Gerhard Roth zählt zu den wichtigsten Naturwissenschaftlern in Deutschland und ist seit 1976 Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. In seinem neuen Buch „Bildung braucht Persönlichkeit“ beleuchtet er aus neurobiologischer und –psychologischer Sicht die Grundbedingungen für ein besseres Lehren und Lernen und unterzieht dabei auch die gängigen Didaktiken einer kritischen Überprüfung.
Roth vertritt die Grundthese, dass Lehren und Lernen jeweils im Rahmen der Persönlichkeit des Lehrenden und Lernenden geschieht und in diesem Sinne von einer Vielzahl von – bewussten und unbewussten, rationalen und emotionalen - Faktoren abhängt. Die kognitive Entwicklung als Grundlage des Erwerbs von Wissen ist für ihn dabei „aufs Engste mit der emotional-motivationalen Entwicklung verknüpft“.
Sechs neurobilogisch-psychische Grundsysteme
Dezidiert zeigt Gerhard Roth in der Folge die neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung und ihrer zentralen Facetten auf – von den Emotionen und der Motivation über Lernen, Gedächtnisbildung, Aufmerksamkeit, Intelligenz und Sprache bis zur Bedeutung und zum Verstehen. Er stellt sechs neurobiologisch-psychische Grundsysteme vor, die stark von Neurotransmittern wie Adrenalin, Serotonin, Dopamin oder Endorphinen bestimmt werden und das Lernen beeinflussen:
- Stressverarbeitung
- Selbstberuhigung
- Selbstbewertung und Motivation
- Impulskontrolle
- Bindung und Empathie
- Realitätssinn und Risikowahrnehmung
Zentraler Faktor für das Lernen ist aber die Intelligenz, die Roth als „Fähigkeit zum Problemlösen unter Zeitdruck“ definiert und die zu mehr als 50% genetisch bedingt sei. Als die wichtigsten Umweltfaktoren für Intelligenz stellt Roth „eine positive Bindungserfahrung, ein sensorisch und kognitiv stimulierendes frühkindliches Umfeld und die Ermutigung durch die Eltern“ heraus. Eine gezielte fachliche Förderung in den ersten drei Lebensjahren schätzt er dabei als „nutzlos oder sogar schädlich“ ein. Hohe Intelligenz ergibt sich Roth zufolge aus einer hohen „neuronalen Effizienz“, d.h., einer hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit und ökonomischen Nutzung der Großhirnrinde. Eine wichtige Voraussetzung ist hierbei auch der Arbeitsspeicher unseres Hirns, in dem das Neue mit Bekannten abgeglichen und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt wird. Dieser Arbeitsspeicher erweist sich als „Flaschenhals unseres Bewusstseins“, da seine Kapazität eng beschränkt ist und nur 3-5 Arbeits- oder Informationseinheiten gleichzeitig verarbeiten kann.
Verstehen ist immer kontext- und subjektabhängig
Roth unterstreicht, dass jede Wahrnehmung grundsätzlich uneindeutig ist und in einem mühsamen Konstruktionsprozess unseres Gehirns erst vereindeutigt werden muss. Verstehen bedeutet somit nicht mehr als eine „zumindest vorläufige stabile Deutung von Zusammenhängen“ zu erlangen und ist damit „streng subjekt- und kontextabhängig“. In diesem Sinne kann es auch keine direkte wechselseitige Übertragung von Bedeutungen geben – auch wenn zwei Menschen dasselbe sagen, hat es in der Regel noch lange nicht die gleiche Bedeutung!
Roth kritisiert, dass diese gesicherten neuro- bzw. psychobiologischen Erkenntnisse mit ihren weitreichenden Folgen für das Lernen und Lehren bisher wenig oder keinen Eingang in die vorherrschenden Lehr- und Lerntheorien bzw. Didaktiken gefunden hätten – von der kritisch-konstruktiven Didaktik über die Kommunikative und subjektive Didaktik bis zur Lerntheoretischen oder Lernzielorientierten Didaktik. Nur in der Konstruktivistischen Didaktik seien sie ansatzweise berücksichtigt, doch sei diese noch nicht in sich konzise entwickelt und stehe immer in Gefahr des Selbstwiderspruchs. Für überzogen hält Roth allerdings auch Ansätze zu einer eigenen Neuro-Didaktik - vielmehr müssten Psycho-Neurowissenschaftler, Pädagogen-Didaktiker und Praktiker in einer intensiven „Dreiecksbeziehung“ eine neue praxisbezogene Didaktik entwickeln – „wobei der Prüfstein ein empirisch nachgewiesener Lehr- und Lernerfolg“ zu sein habe.
Weniger ist mehr!
Auf Grundlage seiner psycho-neurobiologischen Erkenntnisse spricht sich Gerhard Roth unter anderem für eine Mischung der Unterrichtsformen, fächerübergreifenden Unterricht, größere Unterrichtsblöcke und die Ganztagsschule aus. Grundsätzlich erfordere eine Berücksichtigung der eklatanten Begrenztheit des Arbeitsgedächtnisses nach dem Motto „Weniger ist mehr!“ eine „radikale Reduktion der Unterrichts-Inhalte“ und deren Aufteilung in kleine Portionen mit zwischenzeitlichen Atempausen.
Gerhard Roth hat mit „Bildung braucht Persönlichkeit“ ein Grundlagenwerk für das komplexe Verhältnis von Neurobiologie / -psychologie und dem Lehren und Lernen vorgelegt. Einmal mehr wird dabei deutlich, wie lang und steinig der Weg ist, um neue wissenschaftliche (Grundlagen-) Erkenntnisse in die Bildungs-Praxis zu übersetzen und hier nachhaltig zu etablieren. Nicht zuletzt stehen hier die institutionellen Rahmenbedingungen und curriculaeren Vorgaben insbesondere von Schule oftmals diametral entgegen.
Karsten Herrmann
- Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta, 356 S., 19,90 Euro