„Die psycho-sozialen Folgen der Pandemie begleiten uns jeden Tag und sind sehr aktuell und brennend“ – so führte Andrea Caby, die als Kinderärztin an einem Sozialpädriatischen Zentrum (SPZ) direkt aus der Praxis berichten konnte, in ihren Vortrag ein. Im SPZ gehe es darum, die „Lebenswelt von Kindern zu erfassen“ und sie über Diagnostik, Therapie und Prävention in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Viele der Kinder seien dabei chronisch krank oder kämen aus sozial benachteiligten Familien.
Ängste und Unsicherheiten
In einer „Chronologie einer nie dagewesenen, weltweiten Krise“ zeigte die Kinderärztin und Professorin für Sozialmedizin auf, wie sich in den Familien zunehmend Stress und Erschöpfung auswirkten und die häusliche Gewalt zugenommen hat. Aktuell zeige sich, dass viele Kinder sich auf KiTa und Schule freuten, andere aber gar nicht mehr dort hin wollten. Viele Kinder hätten in der Krise auch viel Neues gelernt, aber auch Dinge wieder verlernt. Verbreitet seien Ängste und Unsicherheiten sowie die Angst vor Ansteckung, die teilweise extreme Auswirkungen hätte wie zum Beispiel einen „Waschzwang“ oder aber auch „Essensverweigerung“.Als besonders sensiblen Punkt nahm Andrea Caby auch den medizinischen Kinderschutz in den Fokus. Der Wegfall sozialer Kontrolle bei gleichzeitig steigendem Stress und wachsenden Herausforderungen führe zu zunehmenden familiären Konflikten und häuslicher Gewalt. Zu beobachten sei eine stark gestiegen Nachfrage nach Chat- und Telefonberatung sowie nach Psychotherapien.
Toxischer Dauerstress
Die Kinderärztin unterschied in ihrem Vortrag im Hinblick auf die Folgeerscheinungen der Pandemie zwischen einem temporären Stress, aus dem Kinder lernen und an dem sie wachsen könnten, sowie einer „dauerhaften Aktivierung des Stresssystems“, die zu neurobiologischen Schädigungen und Traumata führen könne – insbesondere wenn es keine verlässlichen Bezugspersonen oder andere „Abpufferungsmechanismen“ gebe. Die Folgen frühkindlicher Traumatisierung reichten von der Störung der Bindungsfähigkeit über affektive Dysregulation und psychopathologische Auffälligkeiten wie Angststörungen, Depressionen oder Aufmerksamkeitsstörungen bis hin zu aggressivem Verhalten.Grundsätzlich konstatierte die Referentin, dass aktuell rund zwei Drittel der Kinder vom Befund her stabil seien. In diesem Sinne hätten wir durch Corona auch „keine verlorene, aber eine ausgebremste Generation“, die eine „Stressimpfung“ erhalten hätte. Als besonders vulnerabel führte sie folgende Gruppen an:
- Kinder psychisch / chronisch kranker Eltern
- chronisch körperlich / psychisch kranke Kinder
- Familien in prekären Lebensverhältnissen: Soziale Ungleichheit in Zeiten von Corona verstärkt (Armut, enge Wohnverhältnisse, Sprachbarrieren...)
- Alleinerziehende
- Kinder in Transition (Kita-Start, Einschulung)
Für eine gesunde Entwicklung von Kindern führte sie drei essentielle Aspekte an:
- Konstante Bezugspersonen, die „verfügbar, verlässlich, vertraut und vernetzt“ sind
- Andere Kinder
- Aktivitäten in einer anregenden Umwelt
Selbstfürsorge nicht aus dem Blick verlieren
Grundsätzlich, so Andra Caby“, müssten aus der Krise jetzt auch Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen werden. So hätten sich „Belastungsgrenzen und Sollbruchstellen“ im System gezeigt, beispielsweise auch im Hinblick auf die Inklusion. Andererseits sei aber auch „viel Gutes auf den Weg gebracht worden, das beibehalten werden sollte – so zum Beispiel oftmals mehr Gemeinsamkeit in den Familien oder neue (digitale) Kommunikationsformate und Vernetzungen. In diesem Sinne sei die Krise auch als eine Chance für eine „neue Normalität“.In der anschließenden Diskussion unterstricht Andrea Caby, dass pädagogische Fachkräfte unbedingt auch ihre Belastungsgrenzen im Blick haben müssten und Selbstfürsorge und Entspannung wichtig seien: „Erschöpften Fachkräften fällt es natürlich schwer, emotionale erschöpfte Kinder zu stärken“. Und wenn man erschöpft sei, könne man darüber auch ruhig mit den Kindern reden und zusammen Ressourcen und gegenseitige Unterstützung aktivieren.
Karsten Herrmann