Bruno Capra ist Erzieher in Berlin und studiert berufsbegeleitend Kindheitspädagogik an der Alice-Salomon-Hochschule. In einem offenen Brief an Politik und Verantwortungsträger beleuchtet er die aktuelle Corona-Situation und stellt entscheidende Fragen für eine mögliche Exit-Strategie im KiTa-Bereich. Diese und viele andere Fragen können Sie auch in unserem Forum miteinander disuktieren.


5 Fragen eines Erziehers zum Ausstieg aus dem Lockdown

Ein offener Brief an die Politik, die Epidemiologen und an sonstige Entscheidungsträger und Berater

Verehrte Leser*innen,

Ich werde auf Fakten setzen, in der Hoffnung Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und eine Antwort auf meine Fragen zu bekommen. Da es um verschiedene Aspekte und die daraus resultierenden Fragen geht, wird das ein etwas längerer Text werden.

Wenn ich von Fakten spreche, meine ich weniger validierte wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern vielmehr die Informationen, die normale Bürger*innen wie ich, in den letzten Wochen sammeln konnten.

Zurzeit wird an einer Strategie des Wiedereinstieg ins normale Leben gearbeitet, was ich für wichtig und richtig halte. Es wird von einer graduellen Rückkehr in die Normalität gesprochen, unter Einhaltung von Schutzmaßnahmen. Alles nachvollziehbar.

Was ich sehr vermisse, sind Vorschläge oder gar Richtlinien für eine „vorsichtige Lockerung“ (1) der bisherigen Maßnahmen im Bereich der frühkindlichen Betreuung. Der DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  lässt sich sicherlich in vielen Aspekten auf die Grundschule übertragen, ich werde mich aber auf den Kitabereich beschränken, da ich dort tätig bin und mich in diesem Bereich am besten auskenne.

Ich spreche von einem System, das über 3,5 Mio. Kinder betreut (2), mit entsprechenden Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von menschlichen Ressourcen bei einer „Normalisierung“ des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens im Lande.

Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Rolle von Kindern als Überträger des SARS-CoV-2 Virus bis jetzt wenig berücksichtigt worden ist.
Vermutlich liegt es an der Tatsache, dass Kinder seltener an COVID-19 erkranken. Aus meiner Sicht zeigen aber die Ergebnisse zweier Studien (3), dass die Rolle von Kindern in der Infektionskette es durchaus Wert wäre, genauer untersucht zu werden.

Geht man von der Option aus, dass Kinder „gleichwertige“ Überträger sind wie Erwachsene, stellt sich die Frage, in wieweit der Alltag in der Kita zur Ansteckung beitragen kann.

Von Prof. Drosten und Prof. Kekulé wissen wir, dass die Ausbreitung des Virus hauptsächlich durch Tröpfchen und Aerosol erfolgt (4)(5). Intensive zwischenmenschliche Interaktion und längere Permanenz in geschlossenen Räumen mit geringem Luftaustausch, stellen dabei die idealen Bedingungen für eine erfolgreiche Übertragung dar (5)(6).

Gerade die letztgenannten Faktoren sind zwei der Hauptmerkmale des KiTa Alltages. Hinzu kommt die ausgeprägte Konzentration vieler Menschen auf kleinen Flächen. Acht bis Zehn Menschen auf 20 qm Meter, dürften schon aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen in der KiTa keine Seltenheit sein. Der Einsatz von Schutzkleidung erscheint aus pädagogischen, logistischen und epidemiologischen Gründen problematisch. Maßnahmen wie die regelmäßige und systematische Desinfektion, dürften eher einen „psychologischen Effekt“ haben (4), als tatsächlich zielführend sein.

Daher meine erste Frage: Wie lässt sich unter den beschriebenen Umständen das Infektionsrisiko minimieren und eine Ausbreitung der Krankheit eindämmen?

Wenn über einen „Exit“ gesprochen wird, sind Begriffe wie „Herdenimmunität“ (7), „kontrollierte Durchseuchung“ (8) und „Cocooning“ (9) zu hören. Gemeinsamer Nenner aller diskutierten Strategien ist die Notwendigkeit, gefährdete Gruppen zu schützen.

Deshalb meine nächste Frage: Sollte die Wiederaufnahme des KiTa Betriebs Teil einer der genannten Strategien sein, wäre es nicht zwingend notwendig, gefährdete Gruppen zu definieren und aus der Betreuung auszuschließen?

Damit meine ich nicht nur Fachkräfte, sondern auch Kinder und Eltern. Selbst wenn sie nicht selbst gefährdet sind, sondern im Haushalt mit einer gefährdeten Person leben. Das wäre auch im Sinne einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems bedenkenswert.

Die Vorstellung, die Entscheidung eventuell Verantwortlichen vor Ort zu überlassen, halte ich nach meinen Erfahrungen in der KiTa Notbetreuung, für fahrlässig.

Aus dem Ausschluss bestimmter Personenkreise aus der Kinderbetreuung ergeben sich zwangsläufig zwei weitere Fragen:

Wie werden die Nachteile, die durch einen Ausschluss aus der Betreuung entstehen, (unabhängig davon ob Fachkräfte oder Adressaten) ausgeglichen? (z.B. Entschädigung beim Verdienstausfall? Kündigungsschutz?)
Wenn bestimmte Fachkräfte freigestellt werden, wie wird die Betreuung dann umgestaltet?

Aktuell arbeiten in der Kinderbetreuung fast 800.000 Fachkräfte (2). Ca. 30% im Bundesdurchschnitt sind 50 Jahre alt oder älter (2). Hinzu kämen alle, die gesundheitlich vorbelastet sind (eine Statistik liegt mir nicht vor). Schon allein aus diesen Zahlen ist zu erkennen, dass ein reguläres Betreuungsangebot nicht möglich sein wird. Von der Bildung kleineren Gruppen ganz zu schweigen. Ich gebe zu bedenken, dass wir von einem System sprechen, das bereits vor COVID-19, in vielen Bundesländern an die Grenzen und darüber hinaus, belastet war.

Deshalb meine abschließende Frage: Wie geht es nun weiter?

Für die Aufmerksamkeit, die Sie diesem Brief widmen werden, bedanke ich mich im Voraus und hoffe auf aufschlussreiche Antworten.

Mit freundlichen Grüßen
Bruno Capra

(1) Lehmann, D. (2020): UKE-Professor für vorsichtige Lockerung der Corona-Auflagen. NDR 90,3. Verfügbar unter: https://www.ndr.de/903/UKE-Professor-fuer-vorsichtige-Lockerung-der-Corona-Auflagen,audio665582.html
(2) Autorengruppe Fachkräftebarometer (2019): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2019. DJI Deutsche Jugendinstitut (Hrsg.). Verfügbar unter: https://www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/Fachkraeftebarometer_Fruehe_Bildung_2019_web.pdf (S. 16, 22 und 31)
(3) Podbregar, N. (2020): Coronavirus: Wie stark trifft es Kinder? Verfügbar unter: https://www.scinexx.de/news/medizin/coronavirus-wie-stark-trifft-es-kinder/?fbclid=IwAR3yUuCe0jCwc9Llc6rhwPB6z5o8XSrEbBfb_64LDm9vHS_w7NF6hgvfc2Q
(4) Hennig, K. (2020): (28) Auch die Atemluft spielt eine Rolle. NDR Info – Das Coronavirus-Update mit Christian Drosten. Verfügbar unter: https://www.ndr.de/nachrichten/info/28-Coronavirus-Update-Auch-die-Atemluft-spielt-eine-Rolle,podcastcoronavirus174.html
(5) Mitteldeutscher Rundfunk (Hrsg.) (2020): Kekulé #22: Die Heinsberg-Stichprobe ist ein Sonderfall. Verfügbar unter: https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/heinsberg-gangelt-ostern-100.html
(6) Martini, A.; Drosten, C. (2020): Coronavirus-Update Folge 24. NDR Info. Verfügbar unter: https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript154.pdf
(7) NDR Info (2020): Coronavirus: Rufe nach Exit-Strategie werden lauter. Verfügbar unter: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Rufe-nach-Exit-Strategie-werden-lauter,corona2082.html
(8) Verfügbar unter: https://twitter.com/AlexanderKekule/status/1247035666577399810
(9) Braune, Tim u.a. (2020): Coronavirus: Wann werden die Corona-Regeln gelockert? Berliner Morgenpost. Verfügbar unter: https://www.morgenpost.de/vermischtes/article228786011/Coronavirus-Wann-werden-die-Corona-Regeln-gelockert.html