Kind/Kindheiten


Traditionell sind Kinder Objekte von Erziehung und ein didaktisches Problem. Ein biologisch-anthropologischer Begriff vom Kind fasst es als sog. extrauterine Frühgeburt (Adolf Portmann). Medizin und Psychologie beobachten den Körper des Kindes, seine Reifung und Pflege und das Lernen. Das heute maßgebliche Verständnis vom Kind als eines unverwechselbaren Individuums hat seinen Ursprung in der Romantik. Sie brach mit der theologischen Doktrin, dass alle Menschen Kinder Gottes seien, durch eine Vergöttlichung des Kindes und stiftete damit eine Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen. In der Erziehungskritik der 1968er Bewegung und mit der – in einer Konvention der Vereinten Nationen weltweit ratifiziertratifiziert|||||Die Ratifikation, auch Ratifizierung ist eine verbindliche Erklärung des Abschlusses eines Vertrages durch  Vertragsparteien.en – Idee, dass Kinder Rechte haben, erhielt dieses Verständnis vom Kind eine Fassung, die uns heute als selbstverständlich erscheint.

Ein Durchgang durch pädagogische Lexika, Handbücher und Enzyklopädien zeigt, dass noch im 19. Jahrhundert Kind als Begriff gar nicht oder nur in Komposita auftaucht, die auf Erziehung verweisen. John Locke wird die Metapher vom Kind als einer tabula rasa zugeschrieben. Aber sie ist viel älter und steht für ein Verständnis von Erziehung als Gewöhnung. Locke gibt ihr eine neue Wendung, wenn er fragt, wie der Mensch zu seinen Ideen komme. Seine Antwort lautet: durch Beobachtung, Erfahrung und Denken. Das unbeschriebene Blatt wird nicht allein durch den Erzieher, sondern durch Selbsttätigkeit beschrieben. Hier konstituiert sich ein Begriff von Lernen; aber er wird vorrangig nicht auf das Kind, sondern auf den Menschen insgesamt bezogen. Jean-Jacques Rousseau wird oft der Begründer des modernen Bildes vom Kind genannt. Aber seine Bedeutung liegt primär in der SäkularisierungSäkularisierung|||||Im engeren Sinn sind damit Prozesse gemeint, die bewirken, dass von einer engen Bindung an die Religion zunehmend  Prozesse auf der Basis menschlicher Vernunft betrachtet werden. Diese Betrachtungsweise begann in der Zeit der Aufklärung und wird soziologisch auch als „sozialer Bedeutungsverlust von Religion“ genannt. der Doktrinen christlicher Erziehung. Es geht um eine Erziehung zum Menschen, um eine Verwirklichung seiner nicht vorherbestimmten Möglichkeiten. Rousseau knüpft an die kindermedizinische Diätetik seiner Zeit an und generalisiert ihre Regeln der Hygiene und Ernährung zu einem Prinzip natürlicher Erziehung. Sein Naturbegriff stellt auf den Gegensatz zwischen Mensch und Bürger ab; Natur ist ein gesellschafts-reformerisches Projekt. Johann Gottfried Herder geht von der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier (statt zwischen Mensch und Bürger) aus und öffnet damit den Blick für die von Beginn an soziale Natur des Menschen. Es ist die Sprache, die den Unterschied macht und den Mangel an Instinkten, der Hilflosigkeit und Angewiesenheit bedingt, in den Vorteil des nicht-festgelegt-Seins verwandelt.


Herders Anthropologie der Sprache ist eine pädagogische Anthropologie, die ohne einen normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.en Begriff der menschlichen Natur auskommt.Aber bei Herder geht es so wenig wie bei Rousseau oder Locke um eine Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen. Das ändert sich erst mit der Romantik. In Johann Wolfgang Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ werden individuelle Kinder beobachtet und beschrieben. Ihr eigener Wille, ihr Eigensinn begründen ein Eigenrecht der Kindheit. In der ursprünglichen Unschuld und Identität des Kindes spiegelt sich die Selbst-Entfremdung des Erwachsenen. Die Reformpädagogik radikalisierte diese melancholische Reprise auf die Gottesebenbildlichkeit zu einem Erlösermythos: Das Kind nicht nur als Vorbild sondern − bei Maria Montessori − als Messias. Die empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Variante der Reformpädagogik setzte auf die Untersuchung kindlichen Lernens und wurde so zu einem Vorläufer der empirischen Kinderforschung (child study, Pädologie) des 20. Jahrhunderts, für die exemplarisch Jean Piaget genannt werden kann. Mit der reformpädagogischen Wendung gewann die Pädagogik eine Vorstellung von Kindern als Individuen und von der Kindheit als Entwicklungsalter. Aber sie hatte noch keine Vorstellung von der Kindheit als einer eigenständigen soziokulturellen Tatsache. Dieser Gedanke ist erst etwa seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts durch die internationale sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung und die Kinderrechtsbewegung formuliert worden.

Die theoriegeschichtliche Vergegenwärtigung ergibt: Ein erziehungswissenschaftlicher Zugang kann sich nicht unmittelbar auf Kinder beziehen, sondern nur auf dem Weg über die diskursive Konstituierung von Kindheit. Vom Kind ist anders als aus der Perspektive von Erwachsenen nicht zu reden. Daraus ergibt sich eine erkenntnisbezogene Unterscheidung zwischen Kind und Kindheit. Auf ihr basiert die gegenstands-theoretische Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen. Kind ist, wer nicht erwachsen ist und wer Eltern hat. Die epistemologisch und die gegenstandstheoretisch relevanten Unterscheidungen sind nur analytisch voneinander unabhängig. Kinder sind immer Kinder ihrer Zeit, sie werden in einem kulturellen Kontext auf spezifi che Weise als Kinder wahrgenommen und angesprochen. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen strukturiert den Lebenslauf durch alle Lebensphasen hindurch entlang der Differenzen kompetent/nicht kompetent, mündig/unmündig. Sie ist als die pädagogische Differenz Voraussetzung von Erziehung, Kind also ein pädagogisches Konstrukt und Kindheit eine Wissensform, eine soziale Epistemologie.


In diesem Sinne sind Kind und Kindheit Konstrukte generationaler Ordnungen und damit geschichtlichem Wandel unterworfen. Es ist ein Begriff des Kindes denkbar, der nicht auf der Unterscheidung kindlich vs. erwachsen basiert. Sie wurde im Kampf gegen die Kinderarbeit und mit der Schulpflicht erst durchgesetzt und wird heute partiell widerrufen, wenn Kinder als Konsumenten angesprochen werden oder das Lernen zur lebenslangen Aufgabe erklärt wird. Ein entwicklungspsychologischer und auch ein sozialisationstheoretischer Ansatz setzt dagegen als bekannt voraus, was man unter Kind und Kindheit versteht. Entsprechend haben beide nicht eigentlich einen Begriff vom Kind, sondern von Entwicklung bzw. von Individuierung durch Vergesellschaftung.
In der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft lassen sich vor allem drei Ansätze feststellen, die Frage nach dem Kind durch empirische Forschung zu beantworten.

Der erste Ansatz ist autobiographisch. Die Erwachsenen vergewissern sich ihrer selbst und stiften ihre Identität u.a. über die Vergegenwärtigung ihrer Kindheit.
Der zweite Ansatz ist historisch. Er untersucht die Subjektgeschichte der Erziehung im Schnittpunkt von Biographie und Sozialgeschichte.

Der dritte Ansatz ist phänomenologisch. Er beobachtet Kinder in ihrer Lebenswelt und schreibt ihrer Eigentätigkeit die Bedeutung von Bildungsprozessen zu. Die sinnkonstituierende und sinnaneignende Tätigkeit der Kinder tritt den Erwachsenen als eine fremde Eigenwelt entgegen, die eine Herausforderung und Grenze erwachsenenzentrierter Kindheitsbilder darstellt.

Die internationale sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung untersucht die Kindheit als soziale Praxis und kulturellen Kontext. Für Deutschland sind vor allem ethnographische Studien zur sozialen Welt der Kinder und zu den Ordnungen der Kindheit, Untersuchungen der sozialstaatlichen Vergesellschaftung und des Wandels von Kindheit sowie DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. analysen ihrer symbolischen Konstruktion zu nennen. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998 ist als erster Nationaler Kinderbericht ein grundlegendes Dokument der Sozialberichterstattung über die Lebensverhältnisse von Kindern in Deutschland.

In der angelsächsischen Forschung ist die Studie der amerikanischen Historikerin Viviana Zelizer über den epochalen Wandel des sozialen Wertes der Kinder an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Meilenstein der Historischen Kindheitsforschung. Ein erziehungswissenschaftlicher Begriff des Kindes, so lässt sich resümieren, weiß sich in generationalen Ordnungen konstituiert, die ihm die Beobachtung und Behandlung von Kindern erst erlauben. Er muß daher ein nichtpädagogischer Begriff sein. AnthropologischAnthropologisch|||||Als Anthropologie wird die Lehre bzw. Wissenschaft vom Menschen verstanden.e Begründungen der Kindheit werden daher schnell problematisch. Kommerzielle Interessen an der Kindheit ziehen sich aus dem Kindheitsprojekt der Moderne zurück und bestreiten das pädagogische Monopol auf die Thematisierung von Kind und Kindheit. Darin liegt die Chance, die pädagogische Konstruktion des Kindes zu einer empirischen Frage zu machen.


Literatur

  • Amberg, L. (2004): Wissenswerte Kindheit. Bern.
  • Behnken, I./Zinnecker, J. (Hg.) (2001): Kinder, Kindheit, Lebensgeschichte. Seelze-Velber.
  • Honig, M.-S. (1999): Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt a.M.
  • Honig, M.-S. (2009): Ordnungen der Kindheit. Weinheim, München.
  • Krüger, H.-H./Grunert, K. (Hg.) (2010): Hand-buch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden.


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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)