KiTas befinden sich im Krisenmodus und stehen in einem zerreißenden Dilemma zwischen dem (Fachkräfte-) Mangel einerseits und dem Anspruch auf eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung andererseits. Auf einer schnell ausgebuchten Fachkonferenz des Niedersächsischen Kultusministeriums, zu der Träger, Gewerkschaften, Verbände und andere wichtige Akteure aus dem Feld eingeladen waren, sollten hierzu nun Lösungsansätze diskutiert und entwickelt werden.

hamburg copyIn Ihrer Begrüßung unterstrich Kultusministerin Julia Willie Hamburg einmal mehr den „extrem wichtigen Bereich der frühkindlichen Bildung“. In den letzten Jahrzehnten hätte es hier eine sehr positive Entwicklung gegeben, aber „nun steht das System aufgrund des Fachkräftemangels sehr unter Druck“. In Anbetracht der vielen unterschiedlichen Akteure und Interessen wie zum Beispiel der frühkindlichen Bildung auf der einen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf der anderen Seite gebe es auch sehr unterschiedliche Vorstellungen zum Umgang mit der Krise. „Wir brauchen schnell neue Fachkräfte im System, aber wir brauchen auch die notwendige Qualität“ sagte Julia Willie Hamburg und fuhr fort: „Für die Arbeit am Kind ist Kompetenz notwendig und es gibt keine überflüssigen Standards. Allerdings können sie zurzeit nicht mehr immer erfüllt werden.“ Hier stehe „eine schwierige, aber lohnende Abwägung“ zwischen zwei Möglichkeiten an: Entweder die KiTas zu schließen oder (Fach-) Kräfte mit geringerer Qualifikation ins System zu holen.

"Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen"

Als viel diskutierte (Übergangs-) Lösungen für die Krise hob die Ministerin Multiprofessionelle Teams und auch Zusatzkräfte wie Hauswirtschafts- und Verwaltungskräfte oder Alltagshelferinnen, aber auch die flexibilisierte Ausbildung, das Praxismentoring und Fachkarrieren heraus. Diese und andere Vorschläge gelte es an diesem Tage „lösungsorientiert zu diskutieren“ und „nicht mit dem Finger aufeinander zu zeigen, sondern gemeinsam an einem Strang zu ziehen“. Wichtig sei zu schauen, was eine KiTa inhaltlich-fachlich bereichert. Zur Untermalung zitierte sie das bekannte afrikanische Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“

Strategien der Personalgewinnung, -bindung und -entwicklung

PossbergIn dem folgenden Auftaktvortrag stellte Dr. Dagmar Weßler-Poßberg von der Prognos AG Handlungsfelder und Potenziale für die Fachkräftesicherung in den KiTas vor. Sie wies auf den gewaltigen quantitativen Ausbau hin, mit dem sich in den letzten zehn Jahren das pädagogische Personal in KiTas bundesweit fast auf rund 730.00 verdoppelt habe. In Niedersachsen hätten sich in dieser Zeit auch die Ausbildungsplätze fast auf 42.500 verdoppelt. Trotzdem ist der Erzieher*innen-Beruf heute ein Engpassberuf und auf 100 gemeldete Stelle kommen nur 68 Arbeitssuchende. Je nach Szenario würden im U6-Bereich zwischen 20.000 und 70.000 Fachkräfte fehlen – und dabei sei noch nicht der Bedarf für den Ganztagsanspruch im Schulbereich eingerechnet. Eine der Ursachen für den Fachkräftemangel sei auch die extrem hohe Teilzeitquote im KiTa-Bereich, die in Niedersachsen bei 70 Prozent liege.

Als Strategien gegen den Fachkräftemangel führte Dagmar Weßler-Poßberg die Personalgewinnung, -entwicklung und -bindung aus. Wichtig sei schon bei der Berufsorientierung von Jugendlichen anzusetzen und beispielsweise über Social Media ein authentisch-positives Bild des Erzieher*innen-Berufes zu vermitteln. Als weitgehend ausgereizt schätzte sie den kurzfristigen weiteren Ausbau der Ausbildungsplätze ein, nicht zuletzt wegen fehlender Lehrkräfte und Räumlichkeiten. Hier könne aber noch verstärkt auf Digitalisierung gesetzt werden.

PIA als Erfolgsmodell

Als Erfolgsmodell hob die frühere Erzieherin die PIA-Ausbildung heraus, die jedoch auf eine gute Praxisanleitung in der KiTa angewiesen sei. Verbessert werden könne die Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit durch Modularisierung und Verkürzung der Ausbildung bei entsprechenden Vorerfahrungen sowie einer konsequenten berufsbegleitenden Weiterqualifizierung. Verbessert werden könnten aber auch die Zugänge und berufsbegleitende Qualifizierung sowohl für fachnahe wie für fachfremde Studierte und auch die Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Ein Fortschritt für Quereinsteiger*innen sei die ab Mitte des Jahres geplante Möglichkeit, für Umschulungen auch eine dreijährige Förderung durch die Arbeitsagentur zu bekommen.
Für die Mitarbeiter*innen-Bindung und -Zufriedenheit führte Dagmar Weßler-Poßberg horizontale und vertikale Entwicklungsmöglichkeiten für Fachkräfte durch Funktionsstellen sowie Fach- und Führungskarrieren mit entsprechender Vergütung an. Entlastung könnten Fachkräfte durch den Einsatz von Alltagshelferinnen, aber beispielsweise auch durch die Möglichkeit des HomeOffice während der Verfügungszeiten erfahren. Sehr wichtig sei angesichts sehr hoher Krankenstände und BurnOut-Raten im Erzieher*innen-Beruf auch eine systematische Gesundheitsförderung.

Abschließend unterstrich sie, dass zukünftig neben der Fachkräfte-Gewinnung auch ein stärkerer Fokus auf die Fachkräfte-Bindung und -Entwicklung gelegt werden müsse, um die Fachkräfte im Feld zu behalten und die Ausstiegsquote zu verringern.

Fokus Qualität

viernickelAus fachwissenschaftlicher Perspektive umriss Prof. Dr. Susanne Viernickel von der Universität Leipzig in der Folge die Anforderungen und Rahmenbedingungen von Qualität. „Pädagogische Qualität in der KiTa wirkt sich bedeutsam und nachhaltig auf die Entwicklung von Kindern aus, steht aber nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Personalschlüssel“ führte sie ein. Eine gute pädagogische Qualität in der KiTa könne in Bezug auf das Elternhaus „kompensatorisch und über die KiTa hinauswirken“.

Als gesetzlich-normative Rahmung für den Auftrag der KiTas führte die Professorin für Kindheitspädagogik das SGB VIII, den Niedersächsischen Orientierungsplan als „Maßstab für die Prozessqualität der pädagogischen Arbeit“ sowie auch die Kinderrechtskonvention mit ihren Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechten an. „Wir sollten nicht nur nach den Bedürfnissen der Kinder fragen, die wir dann erfüllen oder auch nicht, sondern auch ganz dezidiert nach ihren Rechten“ unterstrich sie.

Interaktionen als zentraler Qualitätsfaktor

Als zentral für die Qualität pädagogischer Prozesse führet Susanne Viernickel die Interaktion zwischen Fachkräften und Kindern, aber auch die Peer-Interaktionen an. Fachkräfte sollten eine wertschätzende und emphatische Haltung gegenüber den Kindern haben und sie durch Dialoge, Impulse, Feedback und Beteiligung fördern. Daneben seien die räumlichen und materiellen Bedingungen in der KiTa, die Individualisierung und Partizipation sowie die Zusammenarbeit mit Eltern weitere wichtige Faktoren für die Prozessqualität. Prozessqualität sei dabei eingebettet in ein komplexes System aus weiteren z.B. strukturellen Qualitätsbausteinen.

Im Hinblick auf die aktuellen niedersächsischen Personalschlüssel in Krippe und Kindergarten konnte Susanne Viernickel konstatieren, dass diese mit 1:3,3 bzw. 1:7,7 im Durchschnitt nahe bei den wissenschaftlichen Empfehlungen liege. In der Realität sei sie aber für rund die Hälfte der Kinder schlechter. Deutlich zu groß seien nach wie vor die Gruppengrößen in Niedersachsen.

Auf Grundlage dieser Schlaglichter auf Qualität und Qualitätsfaktoren beleuchtete die Erziehungswissenschaftlerin die aktuellen Dilemmata, die sich einerseits aus dem Rechtsanspruch auf einen KiTa-Platz und andererseits aus dem Anspruch auf eine hohe Qualität ergeben. Die fehlenden KiTa-Plätze gingen insbesondere auch zu Lasten von Familien mit Migrationshintergrund, deren Kinder nur zu 17 Prozent in der Krippe und nur zu 75 Prozent im Kindergarten seien – und die so auch nicht von den kompensatorischen Effekten einer KiTa profitieren könnten. Die Frage sei letztlich, ob man die Bildungsansprüche halten oder möglichst viele Plätze zur Verfügung stellen möchte. Fachkräfte seien schon lange in einem „Umsetzungsdilemma“ zwischen den eigenen pädagogischen Ansprüchen und der im Alltag zu realisierenden Pädagogik.

Gemeinsamer pädagogischer Wertekern

Als Lösungsansätze für die aktuelle Krisen- und Dilemma-Situation führte Susanne Viernickel neben der Schaffung von flexibleren Zugängen und verlässlichen Strukturen insbesondere auch die „Entwicklung eines gemeinsamen pädagogischen Wertekerns“, die „Etablierung einer dialogischen Qualitätskultur“ sowie die „Entwicklung von multiprofessionellen Teams“ an. Multiprofessionelle Teams seien der Weg in die Zukunft, allerdings dürfe es hierbei nicht nur eine Ausweitung nach unten geben, sondern auch eine Ausweitung nach oben z.B. durch Akademisierung.

klocke copy
In den auf die Vorträge folgenden Gesprächsrunden standen dann unter anderem auch die „Chancen von Multiprofessionalität“ auf der Agenda. Daneben diskutierten die Teilnehmer*innen „Dualisierte Ausbildungswege und weitere Wege in die Kita“, die „Anforderungen an Planung und Steuerung“, die „Bildung und Betreuung auch über die Kita hinaus“ sowie die „Chancen der (Rück) Gewinnung und Bindung von Personal“. In einem weiteren Brainstorming-Panel wurde dann insbesondere diskutiert, mit welchen konkreten Maßnahmen dem Fachkräftemangel begegnet und das Spannungsfeld zwischen Qualität und Quantität aufgelöst werden könnte.

Land bei (Re-) Finanzierung und Rahmengebung in der Pflicht

In den Workshops und Brainstorming-Runden entspann sich eine intensive und stellenweise auch konträre, aber immer an der Sache orientierte Diskussion rund um mögliche Lösungsansätze. Sehr klar wurde dabei, dass fast alle Lösungsansätze nur mit einer stärkeren (Re-) Finanzierung des Landes und entsprechende gesetzliche Unterfütterung funktionieren können. Grundsätzlich wünschten sich die Teilnehmer*innen auch „mehr Flexibilität und weniger Bürokratie“ rund um das KiTaG.
In den Diskussionen kristallisierten sich auch einige konkrete und weitgehend konsensuelle Lösungsansätze heraus:

  • Entlastung der Pädagogischen Fachkräfte durch Hauswirtschafts- und Verwaltungskräfte sowie durch Alltagshelfer*innen wie sie schon in Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich eingeführt sind.
  • Entwicklung von multiprofessionellen Teams und entsprechende Ergänzung des KiTa-Personals durch weitere fachnahe und fachfremde Professionen und Quereinsteiger*innen bei gleichzeitiger berufsbegleitender Qualifizierung; unterstrichen wurde dabei aber auch, das multiprofessionelle Teams konzeptionell angelegt und mit Begleit- / Unterstützungsstrukturen hinterlegt sein müssen
  • Grundsätzlich wurde auch ein stärkeres berufsbegleitendes Qualifizierungssystem für Quer- und Aufstiege gefordert
  • Als Erfolgs- und Zukunftsmodell wurde immer wieder die tariflich entlohnte Praxisintegrierte Ausbildung (PIA) sowie auch andere Teilzeit-Ausbildungen herausgehoben; klar war aber auch hier, dass Voraussetzung eine kompetente Praxisanleitung vor Ort mit entsprechenden Zeitbudgets ist
  • Im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden Möglichkeiten der Aufhebung des Fachkräftegebots in Randzeiten, Abschlussbetreuungen außerhalb des KiTaG oder auch eine stärkere Verbindung mit der Kindertagespflege angedacht

Zum Abschluss der Fachkonferenz zeigte Kultusministerin Julia Willie Hamburg sich erfreut über den konstruktiven und lösungsorientierten Austausch und unterstrich, dass die „Sicherung bestmöglicher Qualität“ die oberste Prämisse bleiben müsse. Auf der Konferenz seien dafür wichtige Lösungsansätze entstanden und nun gelte es, diese im Detail auszuwerten, zu clustern sowie zusammen mit den Expert*innen aus dem Feld kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen und Strategien zu entwickeln.

Hinweise und Lesetipps:

Im Vorfeld der Konferenz hatte ein breites Bündnis aus niedersächsischen KiTa-Trägern, Gewerkschaft, Elternvertretung, Bündnissen, Vereinen und Initiativen ein Positionspapier für Qualität und Verlässlichkeit in der frühkindlichen Bildung vorgelegt: Für Qualität und Verlässlichkeit in der frühkindlichen Bildung!

Einen DPA-Bericht zur Konferenz finden Sie hier auf ZEIT-Online

Weitere Berichte und Analysen rund um die Krise der KiTas finden Sie hier: KiTas am Limit



Karsten Herrmann