einer Ökologie des Spiels: Spielräume der Kinder gehen zunehmend verloren und müssen verteidigt werden.

Letztlich kommt die zunehmende Mediatisierung und Vermarktung des Spiels durch ein globales Spielmittel-Merchandizing in den Blick. Dies wird auch durch erhöhte Erwartungen an die Frühpädagogik hinsichtlich der Vermittlung schulischer Inhalte potenziert. Das Spiel und insbesondere das freie Spiel erscheint zugunsten einer Didaktisierung des Spiels gefährdet.

Literatur:

  • Flitner, A. (Hg.) (1973): Das Kinderspiel. München.
  • Huizinga, J. (1938/2004): Homo Ludens. Hamburg.
  • Scheuerl, H. (Hg.) (1955/1991): Theorien des Spiels. Weinheim, Basel.
  • Sutton-Smith, B. (1978): Die Dialektik des Spiels. Schorndorf.
  • Wegener-Spöhring, G. (1995): Aggressivität im kindlichen Spiel. Weinheim.

 

Copyright-Hinweis:
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)