Der Sozialraum als Bildungsort für von Armut bedrohte Familien

Co-Autorin: Julia Lepperhoff


Eine systematische Sozialraumorientierung ist für eine präventiv ausgerichtete Unterstützung früher Bildungsprozesse von Kindern zentral. Insbesondere für Familien in schwierigen Lebenslagen können Familien unterstützende und Bildung fördernde Einrichtungen, wie z.B. Familienzentren, eine »strukturelle zweite Heimat« (Lanfranchi 2006, S. 135) darstellen.

Die Teilhabe an Bildung hat eine Schlüsselstellung für den weiteren Lebensweg von Kindern inne. Zugleich ist der Zusammenhang von Herkunftsfamilie und Bildungserfolgen in Deutschland nach wie vor stark ausgeprägt (vgl. Quenzel/Hurrelmann 2019). Für den Abbau ungleicher Bildungschancen ist es daher wesentlich, Kindern, die Bildungsbarrieren erfahren, die Wahrnehmung ergänzender Angebote zu ermöglichen und sie schon früh in ihrer Entwicklung zu fördern.

Es sind dabei drei Bildungsorte, die für jüngere Kinder von zentraler Bedeutung sind: die Familie, in der sie aufwachsen, die außerhäusliche Kinderbetreuung und der Sozialraum. In den ersten Lebensjahren ist die Familie der zentrale Ort für die Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern. Eltern initiieren Lernprozesse im Alltag und legen den Grundstein für den weiteren Lebens- und Bildungsweg ihrer Kinder. Zugleich sind Kinder bereits vor dem Schuleintritt zunehmend in unterschiedliche außerfamiliale Bildungszusammenhänge eingebunden: Neben Angeboten der Familienbildung ist dies vor allem der Besuch von Einrichtungen institutioneller Kinderbetreuung. Familien sowie öffentliche Einrichtungen und Angebote bilden also zwei tragende und einander ergänzende Säulen, auf denen frühkindliche Bildungsprozesse fußen.

Darüber hinaus ist der Sozialraum für die kindliche Entwicklung besonders hervorzuheben, denn hier können leicht zugängliche Angebote für Familien geschaffen und gebündelt werden; »ein lebendiger Nahraum« (Deinet 2011, S. 298) für Kinder und ihre Eltern kann entstehen. Sozialraumorientierung lässt sich in diesem Zusammenhang vor allem über drei Merkmale definieren (vgl. Heintze 2019; Hinte 2009; Hinte/Treeß 2014): Sie bedeutet zum ersten, sich ganz konkret an den Lebenswelten der Familien(-mitglieder) vor Ort auszurichten und bedarfsorientiert zu agieren. Für die Umsetzung sozialräumlicher Konzepte ist daher der partizipative Einbezug der Interessen der Familien im sozialen Umfeld sehr bedeutsam. Zum zweiten wird niedrigschwellig ausgerichteten Angeboten, die die klassischen Komm-Strukturen (z.B. in festen Kursgruppen) erweitern sowie aktivierend und ressourcenorientiert arbeiten, der Vorzug gegeben. Zum dritten soll durch die Überwindung der Konzentration auf einzelne Einrichtungen sowie die Vernetzung und Kooperation der Akteure im Sozialraum eine Infrastruktur zur Steigerung der Lebensqualität von Familien entstehen.

Die Schaffung eines solchen Sozialraums gilt vor allem mit Blick auf von Armut bedrohte Familien als besonders wertvoll, da eine übergreifende familienbezogene Infrastruktur kompensatorisch gerade für jene Kinder wirkungsvoll sein kann, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen. Die Förderung der kindlichen Entwicklung durch u.a. kostenfreie oder kostengünstige Zugänge zu (Bildungs-)Angeboten, die Bündelung von Informationen und die Vermittlung an weitere Einrichtungen vor Ort sowie die Herstellung von Frei- und Spielräumen für Kinder haben einen präventiven Charakter und stellen – neben den unmittelbar materiellen Leistungen für Familien – eine wichtige Ressource beim Abbau ungleicher Bildungschancen dar.

Armut und Armutsbedrohung von Familien: ein komplexes Phänomen

Um zu verstehen, was Armut oder Armutsbedrohung für Familien konkret bedeutet, bedarf es einer multidimensionalen Betrachtung. Laut der AWO-ISS-Studie schlägt sich die finanzielle Unterversorgung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen nieder. Sie wirkt auf die 1) materielle Lage, 2) kulturelle bzw. bildungsbezogene Lage, 3) soziale Lage und 4) gesundheitliche Lage (vgl. ISS 2012). Dabei ist eine Art »Aufschichtung« von kritischen Erfahrungen und Entwicklungen im Lebensverlauf von Kindern feststellbar (vgl. ebd.; Tophoven et al. 2017). Insbesondere, wenn mehrere Risikolagen beim Aufwachsen von Kindern ineinandergreifen, führt das zu multiplen Benachteiligungen und Belastungen (vgl. Walper/Müller/ Liel 2019). Ein Leben mit starken finanziellen Einschränkungen erfordert von Familien zudem überdurchschnittliche Kraftanstrengungen im familiären Alltag (vgl. Andresen/Galic 2015). Dies gilt besonders, weil Armut vielfach schambehaftet ist. So »ist es insbesondere die Öffentlichkeit und der Blick der Anderen, der als wesentlicher Teil der Beschämung beschrieben wird« (Schoneville 2017, S. 34).

Nicht zuletzt in Bildungsbelangen wird dies deutlich: Familien mit kleinen Einkommen haben geringere finanzielle Möglichkeiten, Kinder auf ihrem Bildungsweg zu fördern. Ihre Betreuungsquoten in Einrichtungen institutionalisierter Kindertagesbetreuung sind niedriger (vgl. z.B. Jessen et al. 2018). Ein Teil der Eltern, die sich z.B. kostenpflichtige Ausflüge nicht leisten können, lässt seine Kinder eher zu Hause, anstatt anderweitige Finanzierungsmöglichkeiten mit der Einrichtung zu besprechen. Auch Angebote der Familienbildung oder kostenpflichtige Freizeitaktivitäten werden von Kindern mit Eltern in einer angespannten wirtschaftlichen Situation deutlich weniger wahrgenommen (vgl. BMFSFJ 2018).

Armutsbedrohte Familien fördern: Politische Aktivitäten

Um gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Familien einen umfassenden Zugang zu früher Bildung und Förderung zu gewährleisten, ist neben einem bedarfsgerechten quantitativen Angebot insbesondere eine hohe Qualität in Familienbildung und Kindertagesbetreuung erforderlich. In diesem Kontext sollte den sozialräumlichen Bedingungen für Familien vor Ort besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Auf diese Anforderungen wird inzwischen mit verschiedenen Programmen auf Bundes- und Landesebene sowie von kommunalen Initiativen reagiert. Diese zielen auf die direkte Verbesserung der Teilhabechancen von Kindern, z.B. durch die Förderung besserer Übergänge in die Kindertagesbetreuung. Auch geht es um eine noch stärkere Sensibilisierung der Fachkräfte für die Bedeutung einer familienbezogenen Infrastruktur sowie um den Erwerb von Kompetenzen hinsichtlich des Aufbaus und der Verstetigung von Netzwerken im Umfeld der Einrichtungen. Beispielhaft hierfür lässt sich das vom BMFSFJ initiierte ESF-Bundesprogramm »Elternchance II – Familien früh für Bildung gewinnen« (2015–2020) nennen: Hier werden Fachkräfte aus (Früh-)Pädagogik und Familienbildung zum/r Elternbegleiter/in qualifiziert, die Familien in Fragen früher Bildung und Förderung unterstützen und dabei die sozialräumliche Einbettung der Familien fördern.

Auch das Bundesmodellprogramm »Starke Netzwerke Elternbegleitung für geflüchtete Familien« mit dem spezifischen Anliegen der Bildungsintegration von neu zugewanderten und geflüchteten Familien zielt auf die Vernetzung von Einrichtungen im Sozialraum (vgl. Holland/ Correll/Lepperhoff 2018), z.B. darüber, dass ein Familienbildungszentrum mit »verschiedensten Beratungsstellen, Flüchtlingshilfen, Bezirksämtern, dem Jobcenter, dem Jugendamt«1 zusammenarbeitet. Dadurch sollen sich langfristig Bildungsräume vor Ort entwickeln bzw. verfestigen, in denen auch Familien angesprochen werden, die bislang zu wenig erreicht wurden.

Fachkräfte als Brückenbauer/innen im Sozialraum

Zur Unterstützung von Familien mit kleinem Einkommen lassen sich für Fachkräfte aus Kindertagesbetreuung und Familienbildung drei Handlungsfelder identifizieren:
  1. Fachkräfte können erstens Informationen zu familienpolitischen Leistungen im Bereich frühkindlicher Bildung und sozialer Teilhabe an Familien weitergeben und damit die sozialen Rechte von Familien stärken. So zeigen bspw. Studien zur (Nicht-)Inanspruchnahme einzelner familienbezogener Leistungen, wie z.B. dem Bildungs- und Teilhabepaket, dass Informationsdefizite gerade dann behoben werden können, wenn Auskünfte aus Einrichtungen kommen, mit denen die Familien in einer alltäglichen und vertrauten Beziehung stehen (vgl. z.B. SOFI 2016, S. 24). Institutionen wie Kindertageseinrichtungen, Grundschulen, Einrichtungen der Familienbildung und Sozialen Diensten kommt hierbei ein besonders hoher Stellenwert zu.
  2. Zweitens übernehmen Fachkräfte eine Lotsenfunktion und können Familien auf Angebote und Einrichtungen in ihrem Sozialraum aufmerksam machen. Dies ist wichtig, erzählt eine Koordinatorin in der Familienbildung, da Eltern mit einer »Fülle an Problemlagen« konfrontiert sind. Vernetzte Fachkräfte können dann helfen, weil sie wissen, welche Stellen erfolgreich arbeiten und welche Ansprechpartner/ innen besonders hilfreich sind.
  3. Pädagogische Fachkräfte wissen drittens aus ihrer Praxis, dass es wichtig ist, wertschätzend, nicht-stigmatisierend und kreativ zu arbeiten, um Brücken für Eltern zu bauen. Eine Kita-Leitung berichtet von einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern: »Bei ihr wuchsen die Schulden auf dem Essensgeldkonto. […] Und da musste ich sehr sensibel mit umgehen, dass sie dann […] einen Wohngeldantrag stellen konnte, dadurch einen Anspruch hatte auf Bildung und Teilhabe. […] Als sie dann mit dem Träger eine Ratenzahlungsvereinbarung treffen konnte, […] war […] große Erleichterung da.«

Insgesamt entwickeln Fachkräfte vielfach passgenaue Lösungen innerhalb ihrer Einrichtungen, z.B. eine »Gemeinschaftskasse für Eltern, die nicht gut betucht sind, […] wo Eltern für andere Eltern […] einzahlen.« Oder es werden Spielepools, Ausleihstationen und Tauschbörsen organisiert.

Andere verzichten beispielsweise generell auf kostenpflichtige Zusatzangebote in ihren Einrichtungen. Fachkräfte versuchen Eltern nicht zuletzt zu ermutigen, selbst Lösungen zu finden. So berichtet die Leiterin einer Kindertagesstätte, dass sie davon erzählt, »wie toll es im Wald ist« und damit auf gute kostenfreie Ausflugsmöglichkeiten aufmerksam macht.

Fazit

Kinder brauchen vielfältige Unterstützungs- und Bildungsangebote auch jenseits ihrer Herkunftsfamilie. Für den Abbau ungleicher Bildungschancen gilt es somit nicht nur, »das jeweilige Kind, sondern vor allem auch […] sein Umfeld fit« zu machen (Lanfranchi 2006, S. 128). Gerade in der Phase frühkindlicher Förderung bedarf es deshalb einer kontinuierlichen sozialräumlichen Einbindung von Familien.

Literatur

  • Andresen, S./Galic, D. (2015): Kinder. Armut. Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. BMFSFJ (Hrsg.) (2018): Familien mit kleinen Einkommen. Handreichung für Elternbegleiterinnen und Elternbegleiter. Berlin: BMFSFJ.
  • Deinet, U. (2011): Der sozialräumliche Blick auf Kinder und Kindertageseinrichtungen. In: Robert, G. /Pfeifer, K./Drößler, T. (Hrsg.): Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 291–310.
  • Heintze, I. (2019): Sozialraumorientierung. In: Gottschalk, I. (Hrsg.): VSOP-Kursbuch. Sozialplanung. Wiesbaden: Springer VS, S. 39–52.
  • Hinte, W. (2009): Eigensinn und Lebensraum. Zum Stand der Diskussion um das Fachkonzept »Sozialraumorientierung«. In: VHN, 78. Jg. H. 1, S. 223–237.
  • Hinte, W./Treeß, H. (2014): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. 3. Aufl. Weinheim: Juventa.
  • Holland, S./Correll, L./Lepperhoff, J. (2018): »Hinhören, da sein, ins Gespräch kommen«. Erste Erfahrungen aus dem Bundesmodellprogramm »Starke Netzwerke Elternbegleitung für geflüchtete Familien«. Berlin: BMFSFJ. URL: www.elternchance.de/service/links-downloads/ (Zugriff am 02.01.2020).
  • ISS (Hrsg.) (2012): Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland. 15 Jahre AWO-ISS-Studie. Frankfurt/M.: ISS.
  • Jessen, J./Schmitz, S./Spieß, C. K./Waights, S. (2018): Kita-Besuch hängt trotz ausgeweitetem Rechtsanspruch noch immer vom Familienhintergrund ab. In: DIW-Wochenbericht, 85. Jg. H. 38, S. 826–835.
  • Lanfranchi, A. (2006): ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. förderung von Kindern bei Migration und Flucht. In: Welter-Enderlin, R./Hildenbrand, B. (Hrsg.): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl Auer, S. 119–138.
  • Quenzel, G./Hurrelmann, K. (Hrsg.) (2019): Handbuch Bildungsarmut. Wiesbaden: Springer VS.
  • Schoneville, H. (2017): Armut und Schamgefühl. In: Sozialmagazin, H. 8, S. 30–39.
  • SOFI (2016): Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Göttingen, Nürnberg: SOFI/ IAB.
  • Tophoven, S./Lietzmann, T./Reiter, S./Wenzig, C. (2017): Armutsmuster in Kindheit und Jugend. Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
  • Walper, S./Müller, D./Liel, C. (2019): Unterstützung von belasteten Eltern bei der Förderung ihrer Kinder: Neue Ansätze der Familienbildung. In: Correll, L./Lepperhoff, J. (Hrsg.): Teilhabe durch frühe Bildung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 182–195.

Fußnoten
  • 1 Die nicht spezifisch gekennzeichneten Zitate entstammen Interviews der wissenschaftlichen Begleitforschung (2019), die im Rahmen des ESF-Bundesprogramms »Elternchance II – Familien früh für Bildung gewinnen« mit zu Elternbegleiter/innen qualifizierten Fachkräften aus Familienbildung und Kindertagesbetreuung geführt wurden.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
KiTa Aktuell ND3-2020, S. 64-65


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