nifbe-Forscherin Prof. Dr. Claudia Solzbacher im Interview mit Angela von Wietersheim
"Individuelle Förderung" ist ein bestimmendes Schlagwort der aktuellen Bildungsdebatten. Aber was steckt im pädagogischen Alltag an den Schulen dahinter? Die nifbe-Forscherin Prof. Dr. Claudia Solzbacher hat 900 Lehrer dazu befragt. Im Interview erläutert sie, auf welche Probleme Lehrer stoßen können, wenn sie allen Schülern in ihren Potenzialen gerecht werden wollen.
- Heterogenität, also Vielfalt in der Schule ist eines der Themen, die uns zurzeit intensiv bewegen. Es scheint jedoch keine einfache Antwort auf die Frage zu geben, wie Kinder und Jugendliche mit ihren ganz unterschiedlichen Potenzialen und Voraussetzungen in der Schule am besten gefördert werden können.
Die Suche nach der optimalen Förderung läuft zurzeit unter der Debatte einer verbesserten „individuellen Förderung“, womit viele bildungspolitischen Hoffnungen verbunden sind. Jedoch ist weder klar, was genau damit gemeint ist, noch, wie welche Methoden tatsächlich wirken. Wir haben etwa 900 Lehrkräfte zu ihren Erfahrungen mit individueller Förderung befragt. Die Ergebnisse sind sehr aufschlussreich und ich werde sie in Münster vorstellen. Individuelle Förderung führt zweifellos zu einer weiteren Steigerung der Komplexität pädagogischen Handelns. Diese ist durch vielfältige Spannungsverhältnisse und Handlungsdilemmata gekennzeichnet, zwischen denen Lehrkräfte eine Balance finden müssen. Hinsichtlich des Einsatzes diagnostischer Verfahren und von Instrumenten der individuellen Förderung zeigt sich, dass die Chancen und Möglichkeiten einer individuellen Begabungsförderung noch lange nicht ausgeschöpft sind. Das betrifft sowohl die Kompetenzen der einzelnen Lehrkräfte als auch die Schulentwicklung insgesamt.
- Damit individuelle Förderung gelingt, müssen nicht nur die Rahmenbedingungen stimmen. Eine besondere Rolle kommt den "pädagogischen Beziehungen" zu: Sie haben eben Ihre Studie angesprochen, bei der Sie Lehrer zu ihren Positionen zu individueller Förderung befragt haben. Was war hier für sie das wichtigste Ergebnis?
Lernen ist ohne Emotionen nicht zu haben. Diese werden maßgeblich durch die Lehrer-Schüler-Beziehung transportiert. Beziehungen sind Grundlage für den Aufbau von Selbstkompetenz als Basiskompetenz von Lernen. Beispielsweise ist zu berücksichtigen, dass auch bei den selbstständigsten, kontaktfreudigsten und offensten Kindern emotionale Bedürfnisse nicht unterschätzt werden dürfen. Diesen Aspekt sehen die Befragten sehr wohl, sehen aber auch, dass er unter dem Diktat eines "höher, schneller, weiter" sehr vernachlässigt wird. Sie erleben schulische Beziehungen als stark regelgeleitet, spezialisiert und zeitlich begrenzt. Beziehungsgestaltung findet in Lerngruppen unter Zeitdruck statt und führt zu Fragen von Verteilungsgerechtigkeit, was unter Umständen für Lehrkräfte schwer auszuhalten ist. Denn sie haben den Beruf in der Regel gewählt, um Kindern individuell gerecht zu werden.
- Sie nennen die Stichworte „Schülern individuell gerecht werden“: Wenn man über individuelle Förderung im Zusammenhang mit heterogenen Klassen spricht, wird häufig die Befürchtung geäußert, dass die leistungsstarken Schüler dabei zwangsläufig zu kurz kommen.
Ja, ich sprach eben davon, dass der Zeitdruck und mangelnde Rahmenbedingungen zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit führen: Bei knappen Ressourcen entscheiden sich Lehrkräfte häufig für die Förderung der "schwachen Kinder", da diese es "am nötigsten" haben. Die "Starken" bleiben so auf der Strecke. Hinzu kommt, dass Lehrkräfte angeben, sich zwar kompetent darin zu fühlen, Defizite von SchülerInnen zu diagnostizieren, nicht aber deren Ressourcen zu erkennen. Verfügbare Diagnoseinstrumente und Methoden sind in der Tat auch defizitorientiert – hier gibt es großen Nachholbedarf sowohl in ressourcenorientierter pädagogischer Diagnostik als auch Förderung. Bei individueller Förderung sollte es nicht darum gehen, die Starken gegen die Schwachen auszuspielen, sondern das einzelne Kind im Blick zu haben, an dessen Ressourcen man anknüpfen muss, um so auch besser die möglichen Defizite in den Griff zu bekommen. Einige der von mir genannten Probleme werden sich übrigens bei der geplanten flächendeckenden Umsetzung der Inklusion noch verstärken.
Mit freundlicher Genehmigung von www.bildung-und-begabung.de