csm 9783779970903 77da1a1ce7Auf den ersten Blick scheinen Demokratiebildung, Partizipation und Inklusion auf ganz natürliche Weise zusammen zu gehören. Doch welche Herausforderungen das tatsächliche Zusammenspiel im KiTa-Alltag stellt und welche Stolperfallen und Dilemmata dort lauern, zeigt der von Raingard Knauer und Benedikt Sturzenhecker herausgegebene Band „Demokratische Partizipation und Inklusion in Kindertageseinrichtungen“ auf vielperspektivische Weise auf. Er leistet damit einen grundlegenden Beitrag zu einem bisher wissenschaftlich wenig beleuchteten und hinterfragten Spannungsfeld.

Einleitend stellen die Herausgeber*innen klar, dass mit dem reformierten SGB VIII und der Behindertenrechtskonvention von den KiTas sowohl Inklusion als auch Partizipation erwartet werden. Und sie unterstreichen: „Demokratie benötigt beides: Partizipation im Sinne eines aktiven Mitdiskutierens, Mitentscheidens Mithandelns und Mitverantwortung […] und Inklusion als Ermöglichung einer gleichberechtigten Teilhabe“. In diesem Sinne müssten in der KiTa-Praxis einerseits Beteiligungsrechte und -verfahren strukturell verankert und gelebt werden und andererseits müsse es einen demokratischen Umgang mit Differenz geben, so dass alle Kinder trotz ihrer Unterschiedlichkeit ihre Interessen gleichberechtigt aushandeln können. Ziel des Herausgeberbandes sei es, das Verhältnis von Demokratie, Partizipation und Inklusion theoretisch zu klären und zu hinterfragen, wie demokratische Partizipation differenzgerecht gestaltet und wie die Inklusion das Recht der Kinder auf demokratisches Mitentscheiden und Mithandeln stärken kann.

Zwischen Selbstbestimmung und Mitbestimmung

In der Folge stellen Benedikt Sturzenhecker, Raingard Knauer und Laura Aliki-Vesper die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur Partizipation und Inklusion in einer demokratieorientierten Kita (PINK) ausführlich dar. Sie hinterfragen das Verhältnis von Selbstbestimmung und Mitbestimmung und schlussfolgern, dass aus einer Inklusionsperspektive zu gewährleisten ist, „dass Individuen sowohl ihre Selbstbestimmung entfalten als auch ihre Mitbestimmungsrechte […] wahrnehmen können“. Die Verbindung könne am besten durch die Prinzipien und Verfahren der Demokratie gewährleistet werden. Problematisch für die KiTa sei es allerdings, wenn hier wie in der demokratischen Gesamtgesellschaft, ausschließlich auf sprachliche Kommunikation und Aneignung gesetzt wird, denn damit „drohen im Prozess unterschwellig Risiken der Erzeugung von Randständigkeit und Ausschluss.“

Vorsicht Dilemma!

Als Problem zeigt sich in der KiTa aber auch, dass Kinder sich Demokratie einerseits ganz zentral durch das eigene Handeln in demokratischen Prozessen aneignen und andererseits die einzelnen Schritte und Verfahren in einer Demokratie auch lernen müssen: „Damit entsteht ein Spannungsfeld zwischen Demokratie leben und Demokratie vermitteln“ und Kinder geraten in die Gefahr von berechtigten Subjekten „zu Objekten pädagogischer Belehrung“ zu werden. Dies kann zu einem „Paternalismusdilemma“ führen.

Ein grundsätzliches Inklusionsdilemma besteht in der KiTa zudem dadurch, dass Kindern durch Beobachtung und fachliche Deutung Defizite zugewiesen und Differenzen hergestellt werden, die dann wieder durch Inklusionsmaßnahmen aufgehoben werden sollen. Und da ohne Zuschreibung von Defiziten bzw. einer Behinderung keine Ressourcen zur Bearbeitung zur Verfügung stehen, tritt auch noch ein „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ hinzu.

Die Autor*innen des Beitrags resümieren schließlich, dass Pädagogische Fachkräfte in Spannungsfeldern handeln, „die durch widersprüchliche Pole in den drei Grundorientierungen von Kitapädagogik entstehen“: Erziehung und Bildung – Demokratische Partizipation – Inklusion.

Ethik der wechselseitigen Anerkennung

Im Kontext der Inklusionsdebatte plädiert Annedore Prengel für eine „Ethik der wechselseitigen Anerkennung“ und führt ihr Konzept der egalitären Differenz aus. Damit komme „ein menschenrechtlich und demokratisch begründetes Menschenbild zum Ausdruck, in dem wir einander sowohl als gleich wie verschieden erkennen“. Aus dem Recht auf Freiheit, dass jedem Menschen zukomme, gingen vielfältige Lebensentwürfe hervor und daher gehe es um eine solidarisch vertretene gleiche Freiheit, aus der dann „die wechselseitige Anerkennung unserer gleichberechtigten differenten Lebensformen“ resultiere.

Für die KiTa beschreibt Annedore Prengel die pädagogische Ethik als eine advokatorische Ethik, „denn den pädagogischen Fachkräften kommt die Aufgabe zu, stellvertretend herauszufinden, welche pädagogischen Umgebungen und Lerngelegenheiten jeweils entwicklungsangemessen schützend, förderlich und partizipativ wirksam sein können“. Auf dieser Basis führt sie fünf Handlungsebenen der Frühpädagogik aus: die institutionelle, die professionelle, die relationale, die didaktische und die bildungspolitisch-finanzielle. Für die didaktische Ebene benennt sie dabei zwei Säulen, „die einander ergänzen und stützen: ein von Erwachsenen zu verantwortendes verbindliches und zugleich individualisierungsfähiges Kerncurriculum und ein aus den Themen und Interessen der Kinder hervorgehendes frei wählbares Kerncurriculum.“

Die "100 Sprachen der Kinder" verstehen

Im Anschluss daran fragt Rüdiger Hansen, was Kindern vermittelt werden soll, um sie auf „ein Leben unter Gleichen und Freien vorzubereiten“ und wie das didaktisch-methodisch erreicht werden soll. Er stellt heraus, dass Freiheit und Gleichheit nicht gelehrt werden können, sondern gelebte Praxis sein müssen und zitiert dazu John Dewey: „Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie“.

Um die gleiche Freiheit für alle Verschiedenen zu gewährleisten und sie „vor willkürlicher Herrschaft und Grausamkeit zu schützen, braucht es einklagbare Rechte“. Für die KiTa sei daher eine KiTa-Verfassung notwendig sowie verbindliche und berechtigte Gremien, damit alle Kinder ihre Rechte wahrnehmen können. Darüber hinaus solle jedes einzelne Kind von den Fachkräften dabei unterstützt werden, „entscheidungs- und handlungsfähig zu werden und zu bleiben“. Notwendig sei es dabei, dass die Äußerungen und die „100 Sprachen der Kinder“ angemessen Gehör finden: „Es gilt, die vielfältigen Ausdrucksformen der Kinder feinfühlig wahrzunehmen und zu interpretieren.“

Zusammenspiel stellt hohe Anforderungen an Fachkräfte

Der Herausgeberband von Raingard Knauer und Benedikt Sturzenhecker führt sowohl auf einer theoretischen wie auch praxisbezogenen Weise aus, wie Partizipation und Inklusion in der KiTa nach demokratischen Prinzipien umgesetzt werden können und offenbart dabei auch immer wieder entstehende Dilemma-Situationen. Die zwölf Beiträge zeigen aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen auf, wie anforderungsreich und reflexiv anspruchsvoll es für die Fachkräfte in den KiTas ist, „die unterschiedlichen Prioritäten zwischen Erziehung und Bildung, Inklusion und demokratischer Partizipation abzuwägen und in der alltäglichen Interaktion mit den Kindern zu verwirklichen.“

Einzelne Beiträge werfen dabei auch sehr grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Partizipation und Inklusion sowie dem Projekt der Inklusion an sich auf. Infrage gestellt wird so beispielsweise ein zu breiter und auf alle Heterogenitätsdimensionen ausgerichteter Inklusionsbegriff, der nicht mehr handhabbar sei und die Gefahr in sich berge, folgenlos zu bleiben. Michael Winkler beschwört daran anknüpfend die Möglichkeits- und Widerstandspotenziale von Pädagogik gegenüber Macht und Herrschaft. Und da Inklusion den „Einschluss und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsform“ erwarte, sei zu fragen, „um welche Gesellschaft es geht, in die da inkludiert werden soll – nämlich die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer „Entfremdung und Verdinglichung im Produktionsprozess“. Mit Adorno fragt er „Kann es ein richtiges Leben im Falschen geben“ und gibt damit den Leser*innen einen eindringlichen gesellschaftskritischen Denkanstoß mit auf den Weg.

  • Demokratische Partizipation und Inklusion in Kindertageseinrichtungen.Herausgegeben von Raingard Knauer / Benedikt Sturzenhecker. Beltz, 341 S., 28 Euro


Karsten Herrmann