Der Kinderschutz ist in der Kindertagesbetreuung ein Dauerbrenner und hat durch Corona noch einmal an Aktualität und Dringlichkeit gewonnen. Im Rahmen der kostenlosen nifbe-Vortragsreihe „KiTa in Corona-Zeiten“ hat Jörg Maywald vor rund 350 Teilnehmer*innen noch einmal die Grundlagen des Kinderschutzes vor- und aktuelle Bezüge zur Situation in der Corona-Krise hergestellt.

Wie der Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam zum Einstieg darstellte, hat sich „unser Verständnis von Kinderschutz im Lauf der Jahrzehnte dynamisch entwickelt“ und sich in die aktuelle Trias aus Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechten ausdifferenziert. Perspektivisch sei der Kinderschutz aber noch stärker als bisher kinderrechtsbasiert zu verankern.

Anstieg der Gefährdungsmeldungen

In Bezug auf die jährlichen Gefährdungsmeldungen konstatierte Jörg Maywald einen stetigen Anstieg von 38.300 in 2012 auf 55.000 in 2019. Dies bedeute jedoch nicht automatisch, dass Kinder häufiger Opfer von Gewalt geworden sind, sondern dies könne auch auf eine sensibilisiertes Meldeverhalten oder auf eine Kombination dieser beiden Faktoren zurückzuführen sein.

Einen Hauptanteil von 58% nimmt bei den Gefährdungsmeldungen die Vernachlässigung ein, gefolgt von (zunehmenden) Psychischen Misshandlungen (32%) und (abnehmenden) Physischen Misshandlungen (27%). Die Sexuelle Gewalt liegt bei 5% der Gefährdungsanzeigen und man könne, so Jörg Maywald, davon ausgehen, dass insgesamt ca. 5-7% der Mädchen und rund 3% der Jungen im Laufe ihrer jungen Jahre von Sexueller Gewalt betroffen seien.

Über die Entwicklung der Gefährdungsmeldungen während der COVID-19-Pandemie konnte Jörg Maywald„noch keine gesicherten Daten“ vorstellen und es ergebe sich hier ein eher widersprüchliches Bild mit einigen offenen Fragen. So gebe es im Vergleich zum letzten Jahr zwar anscheinend noch keine Zunahme der Gefährdungsmeldungen, aber eine Zunahme der Beratungen über das Elterntelefon oder auch über eine Medizinische Hotline. Die tatsächliche Entwicklung müsse noch durch offizielle Zahlen und spezifische Studien geklärt werden.

Belastungen der Kinder durch Corona

Grundsätzlich seien Kinder durch Corona in folgendem Hinblick belastet:
  • Erkrankung von Angehörigen
  • Angst vor Ansteckung und Angst davor, andere anzustecken
  • (Physische) Distanz zu Familienmitgliedern und Freunden
  • Zukunfts- und Existenzangst
Mit der Corona-Krise deute sich, so Jörg Maywald, auch eine gravierende Spaltung der jungen Generation im Hinblick auf Bildung und Gesundheit an.

Haus der Kinderrechte

Als Grundlage des Kinderschutzes stellte Jörg Maywald das „Haus der Kinderrechte“ da, dessen Dach der Artikel der 3 der 1989 verabschiedeten und von allen Staaten der Welt (bis auf die USA) ratifizierten Kinderrechtskonvention bilde. Demnach ist „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, […] das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Darunter fächern sich dann die Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte aus und ein zentraler Aspekt sei hier auch noch der „Schutz vor Diskriminierung“.

Kinder müssten von Erwachsenen aber nicht nur geschützt, gefördert und beteiligt werden, so Maywald, „sondern Kinder haben auch das Recht ihre Rechte zu kennen!“ Grundsätzlich brauche Schutz Beteiligung und Beteiligung brauche Schutz. Bei aller berechtigten Rede von einem „Dialog auf Augenhöhe“ zwischen Erwachsenen und Kindern dürften Kinder aber nicht als kleine Erwachsene gesehen werden. Im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern müssten Gleichheit und Verschiedenheit immer wieder in einer fein austarierten Balance gehalten werden.

Als Meilenstein des Kinderschutzes in Deutschland stellte Jörg Maywald das im November 2000 erlassene „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“ vor, dass ausdrücklich nicht nur Schutz vor physischer Gewalt gewähre: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Formen der Gewalt gegen Kinder

Wie Jörg Maywald weiter ausführte, habe sich der Kinderschutz in den letzten Jahren auch verstärkt von einem intervenierenden zu einem präventiven Ansatz gewandelt. Grundsätzlich seien 50 – 80% der Familien in Erziehungsfragen tendenziell verunsichert und hätten Unterstützungsbedarf, um Kindeswohlgefährdungen vorzubeugen. „Eine Gefährdung von Kindern bedeutet auch nicht, „dass schon eine Schädigung vorhanden ist“, stellte er klar, „sondern, dass diese zu erwarten ist“. Als Formen der Gewalt gegen Kinder führte er u.a. aus:
  • Körperliche Misshandlung
  • Seelische Misshandlung (u.a. Miterleben häuslicher Gewalt)
  • Körperliche Vernachlässigung
  • Seelische Vernachlässigung
  • Vernachlässigung der Aufsichtspflicht
  • Sexueller Missbrauch (Sexualisierte Gewalt)

Was tun, wenn?

An einem Fallbeispiel diskutierte Jörg Maywald mit den Teilnehmer*innen, wie bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorzugehen ist und machte dabei zugleich die Komplexität jeder konkreten Situation deutlich. Grundsätzlich sei es wichtig die Anzeichen ernst zu nehmen und „Verständnis für die Situation des Kindes zu entwickeln“. Keinesfalls dürfe man das Kind aber dazu drängen mehr zu erzählen. Deutlich sollte aber signalisiert werden „Wenn du möchtest, kannst du mir mehr erzählen! Ich höre dir zu!“ Nicht versprechen dürfe man dem Kind aber, dass das Erzählte geheim bleibe, denn bei begründetem Verdacht müssten Leitung und Team informiert sowie die Eltern zum Gespräch eingeladen werden. Die Reaktion der Eltern sei dann entscheidend für das weitere Vorgehen.

Im Fokus:Fachkräfte

Neben einer möglichen Kindeswohlgefährdung in der Familie sei, so Jörg Maywald, auch ein besonderer Fokus auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung in der KiTa durch Fachkräfte zu richten. Hier führte er eine breite Palette aus, die bestimmt noch nicht von allen Fachkräften tatsächlich schon als Kindeswohlgefährdung interpretiert würde:
  • Beschämung und Entwürdigung
  • Anschreien
  • Ständiges Vergleichen mit Anderen
  • Bevorzugung von Lieblingskindern
  • Diskriminierung
  • Zwang zum Essen
  • Rigide Schlafenszeiten
  • Kontrolle des Toilettengangs
  • Zerren und Schubsen
  • Körperliche Bestrafung
  • Fixieren
  • Vernachlässigung der Aufsichtspflicht
  • Mangelnde gesundheitliche Fürsorge
  • Ungenügende Nähe-Distanz-Regulation
  • Ignorieren von Übergriffen unter Kindern
  • Sexuell übergriffiges Verhalten
  • Sexueller Missbrauch
Um der Kindeswohlgefährdung in der KiTa vorzubeugen und die Fachkräfte weiter zu sensibilisieren sind, so Jörg Maywald, klar definierte Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren in der KiTa zu implementieren sowie ein Schutzkonzept zu formulieren, in dem die möglichen Formen der Gewalt auch konkret benannt sind. Grundlage dafür sollten die Kinderschutzrechte bzw. im Idealfall die Kinderrechte selbst bieten.

Dringender Reformbedarf für krisenfeste Kinderrechte

Zum Abschluss seines von den nifbe-Transfermanager*innen Iris Hofmann und Sandra Köper-Joksch moderierten und von einer sehr intensiven Diskussion begleiteten Vortrags zog Jörg Maywald perspektivische Schlussfolgerungen aus der aktuellen Corona-Krise und stellte in Hinblick auf die Verwirklichung der Kinderrechte auch in Krisenzeiten folgenden Reformbedarf fest:
  • Verwirklichung des Kinderrechtsansatzes (Monitoring der Umsetzung)
  • Bekämpfung der Kinderarmut (Durchbrechung des Teufelskreises aus materieller Armut, Bildungsbenachteiligung und gesundheitlicher Beeinträchtigung)
  • Ausbau der digitalen Infrastruktur (Netzausbau, technische Ausstattung, Training, Datenschutz)
  • Inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinderrechtsbasierte Reform des SGB VIII)
  • Flächendeckende Einführung von Beteiligungsstrukturen (einschließlich Ombuds- und Beschwerdestellen)
  • Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz (Formulierung gemäß Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention)
  • Absenkung der Wahlaltersgrenze

In diesem Sinne zeigte der Vortag von Jörg Maywald auf, dass einerseits für den Schutz der Kinder noch viel Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in den Familien und Kinderbetreuungseinrichtungen / der Kindertagespflege notwendig ist. Andererseits ist aber auch ein übergeordneter politischer Kampf zur strukturellen und juristischen Absicherung der Kinderrechte notwendig. Beides braucht einen langen Atem.

Download Präsentation Jörg Maywald

Karsten Herrmann