Offener Brief der Niedersächsischen Expertenrunde für Familienzentren

Die vom nifbe koordinierte Niedersächsische Expert*innenrunde Familienzentren hat im Hinblick auf die Entwurfsfassung des neuen Niedersächsischen  KiTaG, in der das Thema Familienzentren unberücksichtigt bleibt, einen Offenen Brief verfasst. Sie unterstreicht, dass Familienzentren DER ideale Ort sind, um Familien vor Ort im Sozialraum zu erreichen und ganzheitlich und bedarfsorientiert zu unterstützen – auch und gerade solche, die sonst nicht von Angeboten der Eltern- und Familienbildung erreicht werden. Investitionen in Familienzentren sind, wie verschiedene Studien aufgezeigt haben, sowohl unter pädagogischen als auch unter familien- und bildungsökonomischen Aspekte hoch effektiv und effizient und jeder investierte Euro rentiert sich mehrfach. Hier der Wortlaut des Offenen Briefes:



Offener Brief der Niedersächsischen Expertenrunde für Familienzentren zur Entwurfsfassung des neuen Niedersächsischen Kindertagesstätten-Gesetz:


Wo bleibt die angekündigte Förderung und Weiterentwicklung von Familienzentren im Land Niedersachsen?

Mit Unverständnis und Enttäuschung hat die niedersächsische Expertenrunde für Familienzentren festgestellt, dass im Entwurf des novellierten KiTaG weiterhin keine Förderung und Unterstützung der Arbeit von Familienzentren und KiTas, die sich zu Familienzentren weiterentwickeln möchten, enthalten ist!

Dabei sind Familienzentren DER ideale Ort, um Familien vor Ort im Sozialraum zu erreichen und ganzheitlich und bedarfsorientiert zu unterstützen – auch und gerade solche, die sonst nicht von Angeboten der Eltern- und Familienbildung erreicht werden.

Bekanntermaßen hat sich das Leben von Familien in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. In immer mehr Familien arbeiten beide Elternteile, immer mehr Kinder (auch unter drei Jahren) werden institutionell betreut und die (sozialen) Lebensformen von Familien werden immer vielfältiger.

Auch die Vorstellungen von Erziehung in der Familie erleben einen raschen Wandel. Dementspre-chend ist es in der Wahrnehmung vieler Eltern anspruchsvoller geworden, Kinder zu erziehen, so dass sich viele unter Druck gesetzt sehen (Institut für Demoskopie Allensbach 2015, 19; Henry-Huthmacher & Borchard 2008, 4ff. Köper-Jocksch, 2019, 100 ff.).
Daher sind bedarfsgerechte familienbezogene Infrastrukturen und Unterstützungsangebote von großer Bedeutung. Immer mehr Einrichtungen beschreiten dafür neue und den heutigen Rahmen-bedingungen entsprechende Wege, indem sie sich zu Familienzentren weiterentwickeln. Dazu gehören neben Kindertagesstätten auch Mehrgenerationenhäuser und andere gemeinwesenori-entierte Einrichtungen. Häufig fehlt diesen Einrichtungen aber eine nachhaltige finanzielle Unter-stützung durch die Kommunen und das Land. Die Unterstützung der (Weiter-) Entwicklung zu Fami-lienzentren und die Stärkung von bereits bestehenden Zentren für Familien ist aber unbedingt notwendig, damit sie ihr Potenzial entfalten und vor allem langfristig wirken können.

Empirische Wirkungsstudien zeigen, dass Ansätze, die qualitativ hochwertige Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen mit Ansätzen der Familienbildung und der Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz miteinander verbinden, sehr effektiv und erheblich effizienter als nicht familienintegrierende Ansätze sind (vgl. Schmitz/Spieß 2019). Nicht zuletzt im Hinblick auf eine gelingende Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern kommt diesem Aspekt eine besondere Bedeutung zu.

Auch vor dem Hintergrund, dass zunehmend mehr Kinder in Deutschland einen Migrations- bzw. Fluchthintergrund haben (vgl. z. B. Bujard et al. 2019 in Spieß 2020, 555), können Familienzentren insbesondere für diese Familien eine zentrale Anlaufstelle sein, in der sie Unterstützung und Begleitung erfahren. So können diese Einrichtungen mit dazu beitragen, die Förderung der Kinder und Eltern im sprachlichen Bereich, das Bekanntmachen mit dem Alltag des Aufnahmelandes, das Erreichen bestimmter Bildungsabschlüsse als auch die Integration in die Gesellschaft und ins Erwerbsleben zu ermöglichen (Spieß, 2020, 555).
Die Evaluierung des Förderprogramm Familienzentren in Hannover im Jahr 2012 durch Detert & Ruckert et al. und die von Sturzenhecker 2009 in Hamburg durchgeführten Untersuchungen zeigen zudem, dass die NutzerInnen der Familienzentren ihre soziale Isolation überwinden und sich zu-nehmend trauen, eine öffentliche Bildungs- und Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen und mehr Hilfsangebote anderer familienfördernder Organisationen oder Behörden zu nutzen. In der Folge entwickeln sie Engagement, Mitverantwortung und Demokratieerfahrung, die sich in den Sozialraum hinein ausweiten (Sturzenhecker et al. in Kobelt Neuhaus 2016, S. 38).

Auch die Studie von Schmitz und Spies (2019) zeigt, dass Zentren für Familien ein attraktiver An-laufpunkt für alle Familien im Sozialraum sind. Familien, die mit Angeboten der klassischen Famili-enbildung nur schwer angesprochen werden können, werden hier vielfach erreicht (Schmitz/Spieß, 2019, S. 57f.).

Die Arbeit von Familienzentren ist aber nicht nur pädagogisch und soziologisch betrachtet sinnvoll. Wie unter anderem Schmitz & Spieß für das DIW Berlin aktuell sehr deutlich aufgezeigt haben, sind Familienzentren auch aus bildungs- und familienökonomischer Perspektive vielversprechende Modelle. Sie können zur Gewährleistung von Chancengerechtigkeit durch frühzeitige Befähigung („Verwirklichungschancen“) und Begleitung beitragen und im Sinne der Prävention zu einer entsprechenden Reduzierung von Nachsorge und sozialen Folgekosten. Jeder in Familienzentren investierte Euro kann sich so mehrfach rentieren und ist eine gute Investition in die Zukunft!
Das wird unter anderem auch in den 2020 veröffentlichen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. unterstrichen (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 2020).

Des Weiteren wird auch im niedersächsischen Bildungs - und Orientierungsplan in Kapitel IV „Qualitätsentwicklung und Sicherung“ unter Verweis auf KitaG §2 ff. beschrieben, dass Kindertageseinrichtungen zur kontinuierlichen Fortschreibung des pädagogischen Konzeptes unter Implementierung des Bildungsplanes verpflichtet sind und es gefordert ist frühkindliche Bildungsprozesse zu erweitern bzw. weiter zu entwickeln. Im Kapitel III wird in Bezug auf den „Rahmen der Arbeit von Kindertageseinrichtungen im sozialen Umfeld“ ziemlich genau das beschrieben, was die Arbeit eines Familienzentrums ausmacht (Niedersächsisches Kultusministerium 2018, 48 und 43).
Und nicht zuletzt ist die Arbeit von Familienzentren auch schon in der Bundes-Sozialgesetzgebung in den §§ 16, 17 und 18 des SGB VIII verankert.

Wir plädieren daher eindringlich dafür, bei der Novellierung des KiTaG die gesetzliche Grundlage für die Weiterentwicklung von KiTas zu Familienzentren zu schaffen. Ferner halten wir eine Flankie-rung durch ein Landesförderprogramm für erforderlich, um die in der Niedersächsischen Koaliti-onsvereinbarung für die 18. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2017 bis 2022 formulier-ten Absichten, „das vorhandene Angebot von Familienzentren wohnortnah weiterzuentwickeln“ (CDU-Niedersachsen, 2017, 48) auch tatsächlich umzusetzen. Dies wäre auch ein Signal der Wert-schätzung für schon vorhandene und weiter entstehende Familienzentren, wie auch insgesamt eine Perspektive der Qualitätsentwicklung für die frühkindliche Bildung. Beides ist dringend not-wendig in einem Feld, dass seit Jahren im Stresstest steht und durch Corona noch einmal deutlich an und über seine Grenzen hinausgeführt wird!


Ansprechpartnerin für die niedersächsische Expertenrunde Familienzentren:
Sandra Köper-Jocksch - nifbe e.V.
Telefon 05441 976 1931, Email Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Literatur
  • CDU-Niedersachsen (2017): Gemeinsam für ein modernes Niedersachsen Für Innovation, Sicher-heit und Zusammenhalt Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands (SPD) Landesverband Niedersachsen und der Christlich-Demokratischen Union (CDU) in Nie-dersachsen für die 18. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2017 bis 2022.Verfügbar un-ter: 11-16_Koalitionsvertrag_final.pdf (cdu-niedersachsen.de). Zugriff am 09.12.2020.
  • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2020): Empfehlungen des Deutschen Vereins für die Stärkung von Familienzentren. Verfügbar unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2020/dv-28-18_staerkung-familienzentren.pdf. Abgerufen am 01.12.2020.
  • Henry-Huthmacher, C./Borchard, M. (Hrsg.) (2008): Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. De Gruyter Oldenbourg. Stuttgart.
  • Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.) (2015): Was Eltern wollen. Informations- und Unterstützungswünsche zu Bildung und Erziehung. Düsseldorf.
  • Kobelt Neuhaus, D. (2016): Ein Familienzentrum leiten. In: Kindergarten heute. Management kompakt. Themenheft zu Methoden und Organisation. Verlag Herder. Freiburg im Breisgau.
  • Köper-Jocksch, S. (2020): Familienzentren. Ein Erfolgsmodell zur Zusammenarbeit mit Familien. In: nifbe (Hrsg.): Zusammenarbeit mit vielfältigen Familien. Verlag Herder. Freiburg im Breisgau.
  • Niedersächsisches Kultusministerium (2018): Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Ele-mentarbereich niedersächsischer Tageseinrichtungen für Kinder. Gutenberg beuys feindruckerei GmbH. Hannover.
  • Spieß, C. Katharina (2020): Zentren für Familien: Nationale und internationale Evidenz –ein Resü-mee aus familienökonomischer Perspektive. In: Sozialer Fortschritt, 69 (2020). Duncker & Humblot, Berlin.
  • Schmitz, S. & Spieß, K. (2019): Familien im Zentrum. Unterschiedliche Perspektiven auf neue Ansatzpunkte der Kinder-, Eltern- und Familienförderung. Herausgegeben von der Heinz und Heide Dürr Stiftung. Berlin.


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