Vorlesepraxis durch sprachanregende Aktivitäten in Familien vorbereiten und unterstützen
Seit 2007 untersuchen die Vorlesestudien der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung DIE ZEIT und der Deutsche Bahn Stiftung die Situation des Vorlesens in Deutschland und seine Bedeutung für die Entwicklung von Kindern jährlich jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Jetzt präsentierten die Initiatoren die Ergebnisse der Vorlesestudie 2019, für die im Juni und Juli 2019 700 Eltern von Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren (490 Mütter, 210 Väter) von der KMF Krämer Marktforschung GmbH telefonisch befragt wurden.
32 Prozent der 2- bis 8-jährigen Kinder wird zu selten oder nie vorgelesen
Die Befragung nach der Häufigkeit, mit der Kindern von Müttern und/oder Vätern bzw. ihren Partnerinnen und Partnern vorgelesen wird, ergab, dass 68 Prozent der Befragten ihren Kindern im Vorlesealter von zwei bis acht Jahren regelmäßig vorlesen. Rund 32 Prozent aller Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern jedoch zu selten oder nie vor. Dieser Wert hat sich seit 2013 nicht verändert. Wie aus den Aussagen von Müttern und Vätern über sich selbst hervorgeht, wird Kindern „tendenziell weniger vorgelesen, wenn
... die Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben.
... die Eltern einen Migrationshintergrund haben.
... die Mütter nicht berufstätig sind.
... die Familie in einer Großstadt lebt.
... die Kinder viele Geschwister haben.
... das Haushaltseinkommen niedrig ist.“ (Vorlesestudie 2019, S.15)
Berufstätige Mütter lesen häufiger vor als nicht berufstätige
Obwohl berufstätige Mütter weniger Zeit für ihre Familie und ihre Kinder haben, nutzen sie diese Zeiten offenbar gezielter und intensiver. Denn die Studienergebnisse zeigen, dass berufstätige Mütter mehr vorlesen als nicht berufstätige. Während 27 Prozent der befragten 416 berufstätigen Mütter angaben, ihren Kindern nur einmal pro Woche, seltener oder nie vorzulesen, gaben 39 Prozent der 74 befragten nicht berufstätigen Mütter an, ihren Kindern nur einmal pro Woche, seltener oder nie vorzulesen. Tendenziell sind höher gebildete Mütter häufiger berufstätig und höher Gebildete lesen überdurchschnittlich häufig vor, wie aus den Ergebnissen der Studie hervorgeht.
Von den 210 befragten Vätern lesen 58 Prozent nur einmal pro Woche, seltener oder nie vor. Dagegen beantworteten nur 27 Prozent der befragten 490 Mütter die Frage nach der Häufigkeit des Vorlesens mit „einmal pro Woche“, „seltener“ oder „nie“.
Viele Eltern zählen Aktivitäten, die zum Vorlesen gehören, nicht dazu
Da sich der Anteil derer, die zu selten vorlesen, trotz aller Maßnahmen und der hohen Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Vorlesens seit 2013 nicht verändert hat, fragten sich die Initiatoren der Studie, ob die Studienergebnisse möglicherweise auch von unterschiedlichen Interpretationen dessen, was abgefragt wird, beeinflusst werden. Deshalb wurden die Eltern gefragt, was sie unter „Vorlesen“ verstehen. Den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern wurden Aktivitäten genannt, und sie sollten einschätzen, ob diese ihrer Meinung nach als Vorlesen gelten oder zumindest etwas damit zu tun haben oder nicht.
Die Befragungsergebnisse zeigen, dass viele Eltern den Begriff des Vorlesens zu eng fassen und denken, dass dazu immer ein gedrucktes Buch mit viel Text gehören muss. Schauen Eltern gemeinsam mit ihren Kindern Wimmelbücher an oder lesen Texte vom E-Reader vor, verstehen dies 23 Prozent der befragten Eltern nicht als Vorlesen. Mit Babys einfache Bilderbücher zu betrachten, gehört für jeden fünften Befragten ebenfalls nicht dazu – obwohl gerade diese Impulse von Anfang an für die Entwicklung von Kindern wichtig sind. Eine Geschichte frei zu erfinden und zu erzählen oder ein Märchen ohne Buch zu erzählen, sind Aktivitäten, die dem Vorlesen sehr ähnlich sind, werden jedoch von vielen Eltern nicht zu den vorlesenahen Aktivitäten gezählt.
Fazit der Initiatoren
Die Initiatoren der Studie empfehlen, mit Maßnahmen zur Sensibilisierung und Motivation von Eltern nicht nachzulassen und vor allem (vor)leseferne Zielgruppen noch stärker zu fokussieren und in ihren Lebenswelten anzusprechen. Bei der Ansprache von Familien sollten sprach- und lesefördernde Aktivitäten, die zum Vorlesen dazu gehören, es vorbereiten und ergänzen, explizit benannt und noch deutlicher damit in Verbindung gebracht werden. Alltags- und freizeitbezogene Aktivitäten sollten genutzt werden, um Eltern, die zu selten vorlesen, zu motivieren, das, was sie bereits tun, auch im Sinne von Vorlesen und gemeinsamem Lesen zu intensivieren.
Alle Ergebnisse sowie Vorleseempfehlungen für Kinder zwischen zwei und acht Jahren sind abrufbar unter: www.stiftunglesen.de/vorlesestudie
Zentrale Ergebnisse zurückliegender Vorlesestudien:
- Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, sind allgemein erfolgreicher in der Schule. Sie haben in Deutsch, Mathe und Fremdsprachen bessere Noten als Kinder, denen nicht vorgelesen wird. (2011)
- Vorlesen hat darüber hinaus eine längerfristige soziale Bedeutung. Wurde Kindern regelmäßig vorgelesen, sind diese häufiger darum bemüht, andere in die Gemeinschaft zu integrieren. Auch ist der allgemeine Gerechtigkeitssinn dieser Kinder besonders ausgeprägt. (2015)
- Vier von fünf Kindern, denen regelmäßig vorgelesen wurde, fällt das Lesenlernen in der Grundschule leicht. Bei den anderen ist das laut ihren Eltern deutlich seltener der Fall (50 Prozent). Fragt man die Kinder selbst, ist sogar mehr als die Hälfte der Grundschülerinnen und -schüler mit wenig Vorleseerfahrung frustriert, weil das Lesenlernen ihnen zu lange dauert. (2018)
Bundesweiter Vorlesetag am 15. November 2019
Der Bundesweite Vorlesetag, eine gemeinsame Initiative von DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung, findet seit 2004 jedes Jahr am dritten Freitag im November statt. Ziel des Aktionstages ist es, ein öffentlichkeitswirksames Zeichen für die Bedeutung des Vorlesens zu setzen, Begeisterung für das Lesen und Vorlesen zu wecken und Kinder möglichst früh mit dem geschriebenen und erzählten Wort in Kontakt zu bringen. Alle, die Spaß am Vorlesen haben, können an diesem Tag anderen vorlesen - zum Beispiel in Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Buchhandlungen oder an ungewöhnlichen Vorleseorten wie z.B. im Riesenrad, im Flugzeug, in einem Tierpark, in Museen ... der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Unter www.vorlesetag.de können Vorleseaktionen angemeldet werden, die dann über die Veranstaltungssuche der Website recherchierbar sind. Für Vorleserinnen und Vorleser gibt es Hinweise zur Vorbereitung und Organisation von Vorleseaktionen.
Weitere Informationen: www.vorlesetag.de
Quelle: Lesen in Deutschland / Christine Schuster