Grundsätzlich führt Klaus Kokemoor das „Verstehen“ als wesentliche Grundlage ein, um eine Brücke zu einem anderen Menschen herzustellen, um die Ursachen und zugrunde liegenden Bedürfnisse seines Verhaltens zu erkennen und ihn so anzunehmen, wie er ist. Dieses falle bei einem autistischen Kind besonders schwer, denn „es wirkt wie ein Kind einer anderen Kultur, einer anderen Lebensform“. In diesem Sinne unterstreicht er daher die auch bei der interkulturellen Kompetenz so „fundamentale Bedeutung des Perspektivwechsels“, um die kulturellen Umgangsformen der Nichtbetroffenen zu erfassen und ihnen adäquat zu begegnen.
Schwierigkeiten mit Dialog und Interaktion als Ausgangspunkt
Den Ausgangspunkt des Autismus sieht Klaus Kokemoor in der möglicherweise genetisch bedingten Schwierigkeit des Kindes in den Dialog und die Interaktionen mit den Eltern oder anderen Personen zu treten. Die „Entwicklung des klinischen Gesamtbildes von Autismus“ sei jedoch eine Folgeerscheinung. Im Sinne einer Bewältigungsstrategie erlebe und gestalte das Kind seine eigene Wirklichkeit, eine Welt und ein Selbst, „das den anderen nicht in seine Gedankenwelt einschließt.“ Diese Konzentration auf das eigene Selbst sei eines der deutlichsten Merkmale für den Autismus und sei häufig mit einer fast manischen Fixierung auf Objekte und (visuelle) Regelmäßigkeiten, Strukturen und Rhythmen verbunden. Im Gegensatz zu anderen Kindern werde das autistische Kind so nicht „am Du zum Ich“, sondern „aus der Beziehung zu seinen autistischen Objekten“. Diese ermöglichten dem Kind ein „Konstanzempfinden“ und verschafften ihnen das Gefühl der Kontrolle von Selbst und Welt.Die Schwierigkeiten von autistischen Kindern mit der sozialen Interaktion und Empathie sowie die daraus folgenden Bewältigungsstrategien führen insbesondere bei Eltern, aber auch bei anderen Personen des (pädagogischen) Lebensumfeldes leicht zu Enttäuschung, Verunsicherung, Unverständnis und Überforderung. Große Chancen, um die Schwere dieser „Folgeerscheinungen“ zu minimieren, sieht Klaus Kokemoor in einer frühzeitigen Diagnose noch während des ersten Lebensjahres und einer entsprechenden (therapeutischen) Begleitung. Grundsätzlich benötige „die Arbeit mit autistischen Kindern sehr viel Zeit, Gefühl, Motivation sowie das Aufnehmen der Perspektiven des autistischen Kindes“.
Ansätze für Therapie, Beratung und pädagogische Arbeit
In einem zweiten Teil des Buches führt der Autor dann konkrete Ansätze für Therapie, Beratung und Pädagogische Arbeit mit dem autistischen Kind aus. Für die Therapie sei eine ganz wesentliche Komponente die Arbeit mit dem Körper und in einem geschützten Raum könne so die Psychomotorik dazu beitragen, Ängste und Blockaden beim autistischen Kind aufzulösen und die „somato-psychische Integration“ wiederherzustellen. Für die Beratung stellt er insbesondere zwei Methoden vor: Einerseits die Videoarbeit mit Marte Meo, die es ermögliche, anhand von Videosequenzen entwicklungsfördernde Momente zu erkennen und zu besprechen. Andererseits den „Runden Tisch“, mit dem das gesamte soziale Umfeld des autistischen Kindes betrachtet und mitgenommen werden könne.Für die pädagogische Arbeit mit autistischen Kindern empfiehlt Klaus Kokemoor als Grundlage ebenfalls eine „systemische Betrachtungsweise“, bei der alle an der Bildung, Erziehung und Begleitung beteiligten Personen einbezogen werden müssten. Hier gelte es aus einer emotionalen Gemengelage heraus sich nicht gegenseitig Vorwürfe zu machen und zu entwerten, sondern auf die jeweiligen Ressourcen zu konzentrieren. Als Metapher zur Veranschaulichung von Beziehungsmomenten stellt Klaus Kokemoor auch das „Dreiraumprinzip“ vor, mit dem ein Wechselspiel der Regeneration, der Begleitung und der (An-) Leitung ermöglicht werde. Als pädagogischen Rahmen für das autistische Kind hebt er folgende zentrale Punkte heraus:
- Eine klare Struktur in Bezug auf Zeit und Raum
- Eine klare Aufgabenstellung
- Eine reizarme Umgebung
- Eine klare, nicht doppeldeutige Ansprache
Fazit
Klaus Kokemoor führt den Leser mit einer anschaulichen und von vielen Praxisbeispielen ergänzten Schreibweise packend in die Welt der autistischen Kinder ein. Ihre oftmals erst einmal befremdlich erscheinenden Verhaltensweisen werden auf ihre eigentlichen Ursachen und Intentionen zurückgeführt und so für den Leser nach und nach verständlich und nachvollziehbar. Dadurch, dass er die vielschichtigen Phänomene des Autismus überwiegend nicht als angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns, sondern als „Bewältigungsstrategien“ interpretiert, macht er auch Mut auf Veränderung und Entwicklung. Sein eigener großer Erfahrungsschatz und die konkreten Ansätze für Therapie, Beratung und pädagogische Arbeit zeigen schließlich konkret auf, wie in kleinen Schritten auch die Interaktion und der Dialog mit autistischen Kindern gelingen kann und wie sich ihre ganz eigene Welt und Kultur ein Stück weit für den Außenstehenden öffnet.- Klaus Kokemoor: Autismus neu verstehen. Begegnung mit einer anderen Kultur. fischer & gann, 350 S., 25 Euro.
Karsten Herrmann