118 0043 152495 xlIm Marshmallow-Test werden Kinder vor die Wahl gestellt: Entweder den Marshmallow vor sich sofort zu essen oder eine bestimmte Zeit zu warten, um dann zwei zu bekommen. Noch heute sorgen die Filmaufnahmen dieses Tests auf elementarpädagogischen Tagungen und Kongressen regelmäßig für Erheiterung: Zu faszinierend sind die Szenen, in denen Kinder sich mit Hilfe aller möglichen Strategien und Ablenkungsmanöver von der schier übermächtigen süßen Versuchung abzulenken zu versuchen oder Tricks erfinden, um schon sofort zu naschen und trotzdem später noch die Belohnung zu bekommen (s.a. den Linktipp unten).


Der Marshmallow-Test ist wohl einer der berühmtesten in der Psychologie und sein Vater ist der 1930 in Wien geborene und in den Vereinigten Staaten aufgewachsene Psychologe Walter Mischel. Er konnte zu seiner eigenen großen Überraschung nachweisen, dass die Entscheidung von 4-5 jährigen Kinder entweder auf die Belohnung zu warten oder den einen Marshmallow sofort zu essen, weit reichende Vorhersagen zu ihrem zukünftigen Leben ermöglichten: So schnitten die „Belohnungsaufschieber" später bei Studierfähigkeitstests besser ab, ihre sozialen und kognitiven Kompetenzen wurden höher eingestuft und sie waren als Erwachsene gesünder und weniger suchtanfällig.


In seinem Buch „Der Marshmallow-Test" erzählt Walter Mischel von der faszinierenden Geschichte und den Implikationen dieses in den 60er Jahren erstmals durchgeführten Tests und verbindet dies mit grundlegenden Ausführungen zur Entwicklung der Persönlichkeit. Er unterstreicht: „Die Chance überhaupt eine stabile, zufriedene Persönlichkeit zu entwickeln, haben wir nur dann, wenn wir die Fähigkeit zur Selbstkontrolle haben." Die Fähigkeit zum selbst erlegten Belohnungsaufschub stuft er als wichtigen Teil der Reifung unserer Persönlichkeit und auch zur Umsetzung von Begabungen in Leistung ein. Sie sei eine kognitive Kompetenz, die man erwerben kann und die in Ansätzen schon bei Kleinkindern unter drei Jahren sichtbar werde. Die Erfahrungen des Kindes in den ersten sechs Lebensjahren bildeten die entscheidende Grundlage dafür, „Impulse zu regulieren, Selbstbeherrschung zu üben, den Ausdruck von Emotionen zu kontrollieren und Empathie, Achtsamkeit sowie Gewissen zu entwickeln."

 

Vertrauen und Selbstwirksamkeit als zentrale Faktoren

 

Mischel betont, dass die Bereitschaft zum Belohnungsaufschub stark vom Faktor Vertrauen und damit auch von den frühen Bindungserfahrungen abhänge - nur wenn ich sicher sein kann, dass ich die versprochene Belohnung auch bekomme, lohnt es sich zu warten. Im Hinblick auf die Erziehung sei es förderlich, die Kinder in ihrer Autonomie zu unterstützen und sie darin zu stärken, selbständig Probleme zu lösen. So könne die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ermöglicht und die Überzeugung des „Ich schaff das" gefördert werden. Ein übermäßig kontrollierender Erziehungsstil untergrabe dagegen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle der Kinder.


Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt


Die Entwicklung der Persönlichkeit beschreibt Michel grundsätzlich als ein Wechselspiel zwischen unseren Genen und unserer Umwelt. Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung und der Genetik belegten dabei, wie formbar das menschliche Gehirn sei und dass eine genetische Prädisposition noch lange keine Prädetermination bedeute. Die Herausforderung bestehe darin, „die Bedingungen und Mechanismen zu identifizieren, die Veränderung ermöglichen."


Im Hinblick auf die Frage der Selbstkontrolle bzw. der Selbstregulation stellt Mischel zwei eng miteinander verwobene Systeme des menschlichen Gehirns in das Zentrum seiner Betrachtungen. Das eine, im primitiveren limbischen Bereich des Gehirns angesiedelte System ist demnach „heiß" und agiert emotional, reflexgesteuert und unbewusst. Das andere, „kühle" System ist im präfrontalen Cortex angesiedelt und agiert kognitiv, reflektierend und langsamer. Das kühle System entwickele sich langsamer als das heiße und werde erst in den Vorschul- und Grundschuljahren allmählich aktiver.

 

Wie gelingt Selbstkontrolle?


Neben der grundsätzlichen Bedeutung von Vertrauen, sicherer Bindung und Selbstwirksamkeitserfahrung führt Mischel in seinem Buch auch dezidierte Strategien aus, wie Selbstkontrolle verbessert werden kann. So sei die Wirkung eines Reizes entscheidend davon abhängig, wie wir ihn mental repräsentieren. Gelänge es, den Reiz „abzukühlen", zu abstrahieren und anders zu bewerten - zum Beispiel, indem ich das Objekt der Begierde gedanklich mit einem Bilderrahmen versehe - steige die Chance der Selbstkontrolle. Effektiv seien auch „Wenn-dann"-Pläne, mit denen man sich auf Situationen der Versuchung vorbereiten könne: „wenn wir beharrlich bleiben, wird die Belohnung, die unser neues Verhalten erzeugt, dabei helfen, es beizubehalten. Das neue Verhalten selbst wird anerkannt, es nicht länger eine Last, sondern eine Quelle von Zufriedenheit und Selbstvertrauen."


Wie diese Strategien schon in der frühen Kindheit vermittelt werden können, zeigt Mischel an zwei exemplarischen Beispielen auf: Zum einen an der „Sesamstraße", die in einigen Folgen entsprechende Erkenntnisse der Psychologie und Hirnforschung pädagogisch umgesetzt hat und das Krümelmonster seine Kekssucht (zumindest vorübergehend) bezwingen lässt. Zum anderen am „Knowledge Is Power Program" (KIPP) in New York City, in dem zu 86 Prozent SchülerInnen aus armen Familien und sozialen Minderheiten kommen: „KIPP steht beispielhaft für eine pädagogische Philosophie und für ein Schulsystem, das Forschungsergebnisse in seinen täglichen Lehrplan und das gesamte Lebensumfeld integriert. Es beweist, dass es möglich ist, Selbstkontrolle zu stärken, das Setzen von Zielen zu fördern, realistische Ziele zu erreichen, Neugier anzuregen und Beharrlichkeit zu belohnen, bis das Durchhaltevermögen selbst zu einer Art von Belohnung wird."

 

Spannend wie ein Roman


„Der Marshmallow-Test" ist ein beeindruckendes Buch, das in die Grundprinzipien der Persönlichkeitsentwicklung einführt und dabei neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Genetik berücksichtigt. Selbstkontrolle und Selbstregulation zeigen sich als zentrale und gezielt zu beeinflussende Faktoren eines gelingenden Lebens, auch wenn der Autor zugleich warnt: „Zu viel Selbstkontrolle lässt unser Leben ebenso unerfüllt erscheinen wie zu wenig" - aber erst mit der Fähigkeit zur Selbstkontrolle habe ich die Möglichkeit situativ zu entscheiden. So zeichnet Mischel ein Bild der menschlichen Natur, "das uns potenziell mehr Freiheit und Verantwortung zugesteht als die rein deterministischen wissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts."


Der mittlerweile 85jährige Walter Mischel hat das seltene Talent, fundierte Wissenschaft so locker und so packend wie einen guten Roman zu erzählen und mit persönlichen Anekdoten zu bereichern. Er bietet dabei sowohl eine Fülle von wertvollen Erkenntnissen und Ansätzen für den frühkindlichen Bereich wie auch für jeden veränderungswilligen Erwachsenen.

 

  • Walter Mischel: Der Marshmallow-Test. Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler-Verlag, 400 S., 24,99 Euro

 

Karsten Herrmann

 

Link-Tipps:

 

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