Bereits seit dem März 2003 ist das von Heidi Keller herausgegebene Handbuch der Kleinkindforschung nun in der dritten , verjüngten und ergänzten Auflage auf dem Markt. In einzigartiger Weise konnte dieses Handbuch in den ersten zwei Auflagen (1989, 1997) vielfältige Perspektiven und Ansätze der empirischen Arbeit im Zusammenhang mit diesem Lebensabschnitt bündeln und entwickelte sich darum schnell zum Standardwerk.

 

Beim ersten Kontakt mit der dritten Auflage vermögen bereits die Dimensionen des Buches zu beeindrucken: 35 Beiträge, gegliedert in 6 sechs Abschnitte auf insgesamt 1305 Seiten, wobei sich der Seitenumfang um knapp 500 Seiten gegenüber der 2. Auflage erweitert hat. Dabei wurden sowohl etablierte Beiträge korrigiert und aktualisiert als auch aktuelle Trends und Forschungsergebnisse neu aufgegriffen, so dass neben einer Verjüngung auch eine Ergänzung gelungen ist.


Neu sind die begriffskonzeptionellen Betrachtungen zur Säuglingszeit in einem zusätzlichen Abschnitt zu Beginn des Buches. Hier werden exemplarisch in zwei neuen Beiträgen eine evolutionäre, eine neurobiologische sowie in einem überarbeiteten zentralen Beitrag der zweiten Auflage eine erkenntnistheoretisch orientierte Perspektive auf die ersten Lebensjahre gerichtet, die den Leser facettenreich in das Thema einstimmen.

 

Der zweite Abschnitt greift in fünf Beiträgen verschiedene „Theoretische Orientierungen auf das Säuglingsalter“ auf und ist mit nun ca. 200 Seiten gegenüber der zweiten Auflage (10 Beiträge, ca. 300 Seiten) deutlich gekürzt. Es wurden vier etablierte Beiträge (evolutionsbiologische, soziobiologische und psychoanalytische Perspektive sowie einem Beitrag zur Bindungsforschung) aufgegriffen und durch einen neuen Beitrag, der moderne kognitive Betrachtungen (der „kompetente Säugling“) referiert, ergänzt. Tatsächlich ist es hier gelungen zu zeigen, „dass es sehr wohl möglich ist, von unterschiedlichen theoretischen Positionen her zu ähnlichen Anschauungen zu kommen, wenn nur Offenheit für die Phänomene vorhanden ist“ (Keller, S. 18). Durch die Verkürzung des Abschnitts ist es gegenüber der älteren Auflage gelungen, eine günstigere Gewichtung dieses Themenkomplexes vorzunehmen.

 

Kulturübergreifende Betrachtungen

 

Der dritte Abschnitt widmet sich explizit der Bedeutung des sozialen und kulturellen Kontextes in der Säuglingszeit. In sieben Beiträgen werden zum Teil kulturübergreifende Betrachtungen spezifischer Umgebungsbedingungen (Familie, Kindheit in Migrantenfamilien, Vaterrollen, Peers, institutionelle Betreuung) angestellt. Schlaglichtartig konnte hier die übergeordnete Entwicklungsaufgabe sozialer Integration und die dabei wirksamen Verschränkungen zwischen genetischer Ausstattung einerseits und der Einflussnahme auf und durch die Umwelt andererseits beleuchtet werden.


Neben tendenziell technischen Betrachtungen (z.B. zur Verhaltensbeobachtung, zur Film- und Videotechnik) geht dann der Abschnitt zu methodologischen und methodischen Ansätzen auf Besonderheiten und Probleme in der Forschung zu diesem Lebensabschnitt ein. Der Beitrag „Beobachtung und Längsschnitt in der Kleinkindforschung“ greift dabei die methodischen Schwächen einfacher Designs im Hinblick auf die komplexen Zusammenhänge von Kontinuität und Veränderungen in der Entwicklung auf, um dann exemplarisch anhand einer komplexen Studie Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Je ein Beitrag zur qualitativen bzw. quantitativen Orientierung in der Forschung mahnen den Leser, dass kein dogmatischdogmatisch|||||Unter einem Dogma versteht man eine (Lehr-)Meinung, die als unumstößlich oder unveränderbar gilt, und dessen Wahrheitsanspruche als gegeben gesehen wird. Dieser Begriff wurde oftmals in der christlichen Theologie verwendet.

es „entweder-oder“, sondern nur eine je nach Forschungsgegenstand abgewogene Auswahl eines oder mehrerer Ansätze den komplexen Fragestellungen der Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre gerecht werden kann.

 

Der fünfte Abschnitt ist dann spezifischen Entwicklungsbereichen gewidmet. So findet sich hier in sieben Beiträgen mit der Motorik, der Wahrnehmung, dem Gedächtnis, der sozioemotionalen Entwicklung, dem Temperament, der (vorsprachlichen) stimmlichen Kommunikation im Säuglingsalter sowie einer Abhandlung zur Entwicklung der Musikalität eine Zusammenstellung von Themen, in der sowohl zentrale inhaltliche Bereiche als auch exemplarisch ein in der Literatur eher peripherer Bereich der Entwicklungspsychologie der frühen Jahre aufgegriffen werden.

 

Der letzte Abschnitt schließlich widmet sich anwendungsbezogenen Themen. Hier werden in acht Beiträgen diagnostische Bereiche (Früh-, Entwicklungs-, Interaktionsdiagnostik) neben spezifischen klinischen Problemen (exzessives Schreien, Bindung in der angepassten und fehlangepassten Entwicklung) erörtert, ein gesundheitswissenschaftlicher Exkurs (Schwangerschaft und Geburt) unternommen sowie in einem Beispiel die Umsetzung entwicklungspsychopathologischer Ansätze für ein Modellprojekt („Babysprechstunde“) erläutert. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt und somit der inhaltliche Teil des Buches mit einem sehr kurzweiligen Essay zum Thema „Bindung und Internet“, der durch Leichtigkeit geprägt die teilweise gedanklich anspruchsvollen Thematiken das Handbuchs ausklingen lässt.

 

Ein weites Feld in Schlaglichtern

 

Wie bereits in den vorherigen Auflagen ist es Heidi Keller auch in der neuen Version des Handbuchs wieder gelungen, Schlaglichter so zu gruppieren, dass beim Leser bei aller Weite des Feldes der Eindruck eines ganzheitlichen Werkes entsteht. Unterstützt wird sie dabei durch eine Riege hervorragender Autoren, die an dieser Stelle nicht in ihrer Gesamtheit genannt werden können, und von denen einzelne hier nicht herausgestellt werden sollen. Im Gegensatz zu einem Lehrbuch erscheint dieses Handbuch nie komplett, was aber auch nicht in der Erwartung des Lesers liegen sollte. Vielmehr können hier vertiefende Einblicke in herausgestellte Aspekte der Kleinkindforschung genommen werden, die in ihrer Gesamtheit und durch ihre Aktualität moderne Sichtweisen und Ansätze interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.er Bestrebungen vermitteln. So finden sich auch die Einzelbeiträge des Handbuchs seit langem als Basisliteratur auf den Lehrplänen psychologischer und pädagogischer Fakultäten und Fachbereiche, da sie in einer gelungenen Abwägung von Umfang, Stil und Inhalt kleine Perlen der anspruchsvolleren Fachliteratur ihres Gebiets darstellen.

 

Gewöhnungsbedürftig erscheint lediglich der durchgängig zweifache Zeilenabstand, der dem Buch durchaus zu ungewöhnlichem Layout verhilft und auch zu einem Teil den gestiegenen Umfang bedingt. Der Einzigartigkeit dieses Bandes tut dies jedoch keinen Abbruch und es bleibt zu erwarten, dass auch die dritte Auflage schnell wieder Aufnahme in die einschlägigen Regale findet.

 

Thorsten Macha

 

  •  Heidi Keller (Hrsg.). (2003). Handbuch der Kleinkindforschung (3., korr., überarb. u. erw. Aufl.). Bern: Huber, 1305 Seiten, € 129.00.
 

Erstpublikation in: Macha, T. (2004). Besprechung H. Keller, Handbuch der Kleinkindforschung (3., korr., überarb. u. erw. Aufl., 2003). Kindheit und Entwicklung, 13, 47-48.) Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Hogrefe-Verlags.