Die Fährte des Lernens

Die Reggio-PädagogikReggio-Pädagogik|||||Die Reggio-Pädagogik ist ein reformpädagogisches  Gesamtkonzept von Ideen und Praxisstrukturen, die seit den 1960 er Jahren in der Norditalienischen Stadt Reggionell`Emilia in Krippen und Kindergärten entwickelt wurde. Dem Konzept liegt ein humanistisches Menschenbild und eine demokratische Gesellschaftsvorstellung inne. weiß: Wenn Kinder ihren Forscherdrang ausleben und neue Dinge entdecken, gehört das Zeigen unbedingt dazu. Denn in ihren Aussagen, auf Bildern oder im Rollenspiel werden Lernprozesse sichtbar. Und das ist pures Gold für Fachkräfte. Warum? Weil man aus diesen Spuren herauslesen kann, wie Kinder sich die Welt erschließen.

Guck mal, der kleine Vogel da!“ – „Schau, Marie Bild gemalt!“ – „Guck mal, ein Aua!“: Unzählige Themen und Situationen in der Kita sind damit verbunden, dass Kinder uns etwas zeigen wollen. Damit wollen sie aufmerksam machen auf …
  • Entdeckungen
  • Besonderheiten
  • neu erworbenes Können
  • die Bewunderung anderer
  • ihre Wünsche nach Beachtung und Anerkennung
  • das Bedürfnis nach Hilfe
Kinder zeigen nonverbal mit ausgestrecktem Arm und Finger oder auch verbal etwa mit Wortverbindungen, die mit „Guck mal“ oder „Schau mal“ beginnen. Sie können auch im Rollenspiel, im Gesprochenen oder auf Bildern zeigen, was für sie bedeutungsvoll ist. Dafür nutzen Kinder ihre verfügbaren hundert Sprachen, wie es der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi in seinem Gedicht „Die hundert Sprachen des Kindes“ deutlich gemacht hat.

Das Zeigen gehört wie das Experimentieren oder das Forschen, das ästhetische Gestalten sowie das Kommunizieren und die Suche nach körperlicher Nähe zu den elementaren Aktivitätsformen von Kindern. Im Zeigen bauen Kinder Beziehungen und Netzwerke auf: zwischen sich als Person, dem Gegenstand des Interesses und anderen Menschen, Kindern wie Erwachsenen. Diese Netzwerke sind bedeutungsgeladen, weil Kinder sich in ihnen mit einem Gegenstand in Beziehung setzen und ihn mit Interesse, einem Wert oder einer Bedeutung versehen.
Das ist überwiegend ein sozialer Vorgang, weil Kinder andere Personen, etwa ihre Freunde, ihre Erzieherin oder Mama und Papa in dieses Bedeutungsnetzwerk miteinbeziehen wollen. Oft sind Kinder erst dann wirklich zufrieden und glücklich, wenn andere Menschen, vor allem aber ihre Bezugspersonen, ihre Entdeckung oder ihr Werk genauso wichtig finden wie sie selbst.

Wie wird das Thema Zeigen nun aber in der Fachwissenschaft eingeordnet und reflektiert?

1. Zeigen als didaktische Geste: In der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion spielt die Kategorie Zeigen eine eher untergeordnete Rolle. Es bezieht sich, wie der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange verdeutlicht, vor allem auf das Zeigen der Pädagogin. Und nimmt hierbei insbesondere die schulische Lehrkraft in den Fokus. Sie verfügt über einen Zeigestock, eine Tafel, ein Whiteboard oder einen Bildschirm und kann damit auf Gegenstände, Regeln, Merkwörter, Formeln oder Ähnliches zeigen. Diese sollen die Kinder beachten und sich möglichst einprägen. Zeigende Kinder werden eher selten zum Thema gemacht, und dann vorrangig als solche, die den Auftrag erhalten haben, etwas vorzuführen.

2. Geteilte Aufmerksamkeit – das Dreieck: Die Bildungswissenschaftler Till-Sebastian Idel und Kerstin Rabenstein charakterisieren das Zeigen als eine fundamental menschliche Geste. Ihre Spezifik besteht darin, dass sich Personen nicht nur aufeinander, sondern gemeinsam auf ein Drittes beziehen können. Damit schaffen sie, so Idel und Rabenstein, einen Raum geteilter Aufmerksamkeit, in dem sie ihre jeweils eigene Intentionalität mit der des anderen koordinieren.

3. Dialog und Weltwissen: Die Erziehungswissenschaftlerin Janine Brade thematisiert in ihrer Dissertation das von Kindern selber initiierte Zeigen. In Anschluss an den Verhaltensforscher Michael Tomasello beschreibt Brade, wie Kinder die Muster ihrer Interaktion zusammen mit ihren Bezugspersonen entwickeln. Als Neugeborene verfügen sie noch nicht über verbale Kommunikationspraktiken. Stattdessen haben sie vor allem ein hohes Interesse an dynamischen, körperbezogenen Signalen, die von ihren engsten Bezugspersonen ausgehen. Durch deren Bereitschaft, zuzuhören und kindliche Interaktionsformen zu beantworten, erfolgt ein früher Beitrag zum Aufbau einer Konversation zwischen Kindern und Erwachsenen mit dialogischen Elementen. Die Erwachsenen wecken, wie es Brade sagt, Aufmerksamkeit und reagieren auf Äußerungen des Kindes.

In die Kind-Erwachsenen-Dialoge wird zunehmend auch das Zeigen einbezogen. Dies geschieht nach Tomasello im letzten Drittel des ersten Lebensjahres. Der Anthropologe spricht hierbei von der Neunmonatsrevolution. Jetzt erweitert sich die Kommunikation auf beobachtete Gegenstände, die das Interesse von einem der Interaktionspartner erregen. Mithilfe des Mediums Zeigen möchte er dieses Interesse auf den anderen ausdehnen. Es entsteht, wie es Brade formuliert, ein Interessendreieck von Kind, Bezugsperson und Gegenstand. Ein zentrales Element sozialer Interaktion und zugleich eine Strategie der Welterkundung sind damit entstanden.

Die entscheidende Gelenkstelle ist dabei das Zeigen. Mit ihm entsteht „geteilte Aufmerksamkeit“, wie es schon vor rund neunzig Jahren der russische Sozialpsychologe und Philosoph Lew Wygotski als Element des Hineinwachsens in die Kultur sehr treffend charakterisiert hat. Beginnend mit dem Ende des ersten Lebensjahres bauen Kinder mit anderen Kindern wie mit Erwachsenen Interessengemeinschaften auf, wenn sie auf etwas weisen, das ihnen wichtig ist. Damit konstruieren sie Hotspots und Zonen von Bedeutungen und Beziehungen. Neues und Vertrautes werden miteinander verzahnt. So erweitern Kinder ihr Weltwissen und den Umgang mit den Dingen ihres Erlebnishorizonts. Dabei sind sie selbstbewusste und eigenständige Akteure. Mit dem Zeigen – „Schau mal, wie toll die Schnecke sich bewegt“ oder „Guck dir mal den schönen Stein an“ – vollziehen Kinder Lern-Handlungen. Diese tragen, wie die Bildungswissenschaftlerin Jana Trumann hervorhebt, zur „selbsttätigen Aneignung, zur Ausweitung und Differenzierung der eigenen Handlungsmöglichkeiten und somit zu einer erweiterten Verfügung von Welt, also zu gesellschaftlicher Partizipation bei“.

Reggio: eine Pädagogik des Zeigens auf zwei Ebenen

Vor allem in der Reggio-Pädagogik ist eine solch frühkindliche Handlungspraxis für das kindliche Lernen von zentraler Bedeutung. Die Reggio-Pädagogik wird zu Recht als eine Pädagogik des Zuhörens bezeichnet, ist aber gleichermaßen auch eine Pädagogik des Zeigens. Sie sieht in den Kindern die eigentlichen Protagonisten des Lernens. Kinder sind Entdecker, Forscherinnen und Künstler, die Gegenstände und Themen ihres eigenen Interesses entdecken und an ihnen mit Energie und Intensität forschen. Und sie drücken ihre Forschungsprozesse in Bildern, in dreidimensional gestalteten oder gebauten Objekten, in Spielen, Rollenspielen, in Gesprochenem, Gesungenem und weiteren medialen Formen aus. Damit äußern sich Kinder in den vielfältigsten Formen des Zeigens. Es wird als ein zusammenhängender Prozess von Entdecken, Bedeutungszuweisung, Kommunikation und Herstellen von sozialen Bezügen in Interessengemeinschaften gesehen. Damit ist das Zeigen wesentlich für den Erfolg von Projekten in der Reggio-Pädagogik.

Die Reggio-Pädagogik greift dabei den Vorgang des Zeigens auf zwei unterschiedlichen Ebenen auf: Zum einen wird das Zeigen der Kinder als zentraler Bestandteil des kindlichen Forschens – vor allem in Projekten – gesehen. Zum anderen gehört das dokumentierende Zeigen zu den wichtigen pädagogischen Handlungen einer Fachkraft.

Mit dem dokumentierenden Zeigen können Fachkräfte die Handlungsprozesse der Kinder sichtbar machen: Es werden Fotos gemacht, Kinderaussagen festgehalten, Zeichnungen, Bilder und andere Produkte der Kinder gesammelt. Eine Auswahl davon wird anschließend ausgestellt und gezeigt. Damit hält die Kita Entdeckungen, Forschungen und das Lernen der Kinder fest und macht sie einsehbar. Eltern, die pädagogischen Fachkräfte und die Kinder selber können über das Hier und Jetzt der dokumentierten Aktion hinaus anschauen, wie sie etwas entdeckt, anderen gezeigt und in kleine Forschungsprojekte einbezogen haben.

Solche Aktionen hinterlassen nachhaltige Spuren. Und diese werden zu Erinnerungen, die selber wieder gezeigt werden können. Dokumentationen erreichen, dass die Forschungs- und Lernerlebnisse der Kinder nicht nur einmalige und schnell vergessene Momente bleiben, sondern dass sie beim Betrachten wieder lebendig und zum Gegenstand von Reflexion und Kommunikation werden.

Die Adressaten von Dokumentationen sind zunächst die Kinder selbst; denn sie wollen, ohne sich das meist selber bewusst zu machen, Erinnerungsspuren von dem schaffen, was sie erlebt, bewerkstelligt oder sich vorgestellt haben. Und sie können Stolz entwickeln, weil sie etwas entdeckt und herausgefunden haben und andere damit begeistern konnten. Sie appellieren damit an die Aufmerksamkeit anderer Kinder und möchten sie für ihre Entdeckungen interessieren, zum Beispiel für eine riesige Schnecke oder eine gemalte Schnecke.

Erwachsene, Eltern wie pädagogische Fachkräfte, können an den Dokumentationen ablesen, wie Kinder sich die Welt erschließen und in gemeinsamen Handlungsprozessen lernen. Für pädagogische Fachkräfte ist es außerdem möglich, in den dokumentierten Prozessen außerdem Schlüssel für das Verstehen des einzelnen Kindes sowie Anhaltspunkte dafür zu finden, wie sie ihm passende Impulse in seiner Entwicklung geben können.

Nicht nur Kinder zeigen etwas – auch Fachkräfte tun das

Die Reggio-Pädagogik erweitert die Dimensionen des Zeigens: Nicht nur Kinder zeigen das, was ihnen besonders wichtig ist, sondern ebenso die pädagogischen Fachkräfte. Themen, die sie für andere sichtbar machen wollen, können sein:
  • die Einmaligkeit und oft bewundernswerte Vielfalt der Eigenschaften der Kinder
  • die gemeinsamen, aber auch individuellen Erlebnisse der Kinder
  • die Erfolge der Kinder beim Forschen, Entdecken und Gestalten der unterschiedlichsten Alltagssituationen vom Anziehen der Schuhe bis zum Übernehmen von ungewohnten Rollen im Rollenspiel
  • das Team und alle Personen, die in der Einrichtung die zahlreichen Aufgaben übernehmen
  • Räume und ihre Veränderungen
  • Rituale und Stationen im Tages- und Jahresablauf
  • Schönes, das gefunden oder von den Kindern hergestellt wurde

Der Vielfalt der Themen, Gegenstände und auch Akteure des Zeigens entsprechen in der Reggio-Pädagogik auch die Formen des Zeigens. Sie reichen von PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. s über kleine oder große Formate von Karten, Tafeln (drinnen und draußen) bis hin zu Heften, Ordnern und Büchern. Wanddokumentationen sind besonders charakteristisch für Reggio, die sogenannten sprechenden Wände. Mit der Fülle der Funktionen, Formen und der Akteure des Zeigens wächst natürlich auch die pädagogische Bedeutung des Zeigens:
  1. Das Zeigen gibt jedem Kind die Chance, sich als Person, als Träger von Kompetenzen, Wünschen, Erinnerungen, aber auch von Ängsten oder von Wut zu artikulieren. Das ist ein Moment, das die Entfaltung von Selbstkompetenz, das Zu-sich-selber-Stehen und das Stolz-auf-sich-Sein, vorantreibt.
  2. Das Zeigen ist zugleich ein zutiefst soziales Tun: Das Kind braucht dafür Adressaten, es will anderen etwas zeigen, was ihm wichtig ist. Das kann ein durchaus intimer Vorgang sein: Ich will dir etwas zeigen, aber nur dir. Aber es kann auch ein Akt sein, in dem Gemeinschaft und Öffentlichkeit wichtig sind: Ich habe etwas, das ich euch allen zeigen und mitteilen möchte.
  3. Das Zeigen hat eine aktive, produktive Seite. Es bedarf eines oft mutigen Akteurs, aber es erwartet auch einen Zuschauer und Zuhörer, der sowohl eine kontemplative, vielleicht sogar versunkene, als auch eine aktive Haltung einnehmen kann.
  4. Das Zeigen ist der reggianischen Idee der hundert Sprachen verpflichtet. Zeigen kann sprachliche, visuelle, auditive, taktile, motorische, dramaturgische sowie musikalische und weitere Elemente enthalten und zudem miteinander verbinden.
  5. Das Zeigen kann sich auf die verschiedensten Personen und Gegenstände beziehen, auf Kinder, Eltern, pädagogische Fachkräfte, interessierte Externe. In gleicher Weise auf von Kindern Geschaffenes, Gefundenes, Verändertes.
Das Zeigen durchzieht die pädagogische Praxis in der Kita. Kinder, Fachkräfte und Eltern können Akteure oder Adressaten des Zeigens sein. Wenn es von den pädagogischen Fachkräften bewusst und mit Fantasie eingesetzt wird, erweitert es das professionelle Handlungsrepertoire in der Kindertageseinrichtung.


LITERATUR
  • BRADE, JANINE (2009): Das Zeigen in der Pädagogik. Eine Untersuchung zur Logik des Zeigens als Grundoperation des
  • professionellen pädagogischen Handelns. Dissertation TU Chemnitz.
  • KNAUF, TASSILO (2017): Reggio. Berlin: Cornelsen.
  • TOMASELLO, MICHAEL (2006): Die kulturelle Entwicklung menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 6-2021, S. 16-19




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