Gemeinsames Projekt der Karg-Stiftung und des nifbe in Niedersachsen
Wie können (Hoch-) Begabungen von Kindern möglichst unabhängig von ihren individuellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen schon in der KiTa gefördert werden? Diese Frage steht im Zentrum des gut vierjährigen Projektes „Karg Campus Kita Niedersachsen“, das jetzt mit einer Auftakttagung offiziell gestartet wurde.Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne unterstrich in seinem Grußwort das „wichtige bildungspolitische Ziel einer inklusiven Begabungsförderung in KiTa und Grundschule“. Er freue sich sehr über dieses gemeinsam von der Karg-Stiftung und dem nifbe durchgeführte Pilotprojekt, von dem ausgehend nachhaltige Netzwerke der Begabungsförderung in Niedersachsen entstehen sollen. Besonderen Dank sprach er den acht teilnehmenden Pilot-KiTas aus.
Dr. Ingmar Ahl, Vorstand der Karg-Stiftung, verdeutlichte die häufig nicht erkannten (Hoch-) Begabungen von Kindern anhand von Roald Dahl Kinderbuch „Matilda“. Seit über 30 Jahren widme sich die Karg-Stiftung daher dem Erkennen und Fördern von (Hoch-) Begabungen und dies zunehmend auch schon ab der KiTa, die schon ein wichtiger Bildungsort sei. Vorreiter sei dabei die CJD-Kita in Hannover gewesen und mit Karg Campus Kita Niedersachsen sollten jetzt Strukturen für die Entwicklung durchgängiger und inklusiver begabungsförderlicher Strukturen entwickelt werden.
Als Vorstandsvorsitzender des nifbe wies Prof. Dr. Jan Erhorn in seinem Grußwort auf die „schon langjährige gute Zusammenarbeit des nifbe mit der Karg-Stiftung“ hin. Das nifbe habe eine ausgewiesene Expertise in der Begabungsforschung und zugleich rund um das Thema Inklusion und Vielfalt, zu dem die aktuelle Qualifizierungsinitiative laufe. Mit dem Projekt, so unterstrich Jan Erhorn, „leisten wir einen wichtigen Beitrag für die Bildungs- und Chancengerechtigkeit in unserem Land sowie auch für dessen Zukunftsfähigkeit.“
Zentrale Projektbausteine: Qualifizierung, Prozessbegleitung und Vernetzung
Das Projektteam aus Dr. Nadine Seddig und Lisa Pohlmeier (Karg-Stiftung) sowie Dr. Karsten Herrmann, Michaela Kruse und Dr. Meike Sauerhering (nifbe) stellte in der Folge die konkrete Projektkonzeption vor. Grundlage ist ein von der Karg-Stiftung entwickeltes strukturiertes Curriculum mit den Bausteinen Qualifizierung, Prozessbegleitung und Vernetzung. Qualifizierungselemente sind dabei Intensivkurse, Leitungsforen und Inhouse-Angebote, die Vernetzung wird über landesweite Vernetzungstreffen und weitere Austauschfomate realisiert. Eine konsequente Prozessbegleitung sorgt dafür, dass jede KiTa mit ihrer ganz individuellen Ausgangslage einen passenden Weg zur inklusiven Begabungsförderung gehen kann und dabei im Team auch immer wieder in den wichtigen gemeinsamen Dialog und gemeinsame Reflexionsprozesse geht."Hochbegabtenförderung als Inklusionsaufgabe"
In seinem wissenschaftlichen Auftaktvortrag beleuchtete Prof. Dr. Peter Cloos von der Stiftung Universität Hildesheim die Bedeutung des KiTa-Systems für die Entfaltung hoher kognitiver Begabungen. Gleich eingangs betonte er dabei auch: „Hochbegabtenförderung ist eine Inklusionsaufgabe!“Aus einer mehrdimensionalen Perspektive unterstrich der Professor für die Frühe Kindheit, dass es nicht nur um die Kompetenz der einzelnen Fachkräfte, sondern um die Kompetenz eines professionellen Gesamtsystems gehe. Im Mittelpunkt stehe das Kind und die Fachkraft mit ihren Kernaufgaben „Wahrnehmen – Beobachten – Planen – Fördern“. Sie seien jedoch eingebettet und auch abhängig von organisationalen, fachlichen und bildungspolitische Kontexten.
Aus bildungspolitischer Perspektive führte Peter Cloos aus, dass das Recht auf eine individuelle (Begabungs-) Förderung, unabhängig von Herkunft und wirtschaftlicher Lage, in Deutschland in verschiedenen Gesetzen und Rahmenplänen festgehalten sei. Hochbegabung sei so „insgesamt bildungspolitisch verankert“, es gebe aber große Unterschiede in den Bundesländern und wenig Differenzierung zwischen Begabung und Hochbegabung.
Hochbegabung im kompetenten KiTa-System
Im fachlichen Kontext musste er konstatieren, „dass das Thema (Hoch-) Begabung in einschlägigen Handbüchern fast nicht vertreten ist“ und dass es hierzu insgesamt wenig empirische Grundlagen und vertiefende Studien gibt. Ebenso sei das Thema (Hoch-) Begabung auch in der Erzieher*innen-Ausbildung sowie in der hochschulischen Qualifizierung von Kindheitspädagog*innen kaum dezidiert verankert.Auf der organisationalen Ebene markierte Peter Cloos zunächst den Personalschlüssel und die Gruppengröße als wichtige Faktoren für die Entfaltung hoher kognitiver Begabungen.Hier stellte er auch unter dem Hinweis auf das „Inklusions-Dilemma“ die Frage, ob es sinnvoll und gewünscht sei, für die (Hoch-) Begabungsförderung Ressourcen über den Integrationsstatus zu gewinnen.
Als hilfreich für eine inklusive und begabungsförderliche Organisationsentwicklung führte er den „Index für Inklusion“ mit folgenden Zielvorgaben an:
- Gemeinschaft bilden
- Jeder soll sich willkommen fühlen
- Die Kinder helfen sich gegenseitig
- Die (multiprofessionellen) Teams arbeiten gut und auch mit den Eltern zusammen
- Die KiTa arbeitet gut mit dem Träger zusammen
- Die KiTa öffnet sich in den Stadtteil
Ausgehend vom letzten Punkt rückte Peter Cloos auch die Bedeutung der (sozialräumlichen) Vernetzung in den Fokus. Vernetzung könne fallbezogen auf ein einzelnes Kind stattfinden, aber auch übergreifend im Hinblick auf den Übergang (Grundschulen) oder Bildungsbereiche wie MINT oder kulturelle Bildung (Museen, Forscherstationen etc.).
Sensibilierung der Fachkräfte und "Enrichment" des KiTa-Alltags
Im Hinblick auf die (Hoch-) Begabungsförderung als pädagogische Aufgabe in der KiTa musste er zunächst konstatieren, dass 40-50 Prozent der hochbegabten Kinder übersehen werden. Wichtig sei daher das Wissen und eine entsprechende Beobachtung. Eine gute Möglichkeit für die Sensibilisierung für Hochbegabung seien konkrete Fallbeispiele. Als nicht geeignet für das Thema Hochbegabung stufte Peter Cloos die derzeit verfügbaren Checklisten und Screening sowie auch die in den KiTas gängigen Beobachtungsverfahren ein. Er betonte hier das „Potenzial freier Beobachtung“ im Hinblick auf die Lernausgangslagen und Interessen der Kinder. Nicht die Aufgabe der KiTas sei es allerdings, eine Intelligenz-Diagnostik durchzuführen und hier solle bei Bedarf auf eine externe Diagnostik zurückgegriffen werden.Die Förderung von hochbegabten Kindern könne im KiTa-Alltag durch ein alltagsintegriertes oder auch zusätzliches „Enrichment“ stattfinden. Grundlage bilde dabei eine „ressourcenorientierte, bedarfs-und bedürfnisorientierte, interessenfokussierende und achtsame Perspektive auf das Kind in seinen individuellen Lern- und Entwicklungsprozessen.“ Ziel müsse eine möglichst hohe Interaktionsqualität mit begabungsförderlichen, intensiven und langanhaltenden Dialogen sein (sustained shared thinking). Folgende Leitlinien markierte Peter Cloos für die (Hoch-) Begabtenförderung in der KiTa:
- Alltagsnähe
- beiläufiges und situationsgebundenes Lernen
- Kind-und Lernerzentriert
- Individualisierung und Flexibilisierung
- Hohe Passung zwischen Kind, Lerninhalt und Methoden
Peter Cloos resümierte, dass (Hoch-) Begabungsförderung auf ein kompetentes System und eine entsprechende bildungspolitische, fachliche und organisationale Rahmung angewiesen sei. Aktuell würden Fachkräfte durch die oftmals unzureichenden Rahmenbedingungen und die fehlende Zeit für intensive Interaktionen an Grenzen stoßen. „Aber das“, so schloss er, „darf kein Knock-Out-Argument sein“ und jede KiTa habe Möglichkeiten, sich auf den vielleicht auch langen Weg einer inklusiven und begabungsförderlichen Organisation zu machen.
Qualität und Qualitätsentwicklung
In einem zweiten wissenschaftlichen Fachvortrag beleuchtete Prof. Dr. Jan Erhorn die grundsätzliche Frage der Qualität und der Qualitätsentwicklung in KiTas. Er stellte verschiedene Definitionsansätze wie die relativistische, die relationale sowie die strukturell-prozessuale Position vor. Nur letztere ermögliche dabei „messbare Qualitätskriterien und einrichtungsbezogene Vergleiche“. Der Preis sei allerdings die „Abhängigkeit von gesetzten Normen“ sowie ein „nur schwach ausgeprägter Situations- und Kontextbezug“.Als einer der wenigen großen strukturell-prozessualen Qualitätsstudien im deutschen KiTa-Bereich stellte er die NUBBEK-Studie vor, an der seinerzeit auch das nifbe beteiligt gewesen ist. Jan Erhorn nahm hier insbesondere die Ergebnisse zur Prozessqualität in den Fokus – demnach wiesen 7 Prozent der KiTas eine „gute“, 83 Prozent eine „mittlere“ und 10 Prozent eine „unzureichende“ allgemeine Prozessqualität auf. Deutlich schlechter seien die Ergebnisse aber im Hinblick auf spezifische Prozessqualitäten im bereichsbezogenen Lernen wie z.B. Lesen, Mathematik oder individuelle Förderung ausgefallen: Hier wiesen nur noch 2,6 Prozent eine „gute“, 34,4 Prozent eine „mittlere“, aber mit 63 Prozent fast zwei Drittel der KiTas eine „unzureichende“ Qualität auf.
Die NUBBEK-Studie habe damit, so Jan Erhorn, „wichtige Ergebnisse für eine bildungspolitische Steuerung“ geliefert. Bedeutsame Einflussfaktoren für eine höhere (spezifische) Prozess-Qualität seien der Fachkraft-Kind-Schlüssel und die Zeiten für Vor- und Nachbereitung.
Dabei kritisiert er die Beschränkung auf die Erhebung und Prüfung von eher mittelbar wirkenden distalen Einflussfaktoren auf die Prozessqualität und fordert die Berücksichtigung eher unmittelbar wirkender proximaler Einflussfaktoren, wie der professionellen Kompetenzen pädagogischer Fachkräfte. Es sei zu erwarten, dass diese einen vergleichbar starken Einfluss auf die Prozessqualität und auf die Entwicklung von Kindern haben, wie dies die „Hattie“-Studie für die Lehrkräfte im Schulbereich nachweisen konnte. Dort seien die Qualität des durch die Lehrkräfte gegebenen Feedbacks, der Instruktionen und der Gestaltung der Lernumgebung von zentraler Bedeutung. Ein starker Einfluss gehe zudem von fachdidaktischem Wissen aus.
Kompetenz und Performanz im Fokus
In diesem Sinne führte Jan Erhorn den Kompetenz-Begriff aus. Professionelle Kompetenz zeige sich letztlich auf der Ebene der Performanz in der Bewältigung konkreter Handlungssituationen und basiere auf Dispositionen, wie Wissen, Motivation und Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in Verbindung mit der Situationswahrnehmung und-analyse in eine Handlungsbereitschaft und -planung in das konkrete Handeln überführt werden. Er markierte in dieser Kette eine „Sollbruchstelle“ auf dem Weg von der grundsätzlichen Disposition hin zur Handlungsanwendung und der konkreten Performanz der Fachkräfte. Die entscheidende Frage auch im Hinblick auf die (Hoch-) Begabungsförderung sei daher, wie diese Bereiche besser verschränkt werden können.Jan Erhorn wies an dieser Stelle auf die zentrale Rolle „situationsspezifischer Fähigkeiten“ hin, die von der Wahrnehmung einer Situation über ihre Interpretation hin zu einer Handlungsentscheidung führen. Diese Fähigkeiten stellen ein zentrales verbindendes Element zwischen DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen. und Performanz dar, ohne die beispielsweise Wissen nicht auf konkrete Handlungssituationen bezogen werden könne. Um diese Fähigkeiten bei den Fachkräften zu entwickeln, sei eine „Orientierung an konkreten Praxisanforderungen und Handlungssituationen“ im Rahmen von „Fallarbeit“ sinnvoll.
Potenziale der Fallarbeit
Für die Weiterentwicklung von Dispositionen, situationsspezifischen Fähigkeiten und Performanzen weist die Fallarbeit Jan Erhorn zufolge ein "besonderes Potenzial“ auf. Auf der Ebene der Disposition könnten aus einem Text- oder Video-Fallbeispiel so „relevantes Wissen und relevante Einstellungen“ für konkreten Anforderungen herausgearbeitet oder aber andersherum „relevantes Wissen und relevante Einstellungen auf einen Fall angewendet werden“. Da es hier aber auch keine Rezepte oder vorgegebene Lösungen gebe, sei der DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. der Fachkräfte über die Relevanz des Beobachteten im Hinblick auf die Abwägung und letztliche Handlungsentscheidung wichtig.So können die Fachkräfte insbesondere ihre situationsspezifischen Fähigkeiten als wichtiges Bindeglied zwischen Dispositionen und Performanz weiterentwickeln.Für die Performanz-Entwicklung durch Aus-, Fort- und Weiterbildung markierte Jan Erhorn schließlich zusammenfassend folgende Eckpunkte:
- Notwendigkeit der Realisierung eigener Handlungspraxis
- Zentrale Bedeutung der Auswertung/Reflexion der Handlungspraxis
- Hospitationen im Team/ durch Expert*innen
- Kollegiale Beratung
- Auswertung schriftlich oder videografisch dokumentierter Fälle aus der eigenen Handlungspraxis
Neben der Kompetenzentwicklung der einzelnen Fachkräfte hob Jan Erhorn schließlich auch noch die einrichtungsbezogenen Konzeptionen als wichtige Ansatzpunkte für die Qualitätsentwicklung in der KiTa heraus. Für deren Weiterentwicklung böte sich der Ansatz einer dialogorientierten Prozessbegleitung in besonderem Maße an. Auch im Hinblick auf das entsprechende Setting von Karg Campus Kita Niedersachsen resümierte er: „Kompetenzbezogene Fortbildungen und die Prozessbegleitung bei der Weiterentwicklung der KiTa-Konzeption sind zwei Bausteine eines zirkulären Prozesses der Qualitätsentwicklung“.
Folgende KiTas nehmen am „Karg Campus Niedersachsen“-Projekt teil:
1. Ev.-ref. Kindertagesstätte Lummerland; Neuenhaus
2. Kinnerhuus Middenmang Borssum; Emden
3. FiLius Kindertagesstätte Weener-Floorenstraße; Weener
4. Integrative Kindertagesstätte Regenbogenland; Friedland
5. KTE Im Französischen Garten; Celle
6. Kindergarten am Springhof; Bad Laer
7. Ev.-luth. Kindertagesstätte St. Nicolai; Cadenberge
8. CJD Kindertagesstätte Nordstemmen; Nordstemmen
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Die Aufzeichnung der Vorträge finden Sie hier auf unserem YouTube-Kanal
Karsten Herrmann