Renate Zimmer hat in MotorikPlus in vielerlei Hinsicht aktuelle Fachdiskussionen mit aufgenommen. Sie stellt fachliche Entwicklungsbeobachtung in den Kontext von früh- sowie bewegungspädagogischen und psychomotorischen Werten, Prinzipien und Zielsetzungen. Das Verfahren wird ausdrücklich damit begründet, dass mit ihm vorrangig ganz bestimmte pädagogische, nicht primär klassisch diagnostische, Anliegen verfolgt werden sollen.
Renate Zimmer stellt anthropologische Sichtweisen vom Kind und von Entwicklung und Bildung in den Mittelpunkt ihrer Begründungszusammenhänge. Sie lädt dazu ein Kinder von Anfang an als kompetent handelnde Wesen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Es soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, durch eigenaktives und begleitetes Handeln Bewegung als Motor ihrer Entwicklung zu nutzen und sich durch interaktive Auseinandersetzung die Welt anzueignen und persönlichen Zugang zu ihr zu finden.
Selbswirksame Welterkundungen rmöglichen
Bindung und Beziehung werden als notwendige Voraussetzungen und Grundlagen von gelingender Entwicklung betrachtet, nicht isoliertes Trainieren und Üben von Fertigkeiten. Es geht um die Ermöglichung von selbstwirksamen Welterkundungen, die zu internalen Kontrollüberzeugungen und zur Entwicklung eines stabilen und positiven Fähigkeits- und Selbstkonzepts führen können. Erwähnung finden auch die Exekutiven Funktionen, die eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung von Impulskontrolle, Selbstregulation, kognitiver Flexibilität und eines unterstützenden Arbeitsgedächtnisses spielen.MotorikPlus soll vor allem in Form von Aussagen zu Kompetenzen, Stärken, Interessen, Bedürfnissen und Entwicklungspotenzialen der Kinder deren individuellen Entwicklungsprozess dokumentieren. Die Ergebnisse können im besten Fall im Umfeld der Kinder Verständnis für ihr Verhalten wecken und der Reflexion und Individualisierung der pädagogischen Angebote dienen.
Das Verfahren dient ausdrücklich nicht der Früherkennung motorischer Auffälligkeiten und die Beobachtungsitems sind auch keine isoliert anzustrebenden Entwicklungsziele. Das Kind soll vorrangig intrapersonell auf sich und nicht auf andere bezogen betrachtet werden. Dass es dann aber doch umfassende Jahres gestaffelte Altersnormen gibt, macht die Versuchung möglich, doch wieder interpersonell zu kategorisieren oder gibt (positiv formuliert) die Möglichkeit, drohende Entwicklungsrisiken niedrigschwellig und frühzeitig zu erkennen und ggf. weitere Maßnahmen ergreifen zu können.
Das Verfahren eignet sich zur Beobachtung von Kindern im Alter von 1,0 bis 6,11 Jahren. Es umfasst mit seinen zehn Kompetenzbereichen deutlich mehr Entwicklungsaspekte als alle anderen gängigen Entwicklungs- und Beobachtungsverfahren.
Ganzheitlicher Ansatz
Es rechtfertigt aufgrund der mehrdimensionalen Berücksichtigung von motorischen Kompetenzen (Koordination, Kraft/Ausdauer, Feinmotorik), sensorischen Kompetenzen (vestibuläre, taktil-kinästhetische, visuelle und auditive Wahrnehmung) und den „Plus“-Kompetenzen (emotionale, soziale und kognitive Entwicklung) den Anspruch auf „Ganzheitlichkeit“. Da die Beobachtungsitems keine direkt durchzuführenden Aufgaben darstellen, sondern situationsübergreifende Kompetenzen, die in einer vierstufigen Ratingskala eingeschätzt werden können, sollte das jeweilige Kind vor den Eintragungen mindestens vier Wochen lang in verschiedenen Alltagssituationen beobachtet und erlebt werden. Nur falls einige Items daraufhin noch nicht eingeschätzt werden können, sollen die abgefragten Kompetenzen spielerisch nebenbei provoziert werden. Das Ausfüllen der Bögen dauert in der Regel kaum mehr als 20-30 Minuten.Es handelt sich also um eine offene, weitgehend ungebundene aber systematische Form der Beobachtung in Alltagssituationen. Es gibt übersichtlich geheftete Beobachtungsbögen für U3-Kinder (1,0 bis 3,5 Jahre) und für Ü3-Kinder (3,0 bis 6,11 Jahre) in die neben allgemeinen Angaben zum Kind für alle zehn Kompetenzbereiche die Einschätzungen eingetragen werden können.
Renate Zimmer empfiehlt sowohl eine qualitative Auswertung auf Itemebene (Interessen, Ressourcen, mögliche Schwierigkeiten) und im Hinblick auf die förderdiagnostische Ableitung von pädagogischen Maßnahmen zur Begleitung und Unterstützung des Kindes, als auch eine quantitative Auswertung. Dafür können die jeweiligen Summenwerte der Einzelbereiche als Rohwerte mit Hilfe der Auswertungsschablonen und Orientierungstabellen in Normwerte (T-Werte) transformiert werden. Die einzelnen T-Werte können abschließend im Entwicklungs- und Kompetenzprofil veranschaulicht und als „durchschnittlich“, „unter-„ oder „überdurchschnittlich“ bis „sehr gut“ klassifiziert und mit Beobachtungen zu späteren Zeitpunkten verglichen werden.
Die ausschließliche Verwendung der linearen T-Wertskala hat gegenüber der nicht linearen und verzerrten Prozentrangskala den Vorteil der besseren Nachvollziehbarkeit von Unterschieden. Die Leistungsdifferenz zwischen z. B. den T-Werten 60 und 65 ist genauso groß wie zwischen 70 und 75. Für Prozentränge gilt das nicht.
Die Angaben zu den Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität, Validität und den Nebengütekriterien Praktikabilität und Nützlichkeit sind nachvollziehbar und weisen das Verfahren als geeignet aus. Es wird empfohlen das Verfahren auch zusätzlich von anderen Kolleginnen durchführen zu lassen, um die Repräsentativität zu erhöhen. Es wäre meines Erachtens auch vorstellbar, das Verfahren in der Tradition des Vademecum-Verfahrens von Ines Schlienger zudem unter systemischen Gesichtspunkten auch mit Eltern anzuwenden. Zum einen könnte dadurch die Sensibilität und Aufmerksamkeit der Eltern und damit ihre Kompetenz in der Begleitung der Entwicklung ihres Kindes gestärkt werden. Zum anderen hat Ines Schlienger nachgewiesen, dass schon alleine die interessierte und achtsame Beobachtung und Aufmerksamkeit für die Entwicklung des Kindes entwicklungsförderlich sind. Die Formulierungen der Kompetenzbereiche des MotorikPlus-Verfahrens sind so allgemein verständlich, dass es Eltern i.A. nicht schwer fallen dürfte, ihre Beobachtungen zu codieren. Laut Ines Schlienger ist auch nicht zu erwarten, dass die Objektivität und die ökologische Validität in diesem Fall leiden.
Unterstützende pädagogische Hinweise
Wertvoll sind die zahlreich im Manual verteilten pädagogischen Hinweise. So etwa der Aspekt, dass das Verfahren auch helfen kann, z.B. Vermeidungsverhalten des Kindes einerseits als Verweigerung aus Angst vor Versagen, aber ggf. auch als ein spezifisches Interesse an der stattdessen aufgenommenen Aktivität interpretieren zu können.Im Manual und im Protokollbogen wird konsequent der Begriff „Förderung“ vermieden und durchgehend von „Begleitung“ oder „Unterstützung“ der kindlichen Entwicklung gesprochen. Diese Formulierungen haben eine gute Passung im Kontext von Inklusion, wobei nicht die Zuschreibung von Eigenschaften des Kindes, z.B. von Entwicklungsproblemen, im Mittelpunkt von Entwicklungsdokumentationen stehen sollte. Sondern es sollen umgekehrt Entwicklungsbesonderheiten als Signale und Appelle an das persönliche und professionelle Umfeld des Kindes verstanden werden, die Interaktionen und Maßnahmen noch individueller an den Bedürfnissen und den Bedarfen des Einzelnen auszurichten und in den pädagogischen Angeboten ein möglichst universelles Design anzubieten.
Dazu gibt MotorikPlus mit seinen sehr differenzierten Aussagen zahlreiche Hinweise. Die kindliche Entwicklung wird breit abgebildet und endlich auch die Entwicklung der körpernahen, oft vernachlässigten propriozeptiven und vestibulären Wahrnehmungsmodalitäten in den Blick genommen. Das Verfahren ist eingebunden in ein Gesamtkonzept von bewegungsorientierter Entwicklungsbegleitung und vielen konkreten Vorschlägen zur Gestaltung eines bewegungsfreundlichen Alltags.
Sozialpädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten werden für ihren fachlichen und gesetzlichen Auftrag zur Entwicklungsdokumentation besonders von MotorikPlus profitieren. Viele warteten geradezu auf dieses aktuelle und umfassende Handwerkszeug. Aber auch für Fachpersonal der psychomotorischen Körper- und Bewegungsarbeit, wie Motopäden/innen, Motologen/innen und Psychomotoriker/innen, kann die Arbeit mit MotorikPlus den Blick auf den Entwicklungsprozess des Kindes erweitern und Anregungen zum Verständnis seines Entwicklungsprozesses liefern. In den sozialpädagogischen Anwendern/innen von MotorikPlus finden sie zudem gut vorbereitete Kollegen/innen für die fachliche Kooperation vor. Denn die Auseinandersetzung mit den konzeptionellen Grundlagen des Verfahrens sensibilisiert für gemeinsame moderne Sichtweisen auf kindliche Entwicklung.
MotorikPlus ist ein weiterer Mosaikstein im bunten Reigen von Renate Zimmers zahlreichen Fachveröffentlichungen zum Thema Entwicklungsbegleitung von Kindern.
- Prof. Dr. Renate Zimmer; MotorikPlus – Beobachtung psychomotorischer Kompetenzen von Kindern im Alltag von Kindertageseinrichtungen; Freiburg im Breisgau 2021
Harald Luckert
(OStR – Diplom-Pädagoge (Erziehungswissenschaft, Psychologie, Sport), Bildungsgangbeauftragter der Fachschule für Motopädie am Märkischen Berufskolleg Unna, Staatlich geprüfter Motopäde (Tätigkeiten in den Arbeitsfeldern Interdisziplinäre Frühförderung und Kinder- und Jugendpsychiatrie)