Podiumsdiskussion auf der Fachtagung MINT in der Ausbildung
In Kooperation mit sechs Fachschulen aus Hildesheim, Braunschweig, Wolfsburg, Göttingen, dem Kreis Goslar sowie der Universität Vechta (siehe Links unten) beteiligten sich rund 60 TeilnehmerInnen am Fachtag in der Autostadt Wolfsburg am 13. November 2012. Die mehrheitlich jungen Frauen waren angehende und gestandene Lehr- und Fachkräfte aus der Fachschul- und Pädagoginnen-Ausbildung, FachschülerInnen sowie StudentInnen.


Bei der Begrüßung widerlegte Dr. Michael Pries, Leiter Inszenierte Bildung der Autostadt, das ausschließliche Argument, dass sich Volkswagen zur reinen Nachwuchssicherung mit MINT-Bildung beschäftige. „Wir haben uns dem Thema Mobilität und Bewegung verschrieben. Naturwissenschaft und Technik interessiert Kinder am meisten. Wir möchten ihnen spielerisch Antworten auf ihre Fragen geben, wenn Kita, Schule oder Eltern – ich inklusive -, keine darauf haben.“ Pries verwies auf die seit 1993 bestehende Kooperation mit dem Niedersächsischen Kultusministerium, bei der die Autostadt den Lernbereich Mobilität im Curriculum abdeckt. „ErzieherInnen und LehrerInnen möchten wir die Schwellenängste nehmen, ihnen einen Zugang zum Thema geben, der sich auf die Lebenswelt der Kinder bezieht“. Physikalische Momente erlebten Kinder auf dem Spielplatz, wenn die Fliehkraft an ihnen zieht oder es im Bauch kribbelt.  Für diesen Entdeckerblick möchte Pries und das Team der Autostadt pädagogisches Personal sensibilisieren.

Roland Siefer vom nifbe-Regionalnetzwerk Südost richtete als Veranstalter den Blick auf die MINT-Konzepte, die es seit zirka fünf Jahren (beispielsweise vom Haus der Kleinen Forscher) für Kitas gibt. „Meist wenden sie sich an das Bestandspersonal, vermitteln Didaktik für die Fort- und Weiterbildung.“

Nah dran bleiben: Wenn ErzieherInnen mit Kinderaugen schauen

In drei Impulsreferaten lag der Schwerpunkt auf Beobachtung und Didaktik. Prof. Dr. Claudia Schomaker von der Leibniz Universität Hannover lenkte den Fokus auf die Frage, was man wahrnimmt, wenn man Kinder beim Lernen beobachtet. Sie führte den Begriff der Phänomenografie ein. Der in den 1970er Jahren in Schweden geprägte Forschungsansatz spürt den verschiedenen Sichtweisen auf Phänomene und auf die Welt nach, zum Beispiel bei der Frage „Warum schwimmt ein Schiff?“ Bei der Betrachtung von Phänomenen fokussierten sich Kinder laut Schomaker meistens auf den Gegenstand (Schiff), weniger nehmen sie umgebene physikalische Bedingungen wahr (Wasser). ErzieherInnen ermutigte Schomaker, das undifferenzierte Erleben von Phänomenen bei Kindern hin zu einer differenzierten Betrachtung zu lenken (Bauweise, Form, Bestandteile, wirkenden Kräfte). Durch Aufmerksamkeit und das vorsichtige Nachfragen der ErzieherInnen würden die Kinder dadurch kleinteiligere, individuelle Erkenntnisse gewinnen. „Ziel ist es, die individuelle kindliche Sicht und den eigenen Antrieb als Ausgangspunkt für einen Bildungsprozess zu nutzen“.

Prof. Claudia Schomaker, Prof. Stefan Brée, Prof. Peter Cloos, Heike Engelhardt (v.l.n.r.)Prof. Dr. Stefan Brée, Professor für frühpädagogische Didaktik an der HAWK Hildesheim, bekräftigte seine Vorrednerin. „Erzieherinnen sollten nah an der kindlichen Sicht bleiben und sich davon inspirieren lassen. Denn Kinder staunen zirka 30 bis 50 Mal pro Tag.“ Erwachsene dagegen zeigen einen anderen Lernhabitus auf: Während sie Bewahrungs- und Umlerner sind und zudem genderspezifisch beeinflusst, sind Kinder intuitive Lerner und wechseln Themen, Ausdrucksformen und Erkenntnisse. Brée forderte Erzieherinnen - im Sinne des Reggio-Ansatzes – auf, die Erwachsenensicht nicht als Wahrheit, sondern Hypothese zu verstehen, über die sich die Erzieherin und Kind dialogisch und wertschätzend austauschen sollten. „Es gibt 100 Formen des Austausches. PädagogInnen müssen in der Ausbildung oder im Studium lernen, über ihre eigenen Denkmuster zu reflektieren. Sie sollten mehrere Dimensionen und Perspektiven zulassen und diese im Kita-Alltag mit unterschiedlichen Medien fördern“. Als Beispiel nannte Brée die Auseinandersetzung mit einem Marienkäfer, der an der Zimmerdecke krabbelt: Kinder könnten Theorien über den Marienkäfer spinnen, den Weg des Marienkäfers mit einem Wollknäuel nachziehen, eine Foto- oder Bildgeschichte über den Käfer (am Computer) kreieren, den Flug des Marienkäfers an einem Modell rekonstruieren, dessen Ökosystem nachbauen.

Prof. Dr. Peter Cloos von der Stiftung Universität Hildesheim hob erneut die Rolle der Erzieherin in MINT-Bildungsprozessen heraus: „Beobachtung und Dokumentation sind ihre Aufgaben. Dabei ist sie mit Ungewissheit und Komplexität konfrontiert. Sie muss die individuellen kindlichen Wege nachempfinden und bedeutungsoffen, partizipativ und dialogisch handeln“. Unterschied man vor einigen Jahren noch zwischen dem Typus Experimental- oder Naturforscher (Instruktion versus Selbstbildung), beobachten ErzieherInnen heute weit differenziertere Wege, die Kinder bei der MINT-Bildung gehen. Laut Cloos spielen Kind, Erwachsene, Eltern und die Gruppe dabei eine Rolle. Als Umgebungsfaktoren zählen standardisiertes Wissen und Fallwissen sowie Selbstreflexion und  Dialog. Einfluss üben zudem Material, Raum, das Thema, Lernwege, die Disposition und Interessen des Kindes, seine Lebenswelt und Beziehungen aus. „Daraus ergeben sich Bildungsprozesse, die stark mit Emotionen verbunden sind. Die Dokumentation von MINT sollte daher mehrdimensional, bedeutungsoffen und fragmentarisch sein“.

Mit oder ohne Spiegel: Kindliches und erwachsenes Handeln simulieren

Praktische Übung Prof. Brée: Spiegelapparatur simuliert kindliche PerspektiveZu Beginn der zweiten Hälfte der Fachtagung probierten sich die TeilnehmerInnen in zwei praktischen Übungen aus. An Arbeitstischen lud Prof. Brée Kleingruppen dazu ein, jeweils mit oder ohne Spiegel(apparatur) ein Auto aus Schaumstoff- und Kunststoff-Teilen zu konstruieren. Die AusbilderInnen und ErzieherInnen simulierten damit Handlungen und Dialoge nach gängigen, erwachsenen oder ungewohnten, kindlichen Mustern. Die Beteiligten reagierten darauf mit Verunsicherung, die sie durch Ausprobieren, Scheitern, neuen Wegen und den Dialog miteinander lösten – so wie Kinder es tun. „Je weniger Vorgaben oder Ziele definiert sind, desto größer die Dynamik. Diese Vielschichtigkeit wollen wir den Kindern erlauben“, fasste Prof. Brée zusammmen. Ein Käsereibe-Experiment in einer Kita – und die daraus hervorgehenden Bildungsprozesse – analysierten Peter Cloos und eine weitere Teilnehmer-Gruppe anhand eines Videos. Nach den Übungen unterstrich Prof. Schomaker die Erkenntnis als unvollendeten Prozess: „Der Wert der Naturwissenschaften liegt darin, Zeit zu haben, sich trotz eines Ergebnisses ständig neu auszutauschen und zu hinterfragen. So handhaben das auch  erwachsene Naturwissenschaftler“.

Kita-Alltag: Mathematik beim Kuchenbacken

In der langen Mittagspause konnten sich die TeilnehmerInnen auf dem einem „Marktplatz MINT“ informieren. An verschiedenen Stationen präsentierten sich nifbe-geförderte Projekte: „Minna und Mats“/Mathe-Mitmach-Ausstellung (Zusammenarbeit Universität Vechta), „Ina und Mattes“/Erzählkultur mit Frederick (Stadt Wolfsburg), naturwissenschaftliche Zaubershow (BBS Braunschweig). In drei folgenden Workshops gaben die Aussteller den Teilnehmern der Fachtagung Einblick und Details zu Konzepten, Vorgehen und Ergebnissen ihrer Projekte. Beispielsweise vermittelte das Projekt Beobachtungspraktikum – im Rahmen von „Ina und Mattes“ (Wolfsburg), alltägliche und lebensnahe Mathematik oder Physik für Kinder, wie etwa beim Wiegen der Äpfel vor dem Kuchenbacken oder der Aerodynamik beim Pusten in eine Mehlkelle. Die Mathe-Mitmach-Ausstellung – im Rahmen von „Minna und Mats“ präsentierte eine Reihe mathematischer Spiele und Rätsel, zu der sie Kita- und Vorschul-Kinder aus dem Raum Vechta-Diepholz für je einen Vor- oder Nachmittag einladen. Dies soll die ErzieherInnen ermutigen, Mathe-Spielecken in den Kitas zu etablieren.  Im Workshop „Naturwissenschaftliche Zaubershow“ führte eine Fachschülerinnen-Gruppe der BBS Braunschweig ein in eine Kinder-Geschichte inszeniertes einfaches Experiment vor. Seit zwölf Jahren hat sich die Aufgabe als Leistungspunkt in der Ausbildung etabliert: Die FachschülerInnen-Gruppe präsentiert das Experiment jeweils einer Kita- und Grundschulgruppe. Danach werden die Kinder vom Zuschauer zum Forscher und experimentieren gemeinsam.

Zu guter Letzt begab sich Herr Niels (www.herr-niels.de) als Show-Act auf die Tagungsbühne: Untermalt mit Musik kokettierte der Pantomime in Slow Motion mit Unwägbarkeiten zwischen Schwerkraft und Hebelgesetzen. Ein begeisternder Abschluss, der einmal mehr klarmacht, dass uns Mathematik, Naturwissenschaft und Technik im täglichen Leben näher sind, als wir meinen.

Beteiligte Fach- und Hochschulen:

www.herman-nohl-schule.de (Hildesheim)
www.bbs-ritterplan.de (Göttingen)
www.bbs5bs.de (Braunschweig)
www.evrs.de (Goslar)
www.bbs-bassgeige.de (Landkreis Goslar)
www.bbs-anne-marie-tausch.de (Wolfsburg)
www.uni-vechta.de (Vechta)


Autorin: Katja Edelmann