Cover Handbuch KinderkrippeNach dem rasanten quantitativen Ausbau der institutionellen Betreuung unter Dreijähriger muss jetzt die Konzentration auf deren qualitative Entwicklung gelegt werden. Notwendig ist dafür ein fundiertes Wissen zu den Entwicklungsbedürfnissen der Kleinen und Kleinsten sowie eine entsprechende Ausrichtung der pädagogischen Praxis in Krippe und altersgemischten Gruppen.

Wertvolle Unterstützung bietet hierfür das „Handbuch Kinderkrippe“ des Autoren-Trios Fabienne Becker-Stoll, Renate Niesel und Monika Werftein vom Institut für Staatspädagogik in München.

 

Das Bild vom Kind

Entsprechend den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen wird das Kind in diesem Buch als „Akteur seiner eigenen Entwicklung“ vorgestellt. Auf Grundlage eines angeborenen „Kernwissens“ sei es von den ersten Lebensmonaten an in der Lage, die Welt geordnet wahrzunehmen und zu konzeptualisieren: „Sie [Kinder] fertigen nicht einfach eine Kopie der Wirklichkeit an, sondern erzeugen durch eigene Konstruktionen Realität, erschaffen sich ihre Welt“. Das (Ko-) Konstruieren und Lernen der Kleinsten erfolge dabei mit allen Sinnen und vor allem durch das unmittelbare Erleben: „Frühkindliches Lernen findet dann statt, wenn das Kind selbst erkundet, handelt, erfährt, begreift, mit möglichst vielen beteiligten Sinnen und in emotionaler Sicherheit.“

 

Als entscheidend für das Gelingen von Bildungsprozessen in der Krippe markieren die AutorInnen die konkreten Interaktionen zwischen PädagogInnen und Kindern und damit die Prozessqualität einer Einrichtung. Hier komme es auf die Kompetenz der Fachkraft an, „Interaktionen individuell abgestimmt auf das einzelne Kind zu gestalten, ohne dabei das Gruppengeschehen aus dem Auge zu verlieren“. Notwendig seien dafür eine hohe individuelle Beziehungsqualität, professionelle Responsivität und eine gute Organisation der Lernsituation.

 

Bindung und Eingewöhnung in der Krippe

Als unabdingbare Grundlage für Bildungsprozesse in der Krippe heben Becker-Stoll und ihre KollegInnen jedoch zunächst eine gelungene Eingewöhnung hervor. Ausführlich widmen sie sich dem Thema der Bindung und der Exploration, die sich in einem stetigen Wechselspiel befinden. Exploration wird dabei als jegliche aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt verstanden und stellt die verhaltensbiologische Grundlage des Lernens dar. Doch: „Ein Kind kann nur dann Explorationsverhalten zeigen, wenn sein Bindungsverhaltenssystem beruhigt ist“. Die primäre Bindung des Kindes – in der Regel zur Mutter oder zum Vater - werde dabei in drei Phasen innerhalb der ersten neun Lebensmonate vom Kind aus entwickelt. Ab einem Alter von 8 Monaten könnten dann auch weitere, nachgeordnete Bindungen über die Mutter hinaus eingegangen werden – zum Beispiel zur pädagogischen Fachkraft. Voraussetzung dafür sei allerdings „eine individuelle Eingewöhnung, in der Eltern, das Kind und die Erzieherin den Übergang gemeinsam gestalten und bewältigen“. Als erprobte Modelle dafür führen die AutorInnen das „Berliner Eingewöhnungsmodell“ und das „Münchener Modell“ an, die sich beide aus den drei Phasen „Kennenlernen“, „Sicherheit“ und „Vertrauen“ aufbauen. Als entwicklungspsychologisch besonders sensible Phase für den Eintritt in die Krippe wird das Alter von 12 – 14 Monaten markiert, da sich hier einerseits die primäre Bindung gefestigt und andererseits die sogenannte Fremdelphase“ begonnen habe. Daher sei hier eine besonders sanfte Eingewöhnung angezeigt.

Grundsätzlich gelte es beim Beziehungsaufbau „die Signale des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren sowie prompt und angemessen darauf zu reagieren.“ Der Aufbau verlässlicher Beziehungen könne auch insbesondere über Pflegesituationen erfolgen, „die von achtsamen, behutsamen Berührungen und handlungsbegleitendem Sprechen geprägt sind“.

 

(Peer-) Interaktionen in der Krippe

Nach dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung rücken für pädagogische Fachkräfte in der Krippe die Explorationsunterstützung und Bildungsbegleitung zunehmend stärker in den Vordergrund. In der Interaktion mit dem Kind, so die AutorInnen, gelte es dabei seinen Entwicklungsstand, seine aktuelle Gefühlslage, den sozio-kulturellen Hintergrund und ggf. auch vorliegende Handicaps zu berücksichtigen. Entwicklungsangemessen seien Interaktionen „dann, wenn sie in die Zone nächster Entwicklung führen“.

Als ein bisher nur wenig beachtetes Thema gehen Becker-Stoll und ihre KollegInnen auch auf die auf Peer-Interaktionen in den ersten Jahren ein. Auch wenn die Beziehungen bei Kindern in den ersten beiden Lebensjahren noch deutlich dyadisch orientiert seien, zeigten sich hier schon „Vorformen bzw. Formen von Gruppenbezügen“. Am Ende des zweiten Lebensjahres seien Kinder dann fähig, sich in der Gruppe hin auf eine gemeinsame (Spiel-) Ziel hin abzustimmen. Wie die AutorInnen betonen, gehört dabei auch Streit zum KiTa-Alltag und sie geben Tipps zum kompetenten Umgang mit Peer-Konflikten. So würden beispielsweise „kontrollierende und aufdringlich dirigierende Erwachsene“ die Konflikte und Auseinandersetzung unter den Kinder verstärken.

Bei aller Bedeutung der (Peer-) Interaktionen und der entsprechenden Entwicklung von sozialer Kompetenz wird aber auch betont, dass gerade bei den Ein- und Zweijährigen das Einzelspiel eine große Bedeutung hat und dass die Krippenkinder auch immer wieder Gelegenheit haben müssen, um zur Ruhe zu kommen und sich zu entspannen.

 

Altersgemischte Gruppen

Besonderes Augenmerk widmen die AutorInnen den altersgemischten Gruppen und warnen: „Es ist keinesfalls damit getan, einzelne Kinder bis drei […] in bestehende Gruppen ‚einzumischen‘ oder vereinzelte Zweijährige ‚mitlaufen‘ zu lassen“. Sie verweisen auf Ergebnisse der NUBBEK-Studie, nach denen Zweijährige Kinder in altersgemischten Gruppen eine niedrigere Prozessqualität erfahren als Kinder in altershomogenen Kindergarten- oder Krippengruppen. Um das entwicklungsfördernde Potenzial von altersgemischten Gruppen wirksam werden zu lassen, seien gute Planung, Rahmenbedingungen und Qualifizierungen notwendig. Die wichtigsten Aspekte und Fragen werden daher in diesem Buch auch in einem „Leitfaden“ zusammengestellt.

 

Pädagogische Qualität prüfen, sichern und weiterentwickeln

Zum Abschluss beleuchten Becker-Stoll und ihre Kolleginnen noch das große Thema der Qualität und Qualitätsentwicklung in der KiTa. Zunächst stellen sie aktuelle Studienergebnisse (NUBBEK, Münchener Krippenstudie) vor, in denen Krippen und altersgemischten Gruppen zu über 80 Prozent nur eine mittlere Qualität bescheinigt wird. Dies ist einerseits natürlich auf die gegebenen und oftmals grenzwertigen Rahmenbedingungen wie den Personalschlüssel zurückzuführen. Andererseits ist aber auch die professionelle Haltung und Arbeit der pädagogischen Fachkraft mitentscheidend für die Prozessqualität und diese fällt der NUBBEK-Studie zufolge beispielsweise auch tendenziell besser aus, „je mehr die Fachkraft einen auf Autonomie und Individualität ausgerichteten Erziehungsstil hat“. In diesem Sinne zeigen die AutorInnen auch abseits der vorgegebenen Rahmenbedingungen gewichtige Einflussgrößen auf die Qualität in der Krippenarbeit auf, die es durch Fremd- und Selbstevaluation zu überprüfen und zu entwickeln gilt. Einrichtungen bräuchten dabei „ein individuell auf ihre Stärken und Unterstützungsbedarfe abgestimmtes, passgenaues Angebot, dass prozessbegleitend umgesetzt wird.“ Dieses müsse ressourcen- und lösungsorientiert sein und das gesamte Team mit einbeziehen.

 

Fazit

In prägnanter Weise verbindet das Krippenhandbuch aktuelle entwicklungspsychologische und neurobiologische Erkenntnisse zu den ersten Jahren mit dem pädagogischen Alltag in der Krippe bzw. in altersgemischten Gruppen. Das Buch kann pädagogischen Fachkräften gleichermaßen dazu dienen, sich umfassendes Grundlagenwissen zur Arbeit mit Kindern unter drei anzueignen oder auch spezielle Aspekte gezielt nachzuschlagen. Die auch für sich stehenden Kapitel sind dafür auch mit konkreten Hinweisen zu den Aufgaben der pädagogischen Fachkraft sowie kommentierten Literaturhinweisen versehen. Sehr deutlich wird im „Krippenhandbuch“ abseits von Frühförderwahn und ideologischen Debatten herausgearbeitet, worauf es bei der Tagesbetreuung der Kleinsten und Kleinen wirklich ankommt und welche Kompetenzen die pädagogischen Fachkräfte dafür brauchen.

 

Karsten Herrmann

 

  • Fabienne Becker-Stoll / Renate Niesel / Monika Werftein: Handbuch Kinderkrippe. So gelingt Qualität in der Tagesbetreuung. Herder, 232 S., 24,90 Euro

 

Tipp:

Zahlreiche Fachbeiträge rund um das Thema Arbeiten mit Kindern unter drei finden Sie auch hier in unserem Themenschwerpunkt Krippe