Zumindest noch nicht die tragende, die ihr zusteht. Das sagen Peter Cloos und Julia Schütz im Gespräch mit Meine Kita.
- Meine Kita: Wo stehen Kitas heute?
Peter Cloos: Das System der Kitas hat seit der PISA-Diskussion in den 2000er-Jahren einen enormen Wandel erlebt. Die Kita ist nicht nur eine Bildungseinrichtung, sie hat einen multifunktionalen Auftrag. Es geht um Gesundheitsförderung, Kinderschutz und vieles mehr, ohne dass sich aber die Organisation der Kitas und die Rahmenbedingungen verändert haben.
Julia Schütz: Kitas sind Bildungseinrichtungen, die als solche wahrgenommen, aber nicht ernstgenommen werden. Es gibt so viele Kitas wie noch nie und einen hohen Betreuungsbedarf. Gleichzeitig steigen die Aufgaben und Anforderungen an die Fachkräfte stetig. Zum Beispiel in puncto Digitalisierung. Da hinken die Kitas hinterher.
Schütz: Weil die Fachkräfte die Inhalte nicht in ihrer Ausbildung vermittelt bekommen. Deswegen muss sie reformiert werden. Auch in der universitären Ausbildung muss ein Ausbau stattfinden. Wir benötigen mehr gut ausgebildete Fachkräfte.
- Ist an den Hochschulen die Nachfrage nach pädagogischen Studiengängen gestiegen?
Cloos: Teilweise wachsen sie noch, aber nicht mehr so wie am Anfang der 2000er Jahre, als wir die ersten Studiengänge der Kindheitspädagogik einführten und die Studierendenzahlen stark anstiegen. Bildungspolitisch steht aber nicht der Ausbau der Studienplätze im Fokus, sondern der Ausbau nach unten, das heißt die Öffnung der Erzieherarbeit für Quereinsteiger. Das ist auch für die Teams eine große Herausforderung, wenn zu viele Mitarbeitende keine fundierte Ausbildung haben, das geht mit einem
ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.
sdilemma einher. Das ist schade, denn durch die Ausweitung der Forschung im Bereich der Kindheitspädagogik ist ein enormes Wissen erworben worden, das in den Kitas durch die mangelnde Professionali¬sierung nicht ankommen wird. Wir müssen Kita gesellschaftlich neu denken und der Forschung mehr Raum geben.
Cloos: Wir müssen den multifunktionalen Auftrag in den Bildungsplänen ausformulieren. Wenn wir ernst nehmen wollen, welche Herausforderungen an Kitas herangetragen werden, wie Digitalisierung, Sprachförderung und viele weitere Punkte, müssen wir das Spektrum der Qualifikationen erweitern. Wir brauchen in Kitas Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen, etwa eine medienpädagogische Ausbildung, um die Digitalisierung in den Kitas umzusetzen. Das darf nicht alles an den Leitungen hängen, denn die können das zeitlich nicht alles umsetzen, vor allem, wenn sie noch im Gruppendienst sind. Wir müssen die Kita als ausdifferenzierte Organisation mit unterschiedlichen Funktions¬stellen, die auch verschiedene Karrierewege bieten, aufstellen.
Schütz: Diese Ausdifferenzierung der Handlungs¬felder ist wichtig, um die Attraktivität des Berufes zu steigern. Es muss aber auch ein Umdenken stattfinden, beispielsweise bei der Digitalisierung: Junge Menschen, zu deren Lebenswelt auch digitale Medien gehören, müssen auch in Berufsfeldern arbeiten, wo diese dazugehören. Wir gehen hier nicht genug auf die Nachwuchskräfte ein.
- Welche Rolle nehmen junge Menschen in der Gesellschaft ein?
Cloos: In unserer Gesellschaft haben Kinder und Jugendliche nicht die Wichtigkeit, die sie haben sollten. Wenn wir über Kindheit sprechen, reden wir über ihre Zukunft oder darüber, welche Leistungsrückstände Kinder aufholen müssen. Die Rolle der Kindheit wird oft darauf reduziert, was sie in Zukunft bringen sollen. Der Grund dafür ist, dass Interessen des Wirtschaftssystems in den Vordergrund gerückt werden.
Schütz: Das wird vor allem ersichtlich bei der Diskussion um die Systemrelevanz von Kitas während der Coronapandemie. Sie waren nur systemrelevant in dem Sinne, dass sie Eltern ermöglichen, arbeiten zu gehen. Das ist die falsche Perspektive. Die Kindheit selbst hat einen Wert. Es darf nicht nur darum gehen, Lernrückstände aufzuholen.
Aber ist der Gedanke nicht richtig, Kinder möglichst früh zu fördern?
Cloos: Natürlich ist es wichtig, Kinder zu fördern. Aber wir müssen dabei ein Maß finden und dürfen Kinder nicht „verzwecken“ in ihrer Rolle als Arbeitskraft von morgen. Wichtig ist genauso, dass alle den menschlichen Umgang miteinander lernen. Die Kita sollte zuallererst ein Lebensort sein, an dem sich Kinder wohlfühlen und Gemeinschaft erleben können. Und schon dabei, dies umzusetzen, gibt es Probleme bei den Rahmenbedingungen.
Cloos: Wenn pädagogische Fachkräfte engagiert sind, sich fortbilden, aber dafür nicht genügend bezahlt werden, fällt es ihnen schwerer, den Lebensort Kita lebenswert auszugestalten, da sie häufig unzufrieden sind. Das wird ein immer größeres Problem, da der Fachkräftemangel wachsen wird.
Schütz: Die Träger sind sich dessen auch bewusst. Es gibt durchaus Träger, die das Arbeitsfeld attraktiver gestalten wollen, etwa durch bessere Bezahlung. Hier muss auch die Politik endlich handeln. Schließlich ist ja die Kita mitt¬lerweile als Thema bei den Politikerinnen und Politikern angekommen.
Cloos: Während der Ära Kohl gab es das Thema nicht mal in den Tagesthemen. Das hat sich verändert. Aber dabei geht es selten um das Verstehen von Kindern, sondern um den Ausbau der Betreuungsplätze und darum, was Kinder können müssen, wenn sie in die Schule kommen. Fragen, wie die Verbundenheit der Kinder mit der sozialen Welt bleiben häufig außen vor.
- Sollte darauf ein besonderer Wert gelegt werden?
Schütz: Absolut. Die Verbundenheit mit der Welt zu fördern geht in den Leistungsgedanken verloren. Genauso wichtig ist auch politische Bildung und Demokratiebildung in den Kitas. Kindern haben einen enormen Gerechtigkeitssinn. Das muss man frühzeitig fördern – und nicht erst nach Lehrplan in der 7. Klasse.
- Sie sprachen vorhin von der Lebenswelt Kita: Wie sieht das Idealbild einer Kita aus?
Cloos: Ich wünsche mir bei den Fachkräften eine Akademisierungsrate von 20 Prozent. Realistisch wird das aber erst in mehreren Jahren erreicht werden. Kitas müssen lebenswerte und multiprofessionelle Orte werden, die mit Familien und dem Sozialraum verbunden sind und eine professionelle Verwaltung haben. Der Ausbau der Forschung muss weitergehen. Verglichen mit der Forschung im Schulbereich fehlen uns tausende Professuren in diesem Bereich. Das Ziel muss langfristig sein, dass die Kita den gleichen Stellenwert wie die Schule hat.
Schütz: Kitas brauchen Raum, Zeit und Geld. Das ist der Schlüssel für gute pädagogische Arbeit. Auch gilt es, Fachkräften mehr Anerkennung entgegenzubringen, beispielsweise durch eine angemessene Bezahlung. Und es braucht die Stärkung einer Wir-Identität im Bildungssystem. Jede pädagogische Fachkraft begleitet die Kinder in ihrer Biografie – Lehrkräfte genauso wie Erzieherinnen und Erzieher. Erst wenn das allen klar ist, wird die Rolle der Kita in der Gesellschaft die Wichtigkeit bekommen, die ihr zusteht.
Julia Schütz ist Professorin und Diplom-Pädagogin sowie Lehrgebietsleitung Empirische Bildungsforschung an der Fernuniversitätin Hagen. Sie beschäftigt sich mit pädagogischer Berufsgruppenforschung.Peter Cloos ist Professor für die Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität Hildesheim und ehemaliger Erzieher. Zudem ist er Sprecher des Kompetenzzentrums Frühe Kindheit Niedersachsen. Seine Forschungsschwerpunkte sind derzeit u.a. Multiprofessionalitätund Inklusion.
Übernahme des Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus
Meine Kita 01-22, S. 4-8